Скачать книгу

des Rattenfängers zu übernehmen. Die Vorstellung, dass der zwanzigjährige Versschmied – passender kann man sein damaliges Schaffen auch nicht charakterisieren – Hunderttausende von Angehörigen seiner Generation zum Massenwahnsinn verführt hat, wird zur Karikatur jener Vorstellung, mit der sich viele Deutsche beschwichtigen lassen wollen: nämlich, dass der Kitschmaler Adolf Hitler sie aufhetzte, damit sie dann wie am Fließband mordeten. Aber wie war nun der seelische und körperliche Zustand unseres Poeten, der der Wahrheit am nächsten kam, als kurz nach dem Krieg schon wieder »die Zeit den Vorhang fallen ließ und die Welt verändert ward«?

      Zwischen dem siebzehnten und neunzehnten Lebensjahr häuften sich die Erlebnisse derart, dass sie manch einem für ein ganzes Jahrzehnt reichen könnten. Zu den nachhaltigsten gehörte eine dreimonatige Konzertreise von etwa hundert Mitgliedern des Disman-Ensembles nach England, Schottland und in die Niederlande.

      Ihre Zugreise, die mehrere Tage in Anspruch nahm, führte ihnen das zerbombte Deutschland wie eine Mondlandschaft vor Augen, die sich verdientermaßen nicht einmal nach hundert Jahren erholen sollte. Die Aufzeichnungen und Briefe des jungen Mannes dokumentieren seine spätere Behauptung, dass die Deutschen nicht ein halbes Jahrhundert später anfangen können, die Kriegsführung der Alliierten mit ihrem Barbarentum zu vergleichen.

      28. XI. 1946

      Um vier Uhr morgens kann man den Rhein durch den schmutzigen grauen Nebel sehen. Und sobald er sich verzieht, immer deutlicher auch versenkte Schiffe, gesprengte Häuser und finstere Mienen. Vielleicht ist es nicht angebracht, aber bei der Erinnerung an die Kriegsjahre empfinden wir eine klare Genugtuung darüber, wie die Alliierten den wilden Gesang der Loreley vergolten haben. Die wenigen Haltestellen mit dem Zug haben gereicht! Erneut haben wir gehört, dass die Juden eine Geißel der Menschheit sind und dass das Morden in den besetzten Ländern nur ungewollt geschehen ist. Und dass Hitler ein »Sauhund« ist, klingt nicht wie eine späte Reue, vielmehr ist darin die ohnmächtige Wut herauszuhören, dass sie nicht gesiegt haben, und auch der Hoffnungsschimmer, dass es für Deutschland tatsächlich noch einmal heißen könnte »Es kommt der Tag«. Nur ein ausgesprochener Idealist dürfte die Deutschlandfrage für erledigt betrachten. Die ganze Welt muss sich darüber im Klaren sein, dass der Nationalsozialismus weiterhin lebendig ist und dass man ihn mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln aus den Leuten und vor allem aus den Jugendlichen herausprügeln muss!

      Nur: Die Briten, obwohl sie selbst noch unter den Folgen der Kriegsnot zu leiden hatten, verblüfften die siegestrunkenen Tschechen mit unbegreiflicher Toleranz und, von außen betrachtet, auch mit sträflicher Naivität, als sie die Besiegten so schnell wie möglich an ein normales Leben heranführen wollten, indem sie sie zur Demokratie erziehen und ihnen gemeinsam mit den Amerikanern wirtschaftlich helfen wollten. Schon in ein paar Jahren wird sich zeigen, dass gerade diese Großzügigkeit zum Grundstein des vereinten Europa werden würde.

      Die mehrwöchige Wanderfahrt wurde für ihn noch zu einem Schlüsselerlebnis von ganz anderer Art. Auf britischer Seite leiteten eine knochige, altjüngferlich wirkende, zugeknöpfte Miss Sheffield und ein umso freundlicher wirkender eleganter Vierziger mit dem klassischen Namen Smith die Reise. Weil der Junge einer der Ensembleleiter war und immer passabler Englisch sprach, war es kein Wunder, dass er bei Herrn Smith in besonderer Gunst stand. Diese kam erkennbar zum Vorschein, als der junge Sänger in London stark heiser wurde und die tschechische Krankenschwester, die sie auf der Tournee begleitete, bei ihm eine erhöhte Temperatur gemessen hat. Auf dem Programm stand gerade eine zweitägige Weiterfahrt ohne Konzerte nach Mittelengland, und Herr Smith konnte Frau Sheffield leicht davon überzeugen, den Jungen während dieser Zeit in ein anständiges Hotel mit sich zu nehmen und dann wieder auskuriert zur nächsten Haltestation zu bringen.

      Das Doppelzimmer war durch ein Badezimmer getrennt, und unser Tscheche wachte nachts auf, als er spürte, wie ihn eine Hand streichelte. Zum Glück verstand er, was um ihn herum geschah, noch bevor er seine Augen aufmachen konnte. Sein Mitschüler Richard hatte nämlich im letzten Kriegsjahr vor allen Mädchen für seine erste erotische Erfahrung gesorgt. Er hatte ihn an einem frostklirrenden Samstag in die Sommervilla seiner reichen Eltern eingeladen. Um sich noch aufzuwärmen, bevor der Trommelofen das eisig kalte Zimmer bewohnbar machte, hatten sie eine Flasche Wein getrunken, aber auch danach beschlossen sie, sich die noch fehlende Wärme gegenseitig unter aufgeschichteten Decken zu spenden. Unser Junge war zwar durch das Buch Der Hausarzt und vor allem durch die Ausflüge in das Vorstadtwäldchen und die Unterweisungen des Cousins Jiří sexuell aufgeklärt, aber über erotische Beziehungen zwischen Männern hatte er nur verschwommene Informationen aus der Antike; passiv beobachtete er neugierig und angespannt zugleich, um sich vor ihm auch keine Blöße zu geben, wie der Freund mit der Hand herumirrend seinen Körper abtastete. Bis ihn plötzlich ein starker Schmerz im Unterleib befiel und unmittelbar darauf unbekannte Erscheinungen eintraten. In völliger Dunkelheit verharrte er sogar eine Weile in der schrecklichen Annahme, er sei gebissen worden und aus der Wunde triefe klebriges Blut in seinen Schoß, bis ihm der Schein der Taschenlampe half, alles nach und nach zu verstehen.

      Als eine ihm vertraute Stimme nun in London anfing, ihn genau mit den Worten schmeichelnd zu umwickeln, die er auf Tschechisch in seiner eigenen Liebespoesie gebrauchte, erstarrte er, er wird nie vergessen, wie er mit angespannten Muskeln unter der nach englischer Art im Bettlaken gewickelten Decke fieberhaft überlegte, ob er hochschnellen, diesem Menschen, der ihm plötzlich zuwider wurde, einen Schlag verpassen und auf den Gang hinauslaufen und um Hilfe schreien sollte. Irgendetwas veranlasste ihn allerdings, sich nicht zu bewegen, den Atem anzuhalten und krampfhaft die Augenlider geschlossen zu halten. Der Besucher musste die leblose Starre des warmen Körpers richtig gedeutet haben, da er nach einer Weile still wurde, und bald hörten auch seine Finger auf, ihn zu berühren. Weil er nicht hörte, wie die Tür zuschlug, blieb der Junge weiter in seinem Abwehrkrampf liegen, bis er irgendwann später wahrscheinlich vor Erschöpfung einschlief.

      Als Mr. Smith am nächsten Morgen an der Tür des kleinen Schlafzimmers klopfte, um zu verkünden, dass in seinem Zimmer das Frühstück wartete, fand er ihn bereits angezogen vor. Und als er erfahren hatte, dass sein Schützling die zwei freien Tage trotz der Erkältung zum selbständigen Familienbesuch eines Fräuleins mit dem Namen Barbara Hope nutzen wollte, in die er sich im Kurortstädtchen Blackpool verguckt hatte, traute er sich nicht, ihm zu widersprechen. Sie trafen erneut in der nächsten Stadt aufeinander, in der der Knabe rechtzeitig und wieder gesund ankam; er hatte den Ausflug zwar im Bett verbracht, leider aber allein, in der Obhut einer englischen Mutter, während das erkrankte Mädchen das Bett im anderen Zimmer hütete. Mr. Smith blickte ängstlich drein, aber dem Tschechen wurde bei diesem kleinen Abstecher etwas bewusst, was ihn sein Leben lang begleiten sollte: das Verständnis dafür, dass es auch eine andere Art von Liebesverhältnis gibt als die, die er bisher kennengelernt hatte. Da ein solches zu jener Zeit noch strafbar war, sah er sich Gott sei Dank zu keiner weiteren Reaktion veranlasst, vielleicht setzte gerade damals seine spätere allgemein menschliche Toleranz ein; Männer, die geschlechtlich anders orientiert waren, die ihm immer wieder eindeutige Signale zusenden sollten, werden seine Haltung respektieren und durchwegs verlässliche künstlerische Partner sein.

      Als der Poet von der Reise zurückgekommen war, musste er den Lernvorsprung seiner Mitschüler einholen, um gemeinsam mit ihnen das Abitur ablegen zu können. Er hatte aber nicht die Absicht, deswegen seine Tätigkeit im Ensemble und in der Jugendredaktion des Rundfunks aufzugeben. Und er konnte auch nicht aufhören, an der ersten und gleich vergeblichen Liebe schwer zu tragen. Zum ersten Mal seit der Zeit, in der er die Kette fast aller Kinderkrankheiten überlebt hatte, machte er starke gesundheitliche Beschwerden durch, sein heftiges Herzrasen bei größerer Aufregung führte dazu, dass er zweimal erst wieder in einem Krankenwagen zu sich kam. Eine vegetative Neurose psychosomatischen Ursprungs, lautete die Diagnose, die ihn auch noch ein paar Jahre danach häufiger in Sanatorien bringen wird. Damals wurde er vom zuständigen Arzt im Rundfunk in eine Berghütte geschickt, die dem Sender gehörte, um wenigstens ein paar Tage frische Gebirgsluft schnuppern zu können.

      Er packte sein Lernzeug und die Skier ein, fest entschlossen, wie schon einmal, seine körperliche Krise kraft seines Willens zu durchbrechen. Nach drei Tagen voller strapaziöser einstündiger Aufstiege, mit denen nach wie vor der Genuss einiger weniger Minuten der Abfahrt bezahlt werden musste, entdeckte er hinter dem Wald eine große Sprungschanze

Скачать книгу