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hatte, meldete sich sein angeborenes Schwindelgefühl wieder, und ein Sprung kam ihm wahnsinnig vor, aber noch viel riskanter und zudem peinlicher schien es ihm, die vereisten Stufen wieder hinabzuklettern. Während des Kriegs hatten überall Gefahren gelauert, die er sich nicht ausgesucht hatte, jetzt entschied er sich freiwillig für das Risiko, zu dem ihn niemand und nichts zwang. Als er dann unten wieder zu Bewusstsein kam, hatte er weder Skier noch Stöcke, seine Mütze, seinen Schal, auch seine Handschuhe nicht. Die verhältnismäßig kurze Dauer seines freien Falls hatte ihm einen Aufprall erspart, bei dem er zum Krüppel geworden wäre, und er hatte sich nur ein halbes Dutzend blauer Flecken eingehandelt. Der Hüttenwirt erzählte abends, dass er einen Selbstmordaspiranten beobachtet hätte, der versucht hatte, die große Schanze auf bloßen Füßen hinunterzufahren, aber als er hingekommen war, hatte er keine Leiche vorgefunden. Noch mehrmals wird den überlebenden Springer das Gefühl befallen, er stünde erneut über der steilen vereisten Rinne. Aber dann beginnt er jedes Mal zu glauben, dass er wieder Glück haben wird.

      Als er nach Prag zurückgekehrt war, gesellte sich zu den Sorgen um die Gesundheit und die Schule auch der einzige ernstere Zank mit seinem Vater. Der Sohn stellte ihm ein Ultimatum, damit er aufhörte, die Mutter mit Seitensprüngen zu betrügen, andernfalls würde er von zu Hause weggehen. Um seiner Drohung Nachdruck zu verleihen, versteckte er sich für ein paar Tage in einem Stundenhotel, das sich damals am Hauptbahnhof befand, und bedrängte den Vater so lange mit mahnenden Telegrammen, bis er dessen Kapitulation erreicht hatte. Als erwachsener Mann wird er sich für diese peinliche Erpressungsgeschichte noch mehr schämen als für seine schlechten Verse. Sein Vater hatte nämlich das bewiesen, was ihm selbst nicht gelungen ist: Er blieb wegen seines Sohnes, auch als dieser schon längst erwachsen war, in einer nicht mehr gut funktionierenden Ehe. Und es waren insbesondere die starken Seiten seiner Persönlichkeit, die den Charakter des Sohnes prägten. Bei all den Gefühlsperipetien seiner Eltern hatte er nie das Gefühl, dass ihm auch nur im Geringsten der Stempel aufgedrückt worden war, ein Kind aus zerrütteten Familienverhältnissen zu sein, womit sich Räuber und Mörder so gerne vor Gericht herausreden. Gleichzeitig wird er sich aber auch dessen bewusst, dass sein rabiates Eingreifen in das Leben des Vaters, womit er so dramatisch sein Mitgefühl der Mutter gegenüber demonstriert hatte, jenen gefährlichen Charakterzug dokumentierte, der ihn noch einige Jahre zu seinen allzu schnellen Urteilen und daher überhasteten Handlungen verleiten sollte.

      Sein Leben lang werden ihn die Aussagen derjenigen Leute einholen, die ihren Otomar in den verschiedenen Zeitabschnitten seines Lebens kannten, und auch in den kritischen Meinungen wird die Achtung vor ihm deutlich spürbar. Wenn es um Frauen ging, so wollte seine Gunst bei ihnen nicht vergehen! Zum Beispiel wird ihn die Gattin eines bekannten Publizisten und Dichters nach dem Tod des Vaters im August des Jahres 1959 bitten, er möge versuchen, ihren Ehering, den sie seinem Vater als Pfand gegeben hat, im Nachlass zu finden; als er ihn schließlich entdeckt und ins Café Slavia mitbringt, darf er sich einen Nachruf anhören, um welchen er den Vater nur beneiden musste. Und es geht ihm nahe, als ihm die Nestorin der tschechisch-deutsch-jüdischen Literatur Lenka Rainerová erzählt, wie sein Vater Otomar ihr eine Stellung verschaffte, obwohl sie gerade aus dem Gefängnis kam. Noch im Jahr 2005 wird sie sich daran erinnern, wie man sie später erneut entlassen wollte:

      Da bin ich also zum Chef gegangen, der eben der Vater von Pavel Kohout war, ein wunderbarer Mensch. Und der sagte mir, Bleib ganz ruhig, solange ich auf diesem Stuhl sitze, wirst du auf deinem sitzen können! Und er sollte Recht behalten, schließlich wurde ich dort die Chefredakteurin!

      Und weil der Sohn dann zwei tiefe Freundschaften seiner Mutter aus allernächster Nähe erleben durfte, Fundstücke, die ihre Verluste kompensierten, wird er zu der Überzeugung gelangen, dass beide Eltern ihr Leben in Würde gelebt haben. Dass die beiden sich auseinandergelebt haben, ändert wenig an ihrer famosen Art, Eltern zu sein; übrigens erlebte er, dass sie häufig glücklich waren, und er hat das Gefühl, dass sie es auch ihm beibringen konnten. Als beide, er Raucher, sie Nichtraucherin, im Abstand von vier Jahren an Lungenkrebs erkranken, gibt er sich Mühe, dies ihnen in der knappen Zeit zurückzugeben: Er wird fast immer bei ihnen sein, und mit Hilfe seiner Schwägerin, einer Internistin und damaligen Chefärztin, wird es ihm gelingen, ihnen bis zur letzten Minute das wahre Stadium ihrer Krankheit zu verheimlichen. Schade, dass es deshalb nun niemandem mehr bei ihm gelingen wird ...

      Aber jetzt ist die Geschichte des Poeten immer noch jugendfrisch, und er hat eine Reihe weiterer widerspruchsvoller Taten vor sich. Mit der Absicht, sie erhellen zu wollen, was der erwachsene Mann in diesem Buch zu tun gedenkt, wird er alle drei Teile von Carlyles Geschichte der Französischen Revolution lesen. Was ihn einst – in seiner Art ein Politthriller – daran begeisterte, erhält eine neue, schockierende Bedeutung: Er sieht das Spiegelbild seiner eigenen Verblendung. Es ist gerade die grundlegende ›Modellsituation‹, der wohlbekannte Pfad, den Gestalten beschreiten, die sich vom Poeten und seinen Altersgenossen nur in der Dekoration und in den Requisiten ihrer Zeit unterscheiden:

      Die Idee der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit befreit langsam, aber sicher die Untertanen eines entmenschlichten Absolutismus, nach der Elite des Geistes durchdringt sie auch die größte und gleichzeitig niedrigste Gesellschaftsschicht so weit, dass sie zu einer realen politischen Kraft aufsteigt, die zusammen mit der Bastille die Tyrannei niederreißt und die Hoffnung hegt, ans Ziel in der Form einer konstitutionellen Monarchie zu gelangen. Von dieser gewaltigen, durch diesen Prozess freigesetzten Energie ist schon im nächsten Augenblick nicht mehr viel übrig. Die gestrigen Bekenner von Voltaires Toleranz neigen mehrheitlich zu Rousseaus These von der Souveränität des Volkes, die allerdings ihrer Ansicht nach nur eine neue, bei weitem schlagkräftigere Elite verwirklichen kann. Juristen, Künstler und andere Intellektuelle, die bis gestern in der Grauzone der Despotie dahinvegetierten und sich in Hašeks Manier um einen »mäßigen Fortschritt in den Schranken des Gesetzes« bemühten, verwandeln sich binnen weniger Monate in Revolutionäre, welchen kein Ziel mehr zu fern ist. Eine Bewegung wie die ungeheurer Naturgewalten, die genauso wenig aufzuhalten oder zu beeinflussen sind wie Lawinen oder Hochwasser. Die Idee ihres Philosophen, dass Freiheit »der Gehorsam gegen das Gesetz, das man sich selbst gegeben hat« sei, wird bald durch Gesetze ad absurdum geführt, die im Prinzip jede Art menschlicher Tätigkeit regulieren und bald auch das Denken gleichschalten. Immer mehr Leute verweigern diesen Gesetzen den Gehorsam allein schon deshalb, weil sie nicht imstande sind, sie einzuhalten; dafür müssen sie dann mit ihrem Kopf bezahlen. Die Machtpyramide, deren Fundament das Volk selbst gelegt hat, zermalmt es nun mit ihrem eigenen Gewicht, und wird so lange von Blut durchströmt wie die Lunge bei einer Embolie, bis die mörderische Despotie höheren Typs, die mit einem großen N gekennzeichnet ist, alle Akteure verschlingt und sie selbst von eigenen kriegerischen Raubzügen aufgefressen wird, und ihr Anführer aus der Verbannung zuschauen muss, wie die zunächst besiegte Aristokratie zuletzt lachen kann. Da ist das ganze blutige Karussell schon längst Bestandteil eines gesamteuropäischen, ja weltweiten Prozesses geworden, dessen Produkt und Katalysator es gleichzeitig war – so ähnlich, wie die tschechische Nachkriegsrevolution zur Zeit des Kalten Krieges alsbald in eine Antirevolution umschlug.

      Der leibhaftige Poet, der hier versucht, sein Leben und seine Zeit in einer Art literarischer Autovivisektion zu erforschen, war, bevor er anfing, die eigenen Altersgenossen mit seiner uferlosen Begeisterung zu infizieren, selbst durch eine ähnliche Euphorie der vorangegangenen Generation angesteckt worden. Gleich nach dem Krieg waren es keine geringeren Dichter als Halas, Hora und Hrubín, und noch vor ihnen die Barden der ersten Republik, allen voran Wolker, Bezruč und S. K. Neumann, die ihn in seinem »Köhlerglauben«, wie die tschechischen Kommunisten die Glut ihrer Begeisterung getauft haben, bestätigten.

      Ihre Bekenntnisse galten der Sowjetunion. Genauso wie unser junger Mann wurden seine Genossen Klíma, Kosík, Kundera, Šotola, Vaculík und wie sie alle hießen, zu vorübergehenden Bazillenträgern dieser Liaison. Arnošt Lustig entging ja nur knapp dem Feuerofen in Auschwitz, und zu Hause war er nicht weit davon entfernt, andere ins Feuer zu schicken. Weil sie zum Glück noch rechtzeitig aus dem trügerischen Traum erwachen und die Sterne günstig stehen, steigt der Kern der jungen Generation aus der Gewaltspirale vergleichsweise früh aus. Jedenfalls noch bevor sie von dieser zerstört werden, oder – noch eine gespenstischere Vorstellung! – sie unwiederbringlich andere vernichten werden. Die ansteckende Epidemie klingt aber nicht mit ihrer Genesung ab. Hier

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