Скачать книгу

die intellektuelle Szene Westeuropas, besonders diejenige Deutschlands, verseucht und beinahe das Ende der Spaltung der Welt, symbolisiert durch die Berliner Mauer, noch weiter hinauszögert.

      Unser Poet legte sein Abitur, angefangen mit einer Eins in Tschechisch und im Englischen bis zu einer Vier in Biologie, zum regulären Termin im Juni 1947 ab, das heißt in einer Zeit, als der politische Zwist um die künftige politische Ausrichtung des Landes zu schweren Zerwürfnissen sogar in den Familien führte. Der Hader um die Zukunft entbrannte auch im Disman-Ensemble, und der frisch gebackene Hochschüler, jetzt schon in der Jugendredaktion des Tschechoslowakischen Rundfunks angestellt, war einer der feurigsten Diskutanten.

      Im selben Jahr leuchtete für unseren Poeten der erste Fixstern der Liebe auf, ihm widmete er all seine damaligen Lebensleistungen. Ex post wird er begreifen, dass er zum ersten Mal bewusst eine solche Energie in sich spürte. Weitaus mehr als Applaus und Geld wird ihn das ganze Leben lang das Bedürfnis, sich dem einen oder anderen hell leuchtenden Stern zu präsentieren, hinaus zu allerlei Sprungschanzen beliebiger Größe schicken. Die Zeiten, in denen er sich auf deren Umlaufbahnen bewegte, sollten sich dann immer mehr in die Länge ziehen. Und an diese Stelle gehört dann schon unverzichtbar das Epitaph für die erste große und zugleich vergebliche Liebe, deren bewegtes Schicksal der literarischen Figur aus dem Tagebuch eines Konterrevolutionärs, wo sie mit dem Buchstaben A chiffriert wird, auffallend ähnlich ist.

      Als eines der dortigen jungen Mädchen lernte unser Jungspund auch Věra Joudová im Ensemble kennen, neben der er noch während des Krieges hunderte Male rezitiert und gesungen hatte, bis er eines Tages plötzlich feststellen musste, dass sie ihm auf eine entwaffnende Art und Weise imponierte. Er hing mehr als drei Jahre ratlos und machtlos an ihr, der Jungfrau, die er nur durch seine schlichte Poesie zu berühren wagte und durfte. Sie wurde zur Inspiration der besseren seiner Verse, die für ihre Zeit überraschend suggestiv wirkten, als sie von Scharen anderer Mädchen aufgesagt wurden. Sie wurde zum Motor seines Ehrgeizes: Hauptsächlich deswegen, weil sie auf der Schauspielschule aufgenommen wurde, dachte er sich für seinen eigenen Werdegang die Karriere eines professionellen Revolutionärs aus und schrieb sich in Philosophie kombiniert mit vergleichender Literaturwissenschaft ein, um mit dem Studienbuch der altehrwürdigen Karlsuniversität prahlen zu können. Aber sie war auch seine erträumte Jeanne d’Arc, durch die er sich weiter zum Kampf für den Sieg des Kommunismus mobilisiert fühlte. Dafür hatte er vorerst nur im Ensemble die Gelegenheit.

      Auch hier zog sich schon die Frontlinie entlang des tobenden Ideenkampfes hindurch, die ehemalige Freunde in zwei Blöcke aufspaltete. Auf Seiten des jungen Mannes war zum Pech des Demokratenlagers viel mehr Feuereifer und Energie vorhanden. Nur derjenige, auf den sie sich als logischen Verbündeten am meisten verlassen hatten, Miloslav Disman, spazierte mit einem sanftmütigen Lächeln durch die Schützengräben und berief weiterhin all seine Kinder ins Bataillon seiner abstrakten Ideen ein, als es ihnen doch schon sonnenklar war, dass die Zeit Taten, Taten und nochmals Taten erforderte! Binnen Jahr und Tag sollten daher aus einem Ensemble zwei werden. Die Revolution wird siegen, die Liebe wird es aber nicht mehr erleben. Gerade seine Muse wird dem Poeten eine der grundlegenden Lektionen erteilen, die aus Jungs Männer werden lassen.

      Im Jahr 1947, nach Beendigung des freiwilligen Einsatzes beim Bau neuer Häuser im wiederauferstandenen Lidice, reiste er wie immer per Anhalter, kombiniert mit seinem Indianerlauf, weil damals noch wenige Autos fuhren, ins Sommerzeltlager des Ensembles und traf dort auf einen Rivalen. Dieser junge Mann war hier neu und beeindruckte die Auserwählte des Poeten wohl am ehesten dadurch, dass er das wahre Gegenteil von ihm war: ein Sportler, technikbegeistert, und noch nicht von der Disman’schen Sentimentalität ergriffen. Weil sich der ›Olympiawettbewerb‹ anbahnte, bekam der Poet eine weitere Wahnsinnsidee: Er wollte den Eindringling ausgerechnet in einem sportlichen Wettkampf übertreffen. Damals trieb ihn anstelle seiner Muskeln sicherlich sein Geist an. Er schleuderte den Lederball weiter als sein Gegner, und er belegte nach ihm die beste Zeit im Waldlauf. Die Entscheidung sollte der Sechzig-Meter-Lauf bringen, bei dem es das Los sogar so wollte, dass sie nebeneinander an den Start gingen. Das ganze Ensemble wusste, dass man wegen eines Mädchens, das als einziges in ihrem Zimmer geblieben war, um die Wette lief. Das Unglaubliche wurde gleich zweimal wahr.

      Im Lauf besiegte er seinen Liebeskonkurrenten. In der folgenden Nacht öffnete seine erste Liebe dem Nebenbuhler die Tür. Seit dieser Zeit weiß er, dass besonders empfindsame Frauen den Besiegten den Vorzug geben, weil diese es anscheinend eher zu schätzen wissen. In seiner Trauer und seinem Durcheinander konnte er damals noch nicht ahnen, dass später auch er oft Nutzen daraus ziehen sollte.

      Nur Gott allein weiß, welches Schicksal dem Rivalen beschieden war, ihr Los dagegen deprimiert bis heute alle, die sie kannten. Sie fiel ihrem Professor an der Theaterfakultät zum Opfer, der schon damals seine Stellung gegenüber Wehrlosen auszunutzen wusste. Als er von ihr als seiner Geliebten genug hatte, schickte er dieses strahlende Talent in die Provinz, wie in die Verbannung, er jagte sie praktisch für immer aus Prag fort, damit sie dort nicht seine Kreise störte. Bei der letzten Begegnung mit ihrem ersten Bewunderer ähnelte sie in keinster Weise jener mal schwermütigen, mal vor Lachen explodierenden Brünetten mit der betörenden Altstimme; sie wirkte fahl, gebrochen, und die Hand, die der Verliebte so oft weihevoll in der seinen im Halbdunkel der Kinos gehalten hatte, wenn er viel mehr ihren Puls als die Handlung auf der Leinwand wahrnahm, erinnerte ihn beim Händedruck – eine unheimliche Metapher Leonid Andrejews – an einen abgenutzten Handschuh.

      Věra Joudová wird sich eines Nachts in Jihlava das Leben nehmen. Und ihr erfolgloser Verehrer wird sie niemals vergessen. Was er bei ihr gefunden hatte, funktioniert bis heute ...

      13. Kapitel

      Pawka im Wunderland

      Der Zusammenstoß der meisten älteren Ensemblemitglieder mit ihrem Mentor im Herbst 1948, nachdem sie sich abgespalten und ihr eigenes Julius-Fučík-Ensemble gegründet hatten, war in erster Linie eine Rebellion der Söhne gegen ihren Vater. Künftig wird sich Miloslav Disman nämlich als ein Kommunist erweisen, der beharrlicher ist als die früheren Kritiker von links, denn auch aus seinen Erinnerungen werden in den achtziger Jahren nach Orwell’scher Art die Namen der von ihm einst am meisten geliebten Lehrlinge restlos verschwinden, wenn die anderen Aufständischen sich mehrheitlich wie ihr alter Meister der Normalisierung Husáks fügen.

      Und warum nahm das neue Ensemble den Namen des Journalisten und kommunistischen Heiligen Julius Fučík an? Weil er das personifizierte Ideal seiner Zeit war. Übrigens wird er sich auch in der nächsten Runde des Bildersturms, wenn in den Neunzigern das Niederreißen von Statuen wieder einmal straflos bleibt und daher in Mode kommt, seine persönliche Ehre bewahren. Auf niemanden werden so viele Treibjagden ausgerichtet wie auf ihn, damit er endlich als abgefeimter Gauner bloßgestellt wird. Schlussendlich wird sich aber herausstellen, dass er vielleicht einer der Gascogner-Angeber war, aber niemals ein Verräter, geschweige denn ein Denunziant! Die zutage geförderten Dokumente werden beweisen, dass er mit den Nazis ein ehrenhaftes Spiel in höchster Not getrieben hat, das für ihn im Hinrichtungsschuppen des Gefängnisses Plötzensee ein blutiges Ende gefunden hat. Seine Reportage unter dem Strang geschrieben hört deswegen auch später nicht auf, unserem Mann Respekt einzuflößen. Demgegenüber gehört Fučíks Reportage aus der vorkriegerischen Sowjetunion, Eine Welt, in der das Morgen schon Gestern ist, zweifelsohne zu seiner Ansteckung mit dem Bazillus namens Euphorie.

      Als sein Vater Otomar Anfang des Jahres 1949 als Generalkommissar der tschechoslowakischen Industrieausstellung in Moskau vom dortigen Kulturattaché, dem slowakischen Schriftsteller Petr Jilemnický, erfuhr, dass er Helfer suchte, kam die Sprache auf seinen Sohn, der sich zu dichten anschickte und darüber hinaus das Russische beherrschte, das der Vater ihm schon während des Krieges beigebracht hatte. Der Anwärter, dessen Verse damals sogar schon das Parteiblatt »Rudé právo« zweimal abgedruckt hatte, wurde schnell geprüft und berufen, so dass ihm nur noch ein schwerer Abschied mit einer diesmal glücklichen und umso größeren Liebe bevorstand.

      Auch Alena Vránová, ein schlankes und fröhliches Mädchen aus dem Ensemble, verwandelte sich unversehens in eine reizende junge Frau, die ihn schnell aus dem Trauerhaus führte, wo er sich, wie er glaubte, für immer nach seinem Pyrrhus-Sieg im Lauf eingeschlossen hatte.

Скачать книгу