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zu, die Opfer in Särge umzulegen, die provisorisch in der Synagoge des Neuen jüdischen Friedhofs aufbewahrt wurden. Eine Notiz zu diesem elementaren Erlebnis ist überraschend kurz gefasst.

      Zum ersten Mal habe ich eine nackte Frau gesehen. Ihre Brüste. Sie ähnelten nicht dem, was ich mir je vorgestellt hatte. Sie waren widerlich aufgeblasen und abscheulich gelbgrün. Weiter erinnere ich mich nur an die erste Zigarette in meinem Leben und an das Grab, auf dem ich saß und mich erbrach, während um mich herum meine Mitschüler vor Übelkeit heftig würgen mussten.

      Die Mutter bewahrte ihn auch vor einer letzten Gefahr: Als er von den Behörden in die Nähe von Ostrava zum Bau eines gewaltigen Panzergrabens berufen wurde, der den letzten Angriff der Roten Armee abwehren sollte, lieferte sie ihn morgens im Allgemeinen Krankenhaus als Notfall ein, bei dem die Mandeln herausgenommen werden mussten; die alten Schnitte nach den eitrigen Anginaerkrankungen ließen keinen Verdacht aufkommen. Nicht lange nach der Operation erschien auf der Station ein Protektoratspolizist, und der getäuschte Arzt wollte die Lügnerin abführen lassen, unter dem Eindruck der frischen Nachrichten von der Front überlegte er es sich jedoch noch rechtzeitig und schimpfte sie dann nur noch heftig aus. Im Übrigen begann die russische Offensive, bevor der Patient aus dem Krankenhaus entlassen wurde, und die studentischen Kommandos flohen auseinander, um bei Verwandten und Bekannten Unterschlupf zu finden.

      Aber bei all dem blieb dem Jungen ein Rettungsring in einem Meer von Blut und Ekel: Dismans Jugendrundfunk – das spätere Theaterensemble – war eine Insel der Glückseligen im totalen Krieg. Es blieb nicht bei den zweimal drei Stunden in der Woche, in denen die Auserwählten zwischen den Purpurvorhängen des Rundfunkstudios Nr. 6 zusammenkamen und danach in aller Keuschheit die Mädchen des Ensembles durch die verdunkelte Stadt ohne Straßenbahnen zu ihrem entlegenen Zuhause begleiteten – sie flüchteten sich praktisch ununterbrochen aus der trostlosen Realität in die künstliche Welt der Freundschaft und der Poesie. Die Folge davon war, dass alle Sinne und Nerven vollkommen blank lagen, was im Ergebnis bedeutete, dass sich nahezu nichts auf der Handlungsebene, sondern alles ausschließlich auf der Ebene der Blicke, der Andeutungen und hauptsächlich der Wörter, Wörter und nochmals Wörter abspielte.

      Nach zwei Generationen wird kaum mehr einer glauben, dass an die hundert junge Männer und Mädchen, denen das Schicksal erspart geblieben war, wie ihre Altersgenossen in den unmittelbar vom Kampf betroffenen Ländern dezimiert zu werden, und die weniger durch den Krieg als durch die Wirren ihrer Pubertät durchgerüttelt worden waren, sich so verhielten, als lebten sie wie Brüder und Schwestern in einem wunderbaren Kloster. Miloslav Disman riss hundert Schicksale, die theoretisch verloren waren, aus ihrer Hoffnungslosigkeit und kultivierte sie inmitten der Barbarei; er selbst aber war ein krankhaft feinfühliger Mann, der durch die unglückliche Liebe zu seiner Frau hin- und hergerissen war. Um sich selbst und die ihm Anvertrauten zu schützen, schuf er eine dichte Atmosphäre beinahe schwülstiger Gefühle, die ihren Ausdruck vor allem in Wörtern fanden.

      Nicht anders als ›schwülstig‹ kann der Junge von damals seine eigene Rhetorik bezeichnen, die er auch in die ersten Nachkriegsjahre mitnahm. Das Kribbeln geht in einen Schauder über, wenn er seine Briefe an die Studentin und spätere Schauspielerin Nataša Tanská wieder liest, die sie vor den bourgeoisen Manieren wie zum Beispiel Lippenstift oder Parfüm warnen und sie zur Ordensregel einer Frau anhalten, die für eine gerechtere Welt kämpft. Auch dieses Verlangen wurde nach Disman’scher Art wörtlich demonstriert, und zudem in einer kraftvollen Huldigung an alles, was das Hoffnungssiegel des Kommunismus trug. Sein Geist predigte streng das von der Revolution geweihte Wasser, aber sein Körper wollte den Wein des Lebens trinken.

      Später wird er sich mehrmals überzeugen, dass die Wurzel ideologischer Gunst oder Missgunst nicht immer das primäre Bedürfnis ist, den Zustand der Welt zu verbessern, sondern manchmal nur der krampfhafte Versuch, die eigene Hoffnungslosigkeit zu überspielen. Das Gefühl, ausgeschlossen zu sein, das so viele Leute davon abhält, jemandes Gunst direkt zu erwerben, weil sie vor dem Objekt ihrer Begierde von Angesicht zu Angesicht den Mut verlieren, schwindet auf wundersame Weise, wenn es mit den Glaubensgenossen gemeinsam artikuliert wird. In einer Menschenmenge, sei es einer jubelnden oder einer tobenden, bringt auch ein schüchterner Mensch den Mut auf zu schreien, und auch ein sittsamer Jüngling kann zum Vergewaltiger werden, zumindest in seiner Fantasie, während andere an seiner Statt Gewalt ausüben. Es ist bemerkenswert, wie viele männliche und weibliche Singles es unter den Revolutionären, Demonstranten oder Radikalen aller Art gibt, denen der Protest, vor allem der militante, den fehlenden Sex oder die Liebe oder beides ersetzt.

      Die Scham verließ den Jungen, wenn er als Solist mit dem Ensemble im Rücken vor der Zuschauermenge stand, aber sie raubte ihm weiterhin immer dann den Atem, wenn er mit einem angebeteten Wesen allein war. Mit seinem besten Freund Jarmil Sekera, der auch lange kein Glück bei den Mädchen gehabt hatte, traf er kurz nach dem Krieg die Absprache, gemeinsam in die neuen Internationalen Brigaden einzutreten, die, wie sie beide – und nicht nur sie beide allein – damals glaubten, bald auch den spanischen Diktator Franco stürzen würden. Entgegen dem aufrichtigen Bemühen, einen Weg zu ihnen zu finden, ging ihre kämpferische Absicht nicht auf, weil keine weiteren Brigaden aufgestellt wurden, und vor allem: Beide erwarben sich im wahrsten Sinne des Wortes über Nacht die Zuneigung ihrer künftigen Frauen. Ihre Wege trennten sich allmählich. Unser Junge wird später beim Sturz des konservativen Präsidenten Antonín Novotný mitwirken, und sein Genosse als künftiger persönlicher Sekretär des Normalisators-Präsidenten Gustav Husák beim Sturz Alexander Dubčeks – und danach beim Mundtotmachen des einst besten Freundes.

      9. Kapitel

      Das bin ich, die junge Freiheit

      »Das bin ich, die junge Freiheit zu einer roten Blume erblüht!«, jubelte das Revolutionslied und gleichzeitig beweinte es die Toten. All diese nahezu 2250 Tage und Nächte der Besatzung voller Scham und Angst, all diese tausend Namen auf den schwarzen Hinrichtungslisten, und für unseren Jungen war immer wieder Petřek! Petřek! Petřek! jene Sprengladung, die am Samstag, dem 5. Mai 1945 durch den Prager Aufstand explodierte, und er war, wie es das Schicksal wollte, im Gebäude des Rundfunks mit dabei.

      Im Archiv wird ihm der Lohnzettel für seine Mitwirkung beim Hörspiel Daidalos und Ikaros bleiben, der zu diesem historischen Datum ausgestellt wurde, obwohl man das Ende der Sendung erst einige Tage nach dem Krieg aufgenommen hat. Die Mädchen, die ins Studio kamen, schickte man sofort wieder nach Hause, und unserem jungen Mann wurde wie allen Übrigen ein Schraubenzieher in die Hand gedrückt, der seine erste und letzte Kriegswaffe werden sollte: Die Dismanschüler schraubten innerhalb der nächsten zwei Stunden sämtliche Orientierungsschilder auf dem ausgedehnten Rundfunkgelände ab, so wie es 23 Jahre später ihre Kinder beim Überfall der Armeen des Warschauer Paktes im ganzen Land tun werden. Nicht einmal die deutsche Waffen-SS, deren Fahrradabteilung gegen Mittag das Gebäude teilweise besetzte, fand den Raum, von wo aus kurz danach der Hilferuf der Ansager in den Äther flog. Nach einem kurzen, aber blutigen Kampf gab diese deutsche Einheit als erste in Prag auf.

      Der Junge diente dann noch als Laufbursche zwischen dem Rundfunk und dem alternativ neu entstandenen Ersatzarbeitsplatz in der unweit gelegenen Hussitenkirche, und er besaß sogar Helm und Bajonett, bevor er es vorzog, zu den Eltern zurückzukehren, die er nicht hatte benachrichtigen können, als er an der Seite eines weiteren Freundes aus dem Ensemble ausharren musste, einem Arbeiter, der schon ein echter Dichter war, Ladislav Padior. Drei Tage nach dem Aufstand wird die Abwesenheit des Jungen auch im nachrevolutionären Wirrwarr unerklärlich bleiben, also werden seine Kameraden beginnen, in den provisorischen Leichenhallen nach ihm zu suchen, und sobald sie ihn gefunden haben, heben sie ihm eigenhändig das Grab aus, weil es viel mehr Tote als Totengräber geben wird. In diesen paar Stunden, als er unterwegs nach Hause über die wachsenden Barrikaden kletterte, sah er lauter Helden um sich herum, die den Kampf oft nur mit bloßen Händen angenommen hatten. Fünf Tage später, als der stechende Geruch verbrannter Überreste angeblicher Gestapoleute die Stadtmitte verpestete, begann er zu begreifen, dass die Sternstunden einer Nation auch Menschen auf den Plan rufen, die im Namen der geliebten Heimat ihre Kollaboration verdecken oder ihre Perversionen befriedigen. Dieses Ereignis wird sein Leben lang zu den Schlüsselerlebnissen gehören, es wird im Tagebuch eines Konterrevolutionärs beschrieben, und es wird auch das Schlüsselkapitel

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