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sein könnte, weil gerade das große Sterben begann. Nur ganz große Optimisten konnten glauben, dass das Protektorat Böhmen und Mähren keineswegs die von Hitler verheißenen tausend Jahre Bestand haben würde, sondern dass der tschechische Spottname Protentokrát – zu deutsch »Für dieses eine Mal« – recht behalten würde.

      Unmittelbar zu Beginn des Protektorats wartete die erste imaginäre, gleichwohl aber entscheidende Hürde auf den Jungen, seine Zeit in der Volksschule neigte sich dem Ende zu, und er befand sich an jenem Scheidepunkt, von welchem mehrere unterschiedliche Wege ausgingen. Seine bisher gähnend langweiligen Vorzeigezeugnisse, denen gerade die Zweien im Turnen und Zeichnen das Prädikat der Echtheit verliehen, öffneten ihm überallhin die Tür, und die Lehrer machten seinen Eltern einige namhafte Gymnasien mit humanistischer Ausrichtung schmackhaft, wo sich die Beseeltheit des Sohnemanns beweisen könnte und seine Kränklichkeit keine Rolle spielen würde, ganz im Gegenteil, sie gehörte doch irgendwie zur zeitgenössischen Vorstellung eines gebildeten Menschen. Der weise Vater wollte aber auf Nummer sicher gehen und finanzierte ihm einen sogenannten psychotechnischen Test. Diesen führte eine gewisse amerikanische Firma oder Institution in der Prager Altstadt durch, also rückte der Prüfling für ganze drei Tage an. Endlose Stunden füllte er Dutzende Formularvordrucke aus, wobei weniger das Wissen geprüft wurde, sondern eher seine Schlagfertigkeit, seine Ausdauer und die Fähigkeit, mit einer Aufgabe innerhalb einer eng begrenzten Zeit fertig werden zu können. Am vierten Tag errechnete man aus der Gesamtsumme der Resultate, dass der Junge das gerade eröffnete Realgymnasium in Prag-Dejvice besuchen sollte, wo Altgriechisch und Geometrie zwar wegfielen, Latein allerdings nicht fehlte. Zwei Fremdsprachen dominierten, Englisch und ursprünglich Französisch, das aber ausgerechnet durch Deutsch ersetzt worden war. Sein Erfolgserlebnis bei diesem Test war ein mächtiger Impuls zu grundlegendem Selbstvertrauen. Sprachen sollten für ihn nie mehr ein Hindernis sein, in der zuletzt genannten wird er einmal sogar genauso denken und schreiben wie in seiner Muttersprache. Und die Zeit, für so manchen wie eine Peitsche, wird für ihn zum Freund und Helfer, weil er immer verlässlich einschätzen kann, wie viel Zeit er für etwas benötigt. Seine nahezu krankhafte Genauigkeit, ihm hauptsächlich durch seine anfänglichen Jahre im Rundfunk angetrimmt, wird zum Dauerschrecken seiner Mitarbeiter und seiner Familie. Sogar noch später in Wien, wo die Verspätung um eine akademische Viertelstunde zum guten Ton gehört, wird er als Besucher zur verabredeten Zeit bei den Gastgebern klingeln, so dass er nicht nur einmal den Hausherrn in Unterhosen und seine Gemahlin mit Lockenwicklern antrifft ..., aber das konnte sich der Junge damals höchstens in seinen Fieberfantasien ausmalen. Als er im Sommer 1939 froh gelaunt seinen Ferienkoffer packte, konnte er nicht einmal ahnen, dass mit dem ersten September gleichzeitig das Gymnasium und der Weltkrieg für ihn begannen.

      Nachdem er sich mit all seiner kindlichen Willenskraft geweigert hatte, die Ferien ohne seine Mutter zu verbringen, hielt er sich in den Kriegsjahren in einer Mansarde eines Fotografen, Herrn Rakušan, im nordböhmischen Städtchen Bělá pod Bezdězem auf. Zum Taschengeld in beständig gleicher Höhe, aber jetzt anderer Währung – sieben Protektoratskronen pro Woche –, für die er weiterhin den Hausdiener spielte, verdiente er sich in Bělá bescheiden etwas hinzu, indem er hinter den Särgen mit den Toten im Schlepptau der örtlichen Blaskapelle anstelle des verstorbenen Esels einen Karren mit der großen Trommel zum entlegenen Friedhof zog. Als Lehrling in der Zaubererschule des Meisters Beránek in Prag-Podolí, die er zwei Jahre lang fleißig besuchte, unterhielt er mit seinem Freund Jiří Alexa gleichermaßen gegen Bezahlung die Gäste des örtlichen Grandhotels mit recht ordentlichen Tricks. Einmal in der Woche, wenn die erwähnte Kapelle zur Abwechslung für lebendige Menschen im Pavillon am Marktplatz spielte, stand er mit seiner gestrickten roten Lieblingsmütze auf dem Kopf hinter einer Steinbalustrade und sang Texte zeitgenössischer Schlager zum Stolz der Mutter und zur Freude ihrer Freundinnen, die sich möglichst weit nach vorne drängten, damit seine Kinderstimme im Getöse der Blechbläser zu ihnen dringen konnte. Bei einem bestimmten Lied nahm er die Mütze genauso ab wie die flanierenden Männer ihre Hüte, wobei die Vorsichtigeren vorgaben, jemanden zu grüßen oder sich Luft zuzufächeln. Es war »Jenes unser tschechisches Lied«, und alle wussten, dass sein Autor Karel Hašler zu den Opfern des Nazi-Terrors gehörte. Zudem galt diese Ehrenbezeigung der Statue. Sie stellte einen tschechoslowakischen Legionär dar, wurde hier zu Ehren der Gefallenen des Befreiungskrieges aufgestellt, und als die Deutschen ihre Beseitigung anordneten, zersägten die Hiesigen sie so klug, dass man sie dereinst wieder zusammensetzen könnte, und vergruben sie direkt im Park auf dem Marktplatz, der so zum historischen Grab der Freiheit wurde.

      Hier, obschon dem Herzen Böhmens so nah, stieß der Junge zum ersten Mal an die Grenze des Großdeutschen Reichs, wo die Deutschen aus den Sudeten der Demokratie den Rücken gekehrt hatten und »heim ins Reich« zurückgekehrt sind. Etwa einen Kilometer von der Stadt entfernt wurde die Asphaltstraße von einer Schranke durchschnitten, welche die Tschechen nicht ohne Erlaubnis passieren durften. Weil es zu der Zeit so gut wie keinen Verkehr gab, entstand dort im Sommer eine Art Promenade. Die Sommerfrischler, unter ihnen die Mutter, ihre Freundinnen und alle ihre Kinder, marschierten Schritt für Schritt, so weit man gehen durfte, bis zum Horizont, wo langsam und majestätisch die Fata Morgana von Bezděz, der Burg der böhmischen Könige, die den Tschechen nicht mehr gehörte, vor ihnen emporwuchs. Dem Jungen wird in Erinnerung bleiben, wie der treue Patriot Herr Rakušan im Gartenatelier, wo er tagsüber schwarz-weiß fotografierte und nachts die örtlichen Hochzeiten kolorierte, einmal alle Türen verriegelte, ein Versteck öffnete und seinen Gästen die verbotenen Bilder zeigte. Auf ihnen zogen im Herbst 1938 endlose Kolonnen von Tschechen diese Ausgehstraße entlang; sie waren aus den Siedlungen des tschechischen Grenzgebietes, welche noch älter waren als die deutschen, vertrieben worden. Damals nahm sie die verstümmelte, aber immer noch freie Heimat wenigstens mit offenen Armen auf. Jetzt stank die braune Jauche des Nationalsozialismus überall, sie stand den Geschmähten und Erniedrigten bis zum Hals und war immer häufiger blutrot gefärbt. Nach der Rückkehr aus den Ferien hatte sie auch den vierten Stock in der Zikmund-Winter-Straße erreicht.

      Herr Hirsch, das Oberhaupt der Nachbarsfamilie, war der beliebte und geschätzte Chefredakteur der Zeitschrift »Tschechoslowakische Philatelie«. Vor dem Krieg gab er dem Buben von nebenan oft Briefmarken, aber im Vorfeld seiner Pubertät interessierte diesen weitaus mehr seine schlanke Tochter Eva, leider war sie zwei Jahre älter und damit unerreichbar wie ein Hochgebirgsgipfel. Herr Hirsch verlor zwar nach der deutschen Okkupation seine Stelle, durfte aber weiterhin extern für das Journal arbeiten, weil er über Briefmarken so viel wusste wie kaum ein anderer. Er beruhigte sich auch damit, dass er eine Arierin zur Frau hatte. Als diese irgendwann im Jahre 1940 spätabends bei den Eltern klingelte, flüsternd um Einlass bat und einen Flügel, Teppiche und ein großes Ölgemälde, das eine Waldlichtung mit Schneeschmelze zeigte, zum Verkauf anbot, verstand der Vater als Erster, dass sie das Geschäft nur zum Schein tätigen wollte; die Hirschs mussten heraus aus der Stadt zu Verwandten ziehen, die eine kleine Wohnung hatten. Die Eltern stimmten zu und taten auch so, als ob sie die Preise aushandelten, falls jemand meinen sollte, es ginge um eine strafbare Veruntreuung jüdischen Eigentums. Vom Holocaust hatte man damals noch keine Ahnung, und weil der Vater auch fest an eine baldige deutsche Niederlage glaubte, verlief der Abschied beider Familien voneinander im Geiste guter Hoffnung. Vom Treppenabsatz im Hausflur schickte Eva ihrem halbwüchsigen Bewunderer einen Luftkuss zu.

      Dem vorgetäuschten Klavierkauf sollte zur Glaubwürdigkeit jener Umstand verhelfen, dass jemand darauf zu spielen lernte. Die Wahl fiel logischerweise auf den Jungen, und der freute sich sogar. Aber während die Mutter in den Anzeigen einen geeigneten Lehrer suchte, zogen die neuen Nachbarn, eine Familie Novák, ein. Die alte, aber Respekt einflößende Frau kam mit ihren beiden Schätzen, Karel und Stanislav, hierher, um sie mütterlich zu betreuen, beide waren jenseits der vierzig und noch immer unverheiratet, woran der Umstand Anteil hatte, dass sie Geiger in der Tschechischen Philharmonie waren, Stanislav war sogar Konzertmeister, so dass sie das ganze Leben lang übten, probten oder spielten und von allen Frauen nur ihre eigene Mutter richtig kennengelernt hatten. Frau Nováková entdeckte in der Mutter von nebenan sowohl in der Musikalität als auch im energischen Auftreten eine Wesensverwandtschaft. Der Nachbarssohn wurde den Brüdern zur Beurteilung vorgeführt, und beide kamen überein, dass seiner schmächtigen Figur und Natur sicherlich nicht das robuste Klavier entspräche, sondern einzig und allein die zarte Geige. Sein Lehrer wurde der weniger ausgelastete

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