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Mein tolles Leben mit Hitler, Stalin und Havel. Pavel Kohout
Читать онлайн.Название Mein tolles Leben mit Hitler, Stalin und Havel
Год выпуска 0
isbn 9788711449059
Автор произведения Pavel Kohout
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Eine Kette von Krankheiten und Operationen in Verbindung mit dem Spott der mitleidslosen Altersgenossen führte dazu, dass sein Minderwertigkeitsgefühl wuchs und er sich häufig in die Einsamkeit flüchtete. Damit überhaupt jemand mit ihrem armen Jungen sprach, wenn sich schon niemand danach sehnte, mit ihm befreundet zu sein, lud seine Mutter einmal in der Woche selbst zu einem nicht allzu reich gedeckten Tisch die noch ärmeren Mitschüler aus der Holzbarackenkolonie ein, die dort stand, wo sich heute das nun schon wieder veraltete postmoderne Hotel Diplomat neben dem immer noch modernen Gymnasium aus den dreißiger Jahren befindet.
Die armen Jungs verschlangen das Mittagessen, packten ihre Schildmützen und rannten dann hinaus, um sich über Erdhügel, Löcher und Gräben zu den riesigen, damals noch unbebauten Parzellen zu schleichen; dem kleinen Jungen blieben wieder nur Bücher und Schreibblöcke übrig. Damit versorgten ihn seine Eltern fleißig. Aus der bekannten Reihe Bastel es dir selbst! kaufte ihm sein Vater den Band Mach dir deine eigene Zeitung! Als ihm der Sohn dann feierlich die maschinengeschriebene Ausgabe der Zeitschrift »Studiosus« vorstellte, besorgte er ihm auch eine kleine Vervielfältigungsmaschine. Diese funktionierte mit Matrizenfolien, in welche die Schreibmaschine ohne Schreibband die Buchstaben ›setzte‹ und sie so perforierte. Die Seiten wurden auf eine Walze gespannt, die die Farbe auf das Papier durchdrückte – die Mutter war am Verzweifeln, dass sie auf jeglichem Textil wie Pech und Schwefel hielt! Die Matrize ließ erst nach sechzig Umdrehungen nach, eine ausreichende Auflage für die ganze Klasse und die Verwandten, die allerdings als Vorläufer künftiger Sponsoren für diese einzigartige Drucksache blechen mussten. Die Korrekturzeichen, aus jener lehrreichen Publikation übernommen, werden den angehenden Literaten das ganze Leben lang begleiten, wurden daher auch beim Anfertigen dieses Schriftstücks benützt.
Die Bücher führten dazu, dass der Junge, der endlich robuster wurde, zum Glück rechtzeitig ein weiteres Unvermögen in sich entdeckte. Unweit seiner Wohnung hatte ein Buchhändler seinen Laden, den er gerne besuchte, da jener für einen Pappenstiel zerfledderte Romanhefte, Detektivfälle von Charlie Chan und Kriegsabenteuer des Piloten Biggles anbot. Diese Erinnerung taucht auch heute noch auf, wenn jemand über die Kinder zetert, welche den Schund der Gegenwart, vor allem den des Fernsehens, gierig in sich aufnehmen; kaum einer konsumierte mehr Mist als unser kleiner Junge, und siehe da, schon zweimal fand er Eingang in die Lesebücher und schon einmal wurde er aus ihnen wieder gestrichen! In dem kleinen Laden tauchte plötzlich ein volles Regal mit gut erhaltenen Büchlein im sogenannten Kolibriformat auf, welche die Lebensbeschreibungen tschechischer Geistesgrößen enthielten. Als der Buchhändler das Interesse des Kleinen wahrnahm, bot er an, ihm alle auf Lager befindlichen Exemplare für lediglich zwei Kronen zu verkaufen, damit er sie begierigen Schülern für fünf Kronen weiterverkauft, folglich mit einem Gewinn von hundertundfünfzig Prozent. Der künftige Unternehmer leerte voller Eifer seine Sparbüchse, wo er sein Taschengeld hortete, damals schon sieben Kronen pro Woche und dazu verschiedene Prämien für kleine Gefälligkeitsdienste oder etwaige Schulerfolge. Seine hundert Exemplare schaute er dann zu Hause gebannt wie eine Lebensversicherung an, eigentlich wollte er sich von ihnen gar nicht trennen. Er musste es auch nicht. Er verkaufte kein einziges, auch wenn er sie letztendlich aus Verzweiflung für jeweils eine Krone anbot! Von da an war ihm wiederum ein für allemal klar, dass er sich niemals seinen Lebensunterhalt durchs Geschäftemachen verdienen könnte.
Der Vater musste auch ein ausgezeichneter Pädagoge gewesen sein, da der Sohn einige seiner Anweisungen, Ratschläge und Sprüche erfolgreich seinem Sohn und noch dem Sohn seines Sohnes vermachen wird. Auch sie werden den Frauen in den Mantel helfen. Auch sie werden beim Trinken unbeirrt zwei Grundregeln einhalten – stets dabei mäßig zu essen und niemals den Geist unter den Alkoholspiegel sinken zu lassen, also darauf zu achten, noch denken und sprechen zu können. Weil der Junge ferner ein Aufschneider war, der häufig den Pluralis majestatis benützte, um sich als Erster unter Gleichen erkennbar zu machen, widmete ihm sein Vater folgendes Gleichnis: Auf der Moldau schwimmen die Äpfel und dazwischen wird ein Scheißhäufchen angeschwemmt; als sich alle gemeinsam der Karlsbrücke nähern, von wo aus einige Leute auf den Fluss schauen, fängt das Scheißhäufchen an, begeistert zu winken und zu rufen: »Wir Äpfel schwimmen!«
Auf höchst einfallsreiche Weise servierte sein Vater ihm Maupassant, Dickens, Cervantes, Čapek und weitere Autoren seiner Wahl, indem er sie in die hintere Reihe seines Bücherschranks neben das Dekameron platzierte und sie zu libri prohibiti erklärte. Die verbotenen Früchte wurden jeden Abend, wenn beide Eltern weggingen, eifrig konsumiert, so dass der Junge gleich in mehrere Richtungen grundlegende Informationen bekam, vor allem aus Der Hausarzt, in dem verschiedenste sehr interessante Organe, vorzugsweise weibliche, detailliert abgebildet waren. Buchstäblich in natura, das heißt in belebter Natur, führte sie ihm dann der ältere Cousin Jiří vor, später führender Gastroenterologe an der Karlsuniversität: Er lockte den Jüngeren, wenn er im Vorort Spořilov auf ihn aufpassen sollte, in das nahe gelegene Wäldchen, wo er für ihn von seinen heimlichen Beobachtungsposten aus mit Hilfe eines Fernglases die Aktivitäten der sich liebenden Pärchen fachmännisch kommentierte; er bestätigte damit den wachsenden Verdacht seines Schutzbefohlenen, wonach Kinder keinesfalls von der Vogelwelt oder von der Post gebracht werden, sondern auf jenen Unterschied zurückgehen, den er bei den Mädchen – scharfsinnig wie er war – schon vor seiner Aufklärung wahrnehmen konnte. So flammte das erotische Feuer im Leben des Jungen auf.
4. Kapitel
Sex mit acht
Der verheißungsvolle Titel kündigt keine Gruppenspiele an, sondern konstatiert lediglich das Faktum, dass schon die frühen Äußerungen des Jungen sein ganz und gar alleiniges Interesse am anderen und nicht am eigenen Geschlecht untrüglich signalisierten; zu den flüchtigen und peinlichen Begegnungen mit dem männlichen wird es noch kommen. Auf Familienfotos hält er grundsätzlich seine Cousine oder wenigstens die Tante an der Hand, und schon im zarten Alter bekam er im öffentlichen Schwimmbad zunächst vom Bademeister und dann von der bestürzten Mutter eine Ohrfeige, als ihr ein Holzstück aus einem Astloch vorgeführt wurde, das der schüchterne Junge meisterlich aus der hölzernen Zwischenwand der gemeinschaftlichen Herrenumkleide herauszuziehen gelernt hatte, um Personen jeglichen Alters, die sich in der Damenkabine umzogen, beobachten zu können. Dieses rege Interesse sollte ihn sein Leben lang begleiten.
Die ersten ernsthafteren Sympathien weckten bei dem sich mausernden Adoleszenten Jarunka Landsmannová und Věra Urbanová. Mit der Erstgenannten richtete er sich im vierten Stock über die Hofecke der rechtwinklig angrenzenden Häuser eine Seilbahnpost ein. Ihre letzte Sendung enthielt die Abmachung, dass beide wieder zur selben Zeit für ihre Väter Bier vom Fass holen gingen. Anstelle der üblichen Kostprobe aus den Krügen versuchte der Briefverehrer gleich bei ihrer Begegnung in einer spärlich beleuchteten Einfahrt jene Stellen zu berühren, die ihn an Frauen besonders interessierten, so wollte er endlich herausfinden, woraus sie bestehen. Jarunka flüchtete entsetzt mit ihrem leeren Krug. Vermutlich blieb ihr zu Hause nichts anderes übrig, als sich geständig zu zeigen, da ihre Mutter die Seilbahn am nächsten Tag einfach abschnitt und somit auch die ganze Bekanntschaft. Wenig später wurde mit Věra Urbanová aus dem fünften Stock beim Treppensteigen längere Zeit über Doktorspiele verhandelt. Den Andeutungen reiferer Mitschüler zufolge ließen sich dabei gegenseitig auch weitere, noch interessantere Organe erforschen. Als man schon mal zur selben Zeit allein zu Hause war, schreckte man beiderseits davor zurück und kam nicht zu Besuch.
Da brauten sich schon über dem Leben