Скачать книгу

Leben danach jedoch hat er als Politiker mitgestaltet. Seit Plato im alten Griechenland träumten die Schreibenden von der eigenen Macht und begründeten sie historisch und philosophisch. So wie Havel die Macht der Machtlosen als Macht der Wortstarken definierte. Ja, und sie brachte ihm die Macht. Ein Burgherr aus dem Bürgerforum.

      Katharsis meint aber ebenfalls eine Auflösung, die reinigt und festigt. Die Kohout’sche wurde zum Kontrastprogramm. Seine Rückkehr nach Hause ist bürgerlich und burgfrei.

      Dadurch endet die Kohoutiade in einer Auflösung der Kontradiktionen. In der philosophischen Tradition gesagt, wie die klassische coincidentia oppositorum: der Zusammenfall der Gegensätze. Pavels Ethos produziert das Maß und führt zur Mäßigung, so dass alles, was scheinbar gegeneinander lief, sich nebeneinander auf einem Punkt befindet, wo die Gegensätze harmonieren. Macht der Machtlosen ist hier die machtfreie Macht. Und Kohout benutzt sie mit Milde, als die Vitalität des Erzählens, denn letztendlich geht es hier um eine Kohout’sche Vita. Und da Kohout auf Tschechisch Hahn bedeutet, sehe ich in ihm einen Wetterhahn auf einer ewigen Kathedrale, die man baut, indem man so lebt wie er.

      Jiří Gruša

      1. Kapitel

      Er + ich = wir

      Geschichten, gleichermaßen literarische wie menschliche, müssen, auch wenn sie sich dem Ende zuneigen, das an ihnen scheinbar wenig zu ändern vermag, noch nicht unbedingt ihren Sinn erkennen lassen. Bei manchen wird er erst in der Schlussszene oder gar mit dem allerletzten Satz sichtbar.

      Jede menschliche Existenz ist so zufällig und in ihrem Wesen so sinnfrei, dass es lediglich am Träger liegt, welchen Inhalt er ihr in der vom Schicksal vorgegebenen Zeit gibt. Einfach ausgedrückt: auf welche Weise er sein Leben überlebt. Mein Instinkt sagte mir sehr bald, dass mich das Eintreten in andere Geschichten, wahre wie auch erfundene, egal ob als Leser, Autor oder auch als Akteur, von meiner eigenen Last der Sterblichkeit wenigstens zeitweilig befreite. In den Zeiten dazwischen stellte ich mich jedoch selbst dar, und als extrovertierter Mensch pflegte ich von Natur aus eher leidenschaftlich übertrieben als vorsichtig aufzutreten, daher ist mein Lebenslauf so unausgeglichen. Ich bemühe mich, ihn hier übersichtlich zu erfassen, sein Sinn entzieht sich meinem Urteil, das den Zuschauern und Kritikern vorbehalten bleibt.

      Über vieles, worauf ich hier als Chronist meiner selbst stoße, um es in neuen Zusammenhängen zu beurteilen, schrieb ich bereits Ende der sechziger Jahre im Tagebuch eines Konterrevolutionärs und Ende der achtziger in meinem Buch Wo der Hund begraben liegt. Beide Werke belegte man mit der Bezeichnung ›Memoiroman‹; ihre Form ist literarisch, ansonsten sind sie aus demselben Stoff wie das dritte: das eigene Leben, das von seinem Inhaber nach weiteren zwanzig Jahren erneut betrachtet wird. Aber: War mein Leben wirklich das, was ich nun aus dem zugeschütteten Schacht mit Unterstützung von Notizbüchern, Archiven, Erinnerungen und mit Hilfe meiner Kritiker, die hier zitiert werden, wieder ans Tageslicht befördere? Manchmal kommt es mir so vor, als hätte es mehrere dieser Leben gegeben, oder dass ich in meinem Körper nicht allein war ...

      Dieser Rückblick wird nur gelingen, wenn er von den Gepflogenheiten üblicher Memoiren abweicht und den Helden wenigstens in zwei teilt, der in seinem Geburtsland neumodisch als ›kontrovers‹ bezeichnet wird. Der eine sei er, der andere ich, wir können ohnehin nicht geheim halten, dass wir beide es sind, die wir durch einen unverwechselbaren Charakter zusammengewachsen sind wie siamesische Zwillinge.

      2. Kapitel

      Der Polenbub wird tschechisiert

      Es ist Sonntag oder Feiertag, ich weiß es nicht mehr, ich bin schon drei Jahre alt und spiele in unserer Villa, die im Warschauer Żoliborz in der General-Zajonczek-Straße liegt, als der eben noch heitere Himmel pechschwarz wird und ganz in der Nähe ein Blitz einschlägt. Nie mehr hat mich in meinem Leben etwas so geblendet wie dieser grelle Strahl, der Himmel und Erde, wie mir schien, unendlich lange vereinte, und nie mehr habe ich ein fürchterlicheres Geräusch gehört als das, was folgte: Da zersplitterte die große Glastafel in der französischen Tür, als Baryk in panischer Angst durch sie hindurchsprang. Stellen Sie sich das Bild vor: Direkt vor mir bricht mit einem großen Knall eine Glaswand in sich zusammen und im grellen violetten Lichtschein fliegt durch die Luft zu mir mit wehenden Ohren und phosphoreszierenden Haaren – wer, wenn nicht der Teufel?

      So erinnert sich die fiktive polnische Schriftstellerin in meinem Drama Zyanid um fünf an ihre Kindheit, aber der stattliche Hund Baryk lebte tatsächlich, und diese Szene spielte sich genauso ab. Die Villa stand im polnischen Kurort Oświęcim, und das Kind mit der blonden Tolle auf dem Kopf hieß in Wirklichkeit Kohout Pavel, auch Pawlik oder Pawlitschek genannt. Es ist seine früheste abrufbare Wahrnehmung, und er wird sich noch viele Jahre vor Hunden fürchten, bis ihn vor seinem Vierzigsten der erste Dackel mit dem treffenden Namen Adam für immer an jene Spezies bindet. Aber das war auch der einzige Makel an dem Gefühl des langen und ungetrübten Glücks, das von drei geliebten Gesichtern getragen wurde: dem des Vaters, dem der dicke samtweiche Pelzkragen so gut stand, dem der Mutter, bisweilen geheimnisvoll durch eine breite Automobilbrille verdeckt und dem von Nána; sie war eine polnische Bauersfrau, die sich um die Villa, den Garten, den Hund und hauptsächlich um das Blondchen mit der flotten Haarwelle kümmerte. Um eine ausreichende Zahl an Cabriolets und Limousinen der Marke Praga, die er im südlichen Polen vertrat, verkaufen zu können, musste der elegante und witzige Otomar Abend für Abend Gesellschaften besuchen – dies erleichterte ihm seine hübsche und fröhliche Gattin Ludvíka, geborene Ťalská, die sogar erfolgreich die ersten Autorallyes fuhr.

      Wo kamen sie her, bevor sie sich das Jawort gaben? Wer entsandte die beiden in die Welt und bestimmte so ihr Schicksal und Wesen, bevor sie beides an ihren einzigen Sohn weitergaben?

      Über den Vater des Vaters, der sechs Sprösslinge in die Welt setzte, legt die ehrwürdige k.u.k. Oesterreichische Zeitschrift für Berg- und Hüttenwesen in Nummer 24 des dreiundvierzigsten Jahrgangs vom 15. Juni 1895 Zeugnis ab. Johann Kohout, bezeichnet als »Aut. Bergingenieur und Betriebsleiter in Karwin«, schildert eingehend die Ursachen und den Verlauf des gewaltigen Bergwerkunglücks sowie die anschließenden Aufräumarbeiten, zu dem es in Karwin am 14. Juni 1894 in den Gruben des Grafen Larisch-Mönnich kam und bei dem er, wie es ihm seine Funktion gebot, als Rettungsleiter tätig war. An diesem Tag verwaisten etwa eintausend Kinder von zweihundertfünfunddreißig tschechischen, deutschen und polnischen Bergleuten und Technikern.

      Der Enkel erbte von der Mutter seines Vaters, Marie, die er als Kind immer begeistert besucht hatte, neben dem Rezept für sein heiß geliebtes Gericht, schlesische ›Linsen mit Reis‹, auch eine Messinglampe von Großvater Jan mit einem feinen Schutznetz gegen Methangas und der eingravierten Aufschrift Direktor, mit der er während jener tragischen Stunden in den Schacht fuhr, bevor er selbst schwer verletzt wurde. Später wird sie dauerhaft den von Vater Otomar geerbten Bücherschrank in Wien schmücken und zum Symbol jener Sympathien werden, die sein Enkel für die Atomenergie hegt; sie werden ihm dauerhafte Probleme einbringen, weil er in Österreich mit ihnen nahezu allein bleibt.

      Mutters Vater war Bankdirektor, zunächst in Tábor, wo sie geboren wurde, und danach sogar in der Prager Gewerbebank, in der er nach und nach die Hälfte seiner Kinder unterbrachte, von welchen es, wie es dem damaligen Durchschnitt entsprach, auch sechs an der Zahl gab. Zuvor noch gelang es den Söhnen, sich gegenseitig zu bekriegen, der eine war Soldat der kaiserlichen Majestät, zwei weitere wurden Legionäre unter Professor Masaryk. Der jüngste von ihnen, Karel, lehnte sich später gegen die Deutschen auf und fiel für sein Vaterland auf dem Richtplatz in Prag-Kobylisy. Der kleine Bub schöpft seine Erinnerung an Großvater Vilibald Ťalský nur aus vergilbten Fotografien: Ein standesgemäß gekleideter beleibter Mann mit einem Zwicker auf der Nase trinkt Sprudelwasser an der Kolonnade in Karlsbad, wo sein Enkel ungleich mehr erleben sollte; er wird dort unter anderem seinen Militärdienst ableisten, ein paar Stücke nebst erster Prosa schreiben und zum dritten Mal heiraten.

      An seinem Vater Otomar kommt ihm am wundersamsten vor, dass er bei seinem abenteuerlichen Flug durch das Leben und die Welt überhaupt heiratete, dass er sich dafür von allen Frauen, die ihn bis zum Tod umschwirren sollten, gerade jene aussuchte, die er dann heiratete, und dass er als Sechsunddreißigjähriger

Скачать книгу