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      Nein, niemals! Oder soll ich, wie so viele,

      Ein Loblied singen auf gefüllte Taschen,

      Soll eines Hofmanns Lächeln mir erhaschen,

      Indem ich seinen Narren spiele?

      ...

      Nein, niemals, niemals, niemals! – Doch im Lichte

      Der Freiheit schwärmen, durch die Wälder laufen,

      Mit fester Stimme, klarem Falkenblick,

      Den Schlapphut übermütig im Genick,

      Und je nach Laune reimen oder raufen!

      Ein ›kontroverses‹ Paar stellten auch seine Großmütter dar, die weitaus länger lebten als die Großväter. Der Enkel liebte kindlich naiv die Mutter seines Vaters, vor der Großmutter mütterlicherseits hatte er irrationale Angst. Die erste kochte jene ›Linsen mit Reis‹ für ihn, ein Gericht, das bis heute seine Gäste aufgrund des Namens abschreckt, dann aber durch Aussehen wie auch Geschmack Begeisterung hervorruft; Feinschmecker finden das Rezept in Wo der Hund begraben liegt. Die zweite drängte den kränklichen Bub, Rhabarberkuchen zu essen, damit er sich wieder aufrappelte. Er fürchtete sich vor jedem Besuch bei ihr, weil er in einem modrig riechenden Jugendstilesszimmer aushalten musste, solange er nicht ganz zu Ende gekaut hatte. Niemals wird er den furchtbaren Abend vergessen, an dem sich die Großmutter nicht abhalten ließ, aus dem fernen Stadtteil Kobylisy mit der Straßenbahn quer durch ganz Prag bis nach Bubeneč zu fahren, um der Mutter den Blumentopf vorzuführen, in den der kleine Betrüger ein Stück Kuchen unter die Pelargonie gestopft hatte.

      Der Kleine war auch ängstlich, tolpatschig und verschämt. Zu seinem Glück musste er im Sommer 1936 aus der privaten Ferienanlage, genannt Camp Allen bei Ledeč nad Sázavou, vorzeitig abgeholt werden, weil er sich schwer erkältet hatte, als er nachts beim Schein einer Taschenlampe über die Baumwurzeln auf dem Waldweg holperte, der vom Städtchen in die Zeltkolonie am Flussufer führte. Die beeindruckende Vorstellung des Puppenspielers Matěj Kopecký, die von Petroleumlampen am Bühnenrand erleuchtet war, wird ihm in fiebriger Erinnerung bleiben. Aus den zwei nachfolgenden Sommerzeltlagern der Organisation Junger Christen YMCA sandte er wie sein Idol Cyrano aus Arras täglich Korrespondenzzettel mit einer bereits vorgeschriebenen Adresse, die statt Roxane den Eltern gehörte, und als Christian wiederholte er in ihnen stets: Ich habe Euch gern! Zudem beschwor er sie immer wieder vergeblich: Holt mich hier ab!

      Sein Ausflug durch Prag wurde zur Familienlegende; er sollte zum Legionärsonkel Jindra und der wunderbar großmäuligen Tante Anka fahren, die an Silvester 1935 auf ihn aufpassen sollten, damit sich die Eltern amüsieren gehen konnten. Die Fahrt mit der Straßenbahn wurde im Voraus hin und zurück eingeübt, die Mutter gab ihrem Sohn die ganze Zeit moralische Rückendeckung durch ihre Anwesenheit in der zweiten Hälfte des damals schon modern aufgeteilten Waggons, den man U-Boot nannte. Die selbständige Fahrt endete in einem Fiasko, der Reisende kam schon vom Wenzelsplatz mit der Behauptung zurück, dass »drei Männer mit Blechkannen« ihn böse angeschaut hätten. Das Zitat fungierte zu Hause jahrelang als Bezeichnung für einen Zustand höchster Bedrohung. Aber die größte Erniedrigung erlebte der Junge, als ihn die Mutter mit einem Saft aus Holunderblüten zu ›Onkel Eman‹ schickte.

      Der straffe und stämmige Emanuel Procházka kämpfte als tschechoslowakischer Legionär in Italien, und wenn man ihn darum bat, wies er stolz seine Kniekehle vor, wo ihm der Splitter eines österreichischen Schrapnells ein geradezu Shylock’sches Pfund Fleisch herausgerissen hatte; im Nachhinein erscheint er wie ein Freund der Mutter, der sie wohl am ehesten von den väterlichen Seitensprüngen heilte. Das Mietshaus mitsamt dem Kino stand als letztes am äußersten Rand des damaligen Prag an der Endstation der Straßenbahnlinie 23. Und der Holunderblütensaft wurde aus einer Mischung von Zucker, Wasser und drei bis vier großen gelblichen Blütenrispen hergestellt, diese musste ein paar Wochen in Fünf-Liter-Gurkengläsern gären, bevor sie auf Dreiviertelliterflaschen umgefüllt wurde. Ein Dutzend von ihnen bekam der Junge in zwei Taschen eingepackt, damit er sie seinem Onkel mit der Straßenbahn bringen konnte. Niemandem kam in den Sinn, dass schon die Hälfte der kurzen Strecke ausreichen würde, um in den durchgeschüttelten Flaschen Sprengstoff entstehen zu lassen. Zunächst flog ein erster, dann noch ein zweiter und ein dritter Stöpsel aus den Flaschenhälsen, gefolgt von einem Geysir aus süßem Schaum, der sich anschließend auf dem Träger und den Herumstehenden niederließ. Der Schaffner des Waggons fing an, wild an der Glockenschnur zu ziehen, so dass der Fahrer des Motorwagens heftig auf die Bremse trat. Weitere Fontänen schossen mitten in die Reisenden, die massenhaft zu Boden stürzten, aber da wurde der unschuldige Täter samt seinen Taschen zum ersten Mal aus der anständigen Gesellschaft ausgestoßen, so wie es ihm noch mehrmals im Leben widerfahren sollte. Zu seinem Ziel gelangte er per pedes, nur mit einem kümmerlichen Saftrest, dafür weinend und von einer solch harten Zuckerschicht überzogen, dass sie sich erst unter der heißen Dusche aufweichen ließ.

      Die geradezu unüberschaubaren Flächen mit Bauparzellen, die gleich hinter dem Haus begannen und ihren Charakter als einstige Felder und Wiesen nicht verleugnen konnten, wurden zum Eldorado des Jungen und zu dem Ort, wo zum ersten Mal der Wetteifer in ihm ausbrach. Bald war er der Meister im Murmelspiel, so dass er kurz darauf nur noch riskant mit Glasmurmeln warf, von denen jede einen Tauschwert von zehn Tonkugeln besaß. Als er auf dem Gipfel seines Ruhmes angelangt war, wurde er zu seinem Leidwesen von einer Bande böser Jungs seines ganzen Schatzes beraubt. Schon damals zeigte sich, was ihm offenkundig angeboren war: Jede Wiederholung sollte ihn langweilen, daher ließ er seine Murmelkumpels links liegen und erschien mit Pfeil und Bogen samt Strohzielscheibe auf den Parzellen. Eine dunkle Erinnerung drängt sich ihm auf, dass er seine Ausrüstung an niemanden verlieh, damit ihn keiner übertreffen würde. Anerkannter Champion wurde er dann im Münzenprägen. Die Hellerstücke, die man aufs Gleis legte, sahen, nachdem die Straßenbahn darübergefahren war, tatsächlich wie alttschechische Silberlinge aus und wurden auf den Parzellen zum begehrten Zahlungsmittel, um das man beim Münzwerfen spielte. Der kleine Junge tauschte für seine erste Sucht mindestens eine von fünf Kronen ein, die er allwöchentlich fürs Schuheputzen und Geschirrwaschen bekam. Bald spürte er mit innerster Gewissheit, die ihn sein Lebtag begleiten sollte: dass er niemals etwas gewinnen würde. Deshalb hörte er damals und für immer mit Glücksspiel und Wetten auf.

      Was den schulischen Fortgang betrifft, so entsprach er der Formel ›Einzelkind aus guter Familie‹: Im Zeugnis lauter Einsen bis auf zwei Zweien, im Turnen und im Zeichnen. Das letztere Fach entwickelte sich zu einem wahren Leidensweg in der Prima des Realgymnasiums, wo sie der aufbrausende Professor F. X. Böhm unterrichtete. Er fühlte sich nicht nur, wie es seine Initialen andeuteten, als Künstler, sondern er besaß auch ein Patent für teure Malstifte, die sich »Efixböhms« nannten und die nur risikofreudige Eltern ihren Sprösslingen sich vorzuenthalten trauten. Zu solchen gehörte auch die Mutter des Jungen, die an die Gerechtigkeit glaubte. Als sie sah, wie ihr Kleiner zum fünften Mal verzweifelt eine griechische Amphore malte, weil der schreckliche Mann alle vorherigen Versuche durchgestrichen hatte, veranlasste dieses Unrecht sie dazu, sich dem Lehrer, allen flehentlichen Bitten des Sohnes zum Trotz, vor dem Unterricht in den Weg zu stellen. Auf dem Gehsteig vor der Schule sahen Dutzende wartender Schüler, wie der Pädagoge mit einem neuen Kunstwerk über seinem Kopf wedelte und dabei rief: »Gnädige Frau, das ist keine Amphore, das ist ein Arsch!« Der Himmel sollte es dem armen Jungen damit vergelten, dass er dereinst für das Gebiet der bildenden Kunst einen Malersohn haben wird.

      Die Höllenangst vor jeder Stunde in der Turnhalle, wo sich nicht nur die Ringe, der Bock, der Kasten und der Balken in Folterwerkzeuge verwandelten, sondern auch eine gewöhnliche, vom Schweiß tausender Leiber bis in die letzte Faser verhärtete Matte, auf der er keine Rolle schaffte, führte zu einem überraschenden Ende: Der kleine Junge entschied sich, kein Kümmerling mehr zu sein. Seine sportliche Karriere nahm er auf dem Sportplatz der Schule in Angriff, wo er ganz allein nach dem Unterricht die Latte beharrlich immer wieder auf die Ständer legte und sich in den Sand fallen ließ, der auch noch zu Hause von ihm herabrieselte, so lange, bis er sich am Ende des Frühlings von einhundert Zentimetern auf einhundertunddreißig hochschwingen konnte. Im Herbst begann er Schlittschuh zu laufen, und weil das Eisstadion zu teuer war, lief er am liebsten auf der Moldau, die vor dem Bau der Staudamm-Kaskade

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