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wichtige Nachrichten auszuschneiden und sie in seine Hefte zu kleben, so als würde er sie sich im Alter noch einmal in Erinnerung rufen wollen. Sie begannen mit einem Bild, auf dem der Kaiser Haile Selassie seine treuen Abessinier, nur mit Speeren bewaffnet, in den Kampf gegen italienische Panzer begleitet. Besonders dokumentiert wurde ein Ereignis, das dem kleinen Archivar umso wichtiger erschien, als es sich am Tag seines achten Geburtstags abspielte: der volle Ausbruch des Spanischen Bürgerkriegs. Der Kampf der Republikaner, über den die Zeitungen schrieben, dass er auch für Prag geführt würde, faszinierte ihn so sehr, dass er schon in wenigen Jahren sein erstes Versuchsstück Barcelona ruft darüber schreiben wird. Dazwischen überwogen die Bilder von Eishockeyspielern, von denen der Tscheche Bóža Modrý und die drei Schweizer Gebrüder Torriani ihm am meisten imponierten.

      Im Jahre siebenunddreißig nahm der Vater seinen Jungen zum ersten Mal mit ins »Café Slavia« beim Nationaltheater, wo er wohl Stammgast gewesen sein musste, da man ihn an diesem Tag überhaupt hineinließ, die Garderobenfrau bemerkte ihn und kam, um ihm aufzumachen. An den großen Fenstern sollte ein Trauerzug mit jenem Herrn Präsidenten vorbeikommen, den auch die Erwachsenen tatíček, also Väterchen nannten, so dass er, Masaryk, für die Kinder eine Art dritter, geheimnisvoll erhabener Großvater war. Dem Bub musste ebenfalls ein Papierperiskop gekauft werden, damit er über das Gedränge hinweg den Sarg auf der Kanonenlafette erspähen konnte, die von Legionären aller vier Fronten des Ersten Weltkriegs begleitet wurde. Damals sah er auch zum ersten Mal seinen Vater und andere Männer weinen.

      Und schon war das schicksalsschwere Jahr achtunddreißig mit seinen weiteren Eindrücken da, die in seinen Sinnen für immer haften blieben. Zu den Erinnerungsbildern gehörte auf dem zweiten Zeltlager YMCA in Nordböhmen, dem damaligen Sudetenland, die rätselhafte Verwandlung seines netten Erziehers, eines gewissen Herrn Ilchmann, der ein Jahr zuvor das Heimweh des Jungen nach seinen Eltern in freundlichem Gesprächen zu lindern versucht hatte; dieses Mal erschien er in einer kurzen Lederhose mit bestickten Hosenträgern und in dicken weißen Kniestrümpfen, aber vor allem ließ er sich auf Deutsch mit »Herr Ilchmann!« anreden und begann mit allen deutschen Jungs in der gemischten Abteilung, obgleich sie alle auch Tschechisch konnten, nur in ihrer Sprache zu plaudern, während er die Tschechen lediglich mit einsilbigen Befehlen abfertigte. Die tschechischen Erzieher grüßten ihn spaßeshalber mit der hochgestreckten Rechten und gaben ihm unter sich den Spitznamen skopčák, also Hammelknecht, den man seinerzeit wohl allen gab, die in ähnliche Trachten gewandet waren.

      Zur lautlichen Wahrnehmung gehörten schon vor den Ferien die immer häufigeren Proben von Alarmsirenen, die kürzlich auf die Dächer öffentlicher Gebäude montiert worden waren.

      Die Geruchswahrnehmung wurde beherrscht vom Gummigestank einer Gasmaske, die man in einem Blechbehälter über die Schulter gehängt auch zur Schule tragen musste. Doch wieder einmal – was war das nur für ein Spaß, als die Frau Lehrerin das Klassenzimmer betrat und eine Elefantenherde vor sich sah. Das kam davon, dass die Filter an den langen Schläuchen den Schülern bis zum Bauch hinunter baumelten, und zudem konnte sie jene auch nicht erkennen! Das Lachen verging dann allen recht schnell, als eines Nachts der Hausmeister, in Begleitung eines Soldaten, sie Hals über Kopf mit den Eltern in den Keller schickte, weil die Nachricht kam, dass der Führer Adolf ohne Vorwarnung als Erster losschlagen würde.

      Alle Eingeschüchterten beruhigte bald schon eine überdimensionale visuelle Wahrnehmung: das riesige Stadion von Strahov, wo eine ganze Viertelmillion Zuschauer die tschechoslowakische Armee bewunderte und begeistert grüßte, die zusammen mit den Sokol-Turnern allegorische Bilder aus der Geschichte vorführte, angefangen bei den berühmten Siegen der wackeren Hussiten bis hin zu den tapferen Legionären aus dem Ersten Weltkrieg. Als zum Abschluss die Jagdflieger, Akrobaten der Lüfte, am Himmel erschienen, um einen Luftkampf vorzuführen, zweifelte niemand mehr daran, dass sie im Gefecht bestehen würden. Dann kam der 23. September 1938, und auf einmal wurde über Nacht aus jedem erwachsenen Mann ein Soldat. Das Wort Mobilmachung war allgegenwärtig. Man zieht in den Krieg, auf den ersten Blick fahren alle mit den Straßenbahnen hin, ganze Trauben von einrückenden Zivilisten hängen an den Trittstufen, die Passanten winken ihnen zu, und die ganze Stadt stimmt immer wieder von neuem patriotische Lieder an, die aus den Straßenlautsprechern tönen.

      Und dann die Empfindung aller Empfindungen, an dem Abend, als der Vater den Knaben auf jenen riesigen runden Platz im Prager Dejvice mitnahm, wo gegenüber einem Balkon, auf dem ein General mit einer Augenbinde stand – er ähnelte Žižka –, Hunderttausende umsonst die verzweifelte Kampflosung der Steuerzahler skandierten, welche die Kapitulation ablehnten:

      Gebt uns Gewehre,

      wir haben sie bezahlt!

      Darauf folgten nur noch Bilder der Schmach – entwaffnete tschechoslowakische Soldaten, die sich auf den Straßen zwischen den Fuhrwerken tschechischer Vertriebener aus dem Sudetenland schleppten, und der Aufschrei des Dichters Halas, der sich so unvergesslich in das kollektive nationale Gedächtnis einbrannte, dass er nach acht Jahren, im Mai 1946, die Mehrheit der Wähler so beeinflussen wird, dass sie für den Schutzschirm der Sowjetunion stimmen.

      Es läutet, läutet die Glocke des Verrats,

      Und klingt durch wessen Hand?

      Süßes Frankreich, stolzes Albion,

      Wir haben sie geliebt, doch nicht gekannt!

      Und ein paar Wochen später, nach jenem Morgen, als schmutziger Schnee niederging und die Leute, wie man auf den Fotografien von damals sieht, vergebens die bloßen Fäuste ballten, steht auch ein junger Bursche in einer fremden Uniform mit Gewehr vor der Volksschule, in die seine Kameraden Pritschen von den Lastautos trugen, um das Gebäude bis zum Kriegsende in eine Wehrmachtskaserne zu verwandeln. Während sich seine weiteren Mitkämpfer für die bei ihnen zu Hause nahezu wertlose Mark, die durch den Überfall einen Wert von zehn harten Kronen bekommen hatte, in Prager Metzgereien und Konditoreien mit längst vergessenen Delikatessen die Bäuche vollschlugen, versperrte dieser deutsche Bengel den tschechischen Kleinen den Zugang zum Lernen und zu ihrer Kindheit. Dort, wo gewöhnlich das eigentliche Leben eines Menschen beginnt, winkte ihnen plötzlich der Tod.

      5. Kapitel

      Protentokrát

      Bubeneč, das neue Prager Viertel, das kurz nach dem Krieg gebaut wurde, war auch dahingehend modern, dass dort keine deutschen oder jüdischen Enklaven existierten, wie es im Stadtzentrum üblich war, denn hier wohnten alle beisammen. In einem einfachen Mietshaus in der Dr.-Zikmund-Winter-Straße Nummer 19, wo sich das Fehlen eines Aufzugs schmerzlich bemerkbar machte und die Miete deshalb proportional zum nächsthöheren Stockwerk sank, mieteten die Eltern eine Wohnung in der vierten Etage, wie es ihnen der Geldbeutel erlaubte und das Prestige gebot: Das eigentliche Proletariat bewohnte nämlich das Dachgeschoss mit den Gemeinschaftssanitäranlagen. Von dreizehn Familien waren zwei deutsch und eine jüdisch. Die beiden deutschen Familienoberhäupter arbeiteten auf dem Prager Magistrat und zogen bald nach der Okkupation fort; Hausmeister Říha, der mithalf, die Speditionswagen zu beladen, verriet, dass sie Richtung ›Kleinberlin‹ abgefahren seien; so begann man jene Villengegend zwischen Struhy, Stromovka und Sparta zu nennen, wo die Eigentümer, meist reiche Juden, es noch rechtzeitig geschafft hatten, ins Ausland zu flüchten.

      Noch bevor es zu den beiden ersten Sympathieäußerungen gegenüber Jarunka L. und Věra U. kam, musste der Bub, der allmählich wieder zu Kräften kam, wenigstens im Schnelldurchgang die Zeit der Schelmerei und des Schabernacks absolvieren, um die ihn vorher seine Erkrankungen gebracht hatten.

      Er meisterte alles im Großen und Ganzen mit Bravour. Ein zufälliger Passant, dem er einen Knallfrosch vor die Füße geworfen hatte und dabei vor Freude wegzulaufen vergaß, packte ihn einmal am Ohr und führte ihn zu seiner Mutter, das zweite Mal griff ihn der Hausmeister am Kragen und schrie, damit ihn auch alle Mietparteien hören konnten, dass er den ganzen Monat nichts anderes tun konnte, als dem Lotterbuben aufzulauern, der es täglich fertigbrachte, im ganzen Haus die Fußmatten zu vertauschen, so dass die Bewohner sie fluchend auf allen Etagen suchten. Zur Strafe gehörte eine klassische Tracht Prügel, für welche man die Mutter heute einsperren würde. Sie griff dann noch öfter zu dieser Maßnahme, und allen Fachleuten zum Trotz

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