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Mein tolles Leben mit Hitler, Stalin und Havel. Pavel Kohout
Читать онлайн.Название Mein tolles Leben mit Hitler, Stalin und Havel
Год выпуска 0
isbn 9788711449059
Автор произведения Pavel Kohout
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Sie kamen so spät angestürmt, dass sie nicht mehr in die Garderobe gelassen und geradewegs in den Saal gedrängt wurden, wo ihnen schon die Drückeberger aus dem Regiments- und Divisionskommando, die sich hier in Ausgehuniformen neben den hiesigen Schönheiten wichtig machten, spöttische Kommentare zuriefen; das weltbekannte Karlsbad war damals kein Kurort, sondern eine Garnisonsstadt, zudem an vorderster Frontlinie, an der der hinterhältige Angriff amerikanischer Imperialisten wie auch deutscher Revanchisten gegen das sozialistische Friedenslager abgewehrt werden sollte, worauf man in schnellem Gegenangriff zur Rheinebene vorstoßen sollte. Dann fing die Vorstellung an. Was auf der Bühne gespielt wurde, hatte der Dichter vergessen, weil sich das eigentliche Stück im Zuschauerraum abspielte. Aus den schweren Mänteln begann der Dampf aufzusteigen, und in dieser feuchten Wärme schliefen die Mitstreiter nach der ganztägigen Rackerei und dem fetten Abendessen wie die Murmeltiere reihenweise ein. Zu den Dialogen auf der Bühne, die wegen der Geräusche fast nicht zu hören waren, lief im Zuschauerraum Ferko umher und rief: »Genossen, nicht schnarchen!«
Im Januar 1953, gleich nach dem Abschluss der Grundausbildung, wurde der Dichter wider Erwarten, anstatt in irgendeine der Militärredaktionen in das zentrale Armee-Ensemble abberufen. Die gewaltige Künstlerschaft, in der etwa dreihundert professionelle Musiker, Sänger und Tänzer den Wehrdienst absolvierten, sollte auf eine offizielle Reise in die Sowjetunion gehen, und man benötigte einen Conférencier, der die russische Sprache beherrschte. Er musste ihr auch ein gehöriges Pathos verleihen, um in den Arenen vor Tausenden von Zuschauern nicht zu läppisch zu klingen. Schließlich freundete er sich auf der Reise, die von Kiew über Charkow nach Moskau und zurück nach Prag führen sollte, mit Radim Dreisl, dem künstlerischen Leiter, an.
Wenn der einstige Dichter im Jahre 1983 in Wien als Regisseur das Remake des Films Das Ohr drehen wird – der im Jahr 1969, bevor er in den Kinos erscheint, für zwanzig Jahre im Tresor landet, und sein Drehbuchautor Jan Procházka das erste zu Tode gehetzte Hochwild des niedergeschlagenen Prager Frühlings sein sollte –, wird er sich von den Technikern des tschechoslowakischen Rundfunks gegen Bezahlung aus Prag heimlich Dreisls Lieder aus den fünfziger Jahren überspielen lassen und hinüberschmuggeln, um sie als authentische Musikbegleitung zu benutzen. Und als er sie im Wiener Studio aufs Filmband kopieren wird, werden die Österreicher von den benachbarten Arbeitsplätzen zu ihm kommen und dem Zauber der anmutigen Melodien gänzlich erliegen. Es wird ihm schwerfallen, zu erklären, dass gerade jene den Weg der Tschechoslowakei in die Hölle begleitet haben, wo sie zum Glück dank Stalins vorzeitigem Tod nicht mehr angekommen ist. Radim Dreisl war der Erste, der ihm seine Bedenken über die politischen Prozesse anvertraute. Und nicht nur das.
Als der Dichter eines Morgens zum Dienst kam – das Ensemble hatte seinen Sitz im Prager Rudolfinum –, erblickte er einen Auflauf erregter Mitglieder und zufälliger Passanten. Sie mochten nicht auseinandergehen, nicht einmal nach der Abfahrt des Krankenwagens, weil sie immer noch den Mann in Offiziersuniform vor Augen hatten, der dort eine Weile am Fenster im obersten Stockwerk stand, bis er sich von dort geschmeidig abstieß, wie ein Schwimmer vom Sprungbrett. Der Autor der berühmtesten Lieder, welche die stalinistische glückliche Zukunft besangen, konnte die Erkenntnis, getäuscht und missbraucht worden zu sein, nicht überwinden. Er war einer der ersten Kommunisten, die dafür persönliche Verantwortung auf sich nahmen und somit allen übrigen die Frage stellten, wie sie damit umzugehen gedachten.
Den Dichter erwartete bald darauf die endgültige Abkommandierung in die Redaktion der Militärzeitschrift, die alle vierzehn Tage erschien und die kulturpolitische Tätigkeit bei den bewaffneten Streitkräften inspirieren und entwickeln sollte. Der Kommandant war ein gewisser Vlado Kašpar. In der Krähenschar gedeiht manches Mal die legendäre weiße Krähe und unter den Schwalben eine, die den Frühling bringt. Der Kriegspartisan und Kommunist, bald nach dem Krieg Ausbilder der israelischen Hagana, dann Oberst unserer Armee, Chefredakteur des beachtenswerten Journals »Tschechoslowakischer Soldat« – später in Ungnade gefallen und zur Strafe Maurer –, war im Jahr 1968 führender Journalist des »Prager Frühlings« und Gründer der nicht weniger exzellenten Zeitung »Das Signal«, dann wieder zwanzig Jahre Ausgestoßener und schließlich nach dem Fall des totalitären Regimes führender Funktionär des freien Journalistenverbands – er gehört zu den Persönlichkeiten, die schon zu Lebzeiten ihr eigenes Denkmal sind. Für viele wird er das unerreichbare Ideal eines Chefs bleiben, dessen Autorität in, ja, kompromissloser Güte wurzelt, gegen die man sich nicht wehren kann.
In der Armee, einem der Epizentren der Macht, bildete er innerhalb der massenhaft verbreiteten Zeitschrift eine Enklave des unzensierten Denkens, die er bis weit hinter die Grenzen der Vorsicht ausdehnte, bis zum äußersten Maß der Tragfähigkeit. Als Rosinen pickte er sich aus den Regimentern des ganzen Landes die jungen Talente heraus, er hatte keine Bedenken, auch den slowakischen Lyriker Vojtěch Milhálik unter seine Fittiche zu nehmen, damals noch ein katholischer Mystiker, dem die Jahre bei den ›Schwarzen Baronen‹ bevorstanden. So wurden die Soldaten genannt, die bei den schmachvollen Technischen Hilfstrupps statt mit Gewehren mit Schaufeln hantierten. Mit stiller, aber immer offenkundigerer Unterstützung verwandter Seelen in der politischen Führung der Armee schaffte er es nicht nur, die erste Illustrierte mit hohem journalistischem, literarischem und auch gestalterischem Niveau zu gründen, sondern dort auch heiklen Themen eine Plattform zu bieten, die bislang in der ganzen Gesellschaft tabuisiert worden waren. Der »Tschechoslowakische Soldat« wurde seit einigen wenigen Monaten auch in öffentlichen Tabakläden unter der Hand wie westliche Zigaretten verkauft.
Bald sollte das dem Dichter die Courage zu einer Tat geben, die die Karriere als Minnesänger der Partei beenden und den langen Marsch einleiten wird, der zuerst zur Beteiligung am Versuch, das stalinistische System zu reformieren, führt, dann zu den Dissidenten und schließlich ins Exil. Sein kritisches Stück über die Armee Septembernächte kommt im Jahre 1955 im »Soldaten« heraus, zwar in Teilen, aber in ungekürzter Fassung, und wird ein heftiges Erdbeben hervorrufen. Die drei Jahre, die er als Redakteur und Reporter in Uniform verbrachte, bezeichnete der Dichter schon bald als den entscheidenden Einschnitt in seinem Leben. Er verbrachte diese Jahre vorwiegend in verschiedensten Truppenverbänden im ganzen Land, auf Truppenübungsplätzen, in Offiziersmessen und Mannschaftskantinen, in Kasernen und sommerlichen Ausbildungslagern. Den Höhepunkt stellte im Jahre 1954 ein Herbstmanöver dar, als er in der Turmluke eines Panzers vom mährischen Olmütz bis nach Böhmen fuhr. Seine Verse hörten dabei auf, mit dem Säbel zu rasseln, und bekamen einen tröstenden Ton, weil er immer mehr junge Männer traf, bei denen der damals zweijährige und für viele schier endlose Dienst mit spärlichen Ausgängen oder Besuchen von Menschen, die ihnen nahestanden, emotionale Bindungen zerriss. Als er aus vertraulichen Sammelberichten von der alarmierenden Anzahl der Selbstmorde erfuhr, schrieb er in Briefform das Gedicht Vom Mädchen, das allzu einsam war.
Dieses kleine Gedicht verbreitete sich nach der Veröffentlichung im »Tschechoslowakischen Soldaten« in der ganzen Armee, von den Grenzsoldaten im westböhmischen Asch-Eger bis hin zu den östlichsten Garnisonen in der Slowakei, es wurde haufenweise als Mahnung nach Hause geschickt und auf die Innenseiten der Soldatenkoffer geklebt, und so funktionierte es noch bis in die siebziger Jahre hinein. Falls es auch nur einen einzigen Uniformierten vor der Kurzschlusshandlung bewahrt haben sollte, wird es auf seinen Autor als Bonus vor dem Jüngsten Gericht warten.
Die unzähligen Gespräche mit den ›Waffengenossen‹ beendeten das bisherige Unisono der Meinungen in der Familie, im Fučík-Ensemble und beim »Stachelschwein«, als der laute Misston sich mehrender Einwände und Beschimpfungen den Einklang ablöste. Gerade in der Armee begann der neue Geist des Unverständnisses zu entstehen, der bald die ganze Gesellschaft wachrütteln sollte. Der bisherige poetische Apparat des Dichters brach darunter total in sich zusammen, es versagte auch die berauschende Philosophie der frommen Wünsche. Auch er hatte in der Jugend nach Gefühlskrisen die Hamletfrage »Sein oder Nichtsein« nicht vermieden. Für immer bleibt in seinem Gedächtnis haften, wie ihn einmal im Stadion von Slavia der Gedanke, er sitze dort mit Tausenden künftigen Toten zusammen, entsetzte! Aber das war eher Koketterie. Die Lösung, welche Radim Dreisl gewählt hatte, lehnte sein Charakter im Kern