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vor den immer stärker werdenden Deutschen. Die Psychose des Umzingeltseins rief zum Zusammenschluss der Treuen, zu denen natürlich auch die Bewaffneten mit und ohne Uniform gehörten, die Letzteren umso eher, weil auch die Russische, aber davor schon die Französische Revolution die schlimmsten Feinde in den eigenen Reihen fand.

      Zu der Zusammenarbeit bewegte den Leiter des Julius-Fučík-Ensembles auch die Gewissheit, dass man gerade diejenigen Mitglieder abschirmen könne, auf die der ›Kaderschatten‹ ihrer Eltern fiel. Als die Passbehörde etwa zehn Leute von der Teilnehmerliste für das Jugendfestival in Berlin gestrichen hatte, machte es ihm gerade jener Kontakt möglich, das Innenministerium zu überzeugen, dass es ohne die Betroffenen unmöglich sei, eine Spitzenleistung zu garantieren. Der vom Ministerium zugewiesene Genosse, der sich bloß Ludva nannte, machte es noch leichter. Als Kommunist aus der Zeit, in der die Partei noch verboten gewesen war, war er ein gemachter Mann, überdies mit einer donnernden Stimme ausgestattet, aber auch mit der Fähigkeit, zuhören zu können. Die Einwände übermittelte er offenbar nicht nur, sondern unterstützte sie auch mit Erfolg; die Betroffenen vergalten es dann dadurch, dass niemals irgendjemand irgendwo im ›feindlichen Ausland‹ zurückblieb.

      Die werdenden Reformatoren blieben eines schuldig, nämlich dass sie nicht schon damals mit gleicher Tatkraft Nachforschungen anstellten, wie sich die Strafe für die elterliche Abstammung mit der angeblich gerechtesten aller Gesellschaftsordnungen verträgt. Der geheime Patron richtete auch die Kritik des Dichters am schlechten Verhalten diverser Apparate aus, die allerdings immer noch entsprechend dem momentanen Zustand der Gesellschaft und seinem eigenen Denken ausfiel. Ludvas Verständnis für Fairplay bescheinigen viel später die Meldungen, wie sie die umfangreiche Akte im Pardubitzer Archiv der Staatssicherheit überliefert. Er wird den Dramatiker, sogar als die ›Normalisierung‹ ihren Höhepunkt erreichte, niemals als Feind und Verräter bezeichnen, wodurch er deutlich aus der Reihe seiner Kollegen tanzt.

      Das Ende der Tätigkeit im Ensemble begründete auch den Antrag des Poeten, diese Zusammenarbeit zu beenden. Als Schriftsteller auf freiem Fuß, so führte er an, vermisse er den eigentlichen Sinn der geheimen Zusammenarbeit, wenn er seine Bemerkungen zur Kulturpolitik der Partei schon gleich als hoher Funktionär des Jugend- und Schriftstellerverbandes offen zur Sprache bringen kann. Die wichtigste Triebfeder war allerdings, dass auch das Vertrauen der überzeugten Kommunisten, zu denen er sich noch immer zählte, inzwischen durch die Erkenntnis erschüttert worden war, welche scheußliche Rolle der stalinistische Sicherheitsapparat innehatte, zu dessen Ableger sich die tschechische Staatssicherheit unverkennbar entwickelte. So wird sich die Akte Olek schließen, und nach zehn Jahren wird ihn die über zehntausend Seiten umfassende Monsterakte Dialog ersetzen, in der aus dem braven Genossen Jekyll nunmehr der ekelhafte Herr Hyde geworden ist.

      Summa summarum: In dem Augenblick, als er begriff, dass sich die Staatssicherheit in eine Unsicherheit für sein Land und dessen Bürger verwandelt hatte, blieb er nicht nur bei dieser Feststellung, sondern entschied, sich ihr in den Weg zu stellen, auch mit dem historischen Bewusstsein, dass derartige Organe die Abtrünnigen am verbissensten verfolgen.

      Es kommt ihm ganz logisch vor, dass gerade sein Offizier bei der ›Firma‹ keine ordentliche Karriere machen konnte und sie bald verließ. Die Pointe übertrifft jedoch die kühnsten Erwartungen. Als er ihn im Jahre 1999 mit Hilfe der Behörde zur Aufklärung und Dokumentation kommunistischer Verbrechen als Oberst Ludvík Arazim aufspürt und dieser bei einer Tasse Kaffee durchaus glaubhaft seine Lebensgeschichte erzählt, macht er seinem ›Objekt‹ ein überraschendes Angebot. Dass die Glocken für die große Sowjetunion definitiv ausgeläutet haben, begreift der Dramatiker, als Michail Gorbatschow, der vor kurzem noch Generalsekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Sowjetunion war und darum der zweitmächtigste Mann der Welt, mit seinem Enkel den Liebhabern des Fastfood in der Fernsehwerbung die Pizza-Hut-Kette empfiehlt. Und dass der allmächtige tschechoslowakische Geheimdienst unwiederbringlich der Vergangenheit angehört, demonstriert sein ehemaliger Offizier durchaus überzeugend, als er bei diesem letzten Treffen Kosmetikproben aus seiner voluminösen Aktentasche auf dem Tisch ausbreitet und fragt, ob er die Gattinnen ehemaliger Zielpersonen durch eine Heimpräsentation von Produkten der Firma, für die er jetzt arbeitet, erfreuen könnte.

      19. Kapitel

      Wofür, Genossen?

      Dieser Aufschrei gehört zu der zeitgenössischen Karikatur, auf der ein betrunkener Kommunist verzweifelt an einem vergitterten Kanaldeckel rüttelt. Millionenfach schrien ähnlich die gemarterten Opfer, die tatsächlich von irgendeiner Mutter Revolution verschlungen wurden. Die frische heimische Revolution zehrte nach der ersten Aufwallung nicht mehr am Fleisch, umso mehr jedoch an Geist und Seele.

      Man schreibt das Jahr 1954. Auf einem Sommerübungslager der Armee stehen die Manöver bevor. Gleichzeitig spitzt sich der Konflikt zwischen dem Kommandanten der Maschinengewehrkompanie, Leutnant Zábrana, und Major Cibulka, dem stellvertretenden Regimentskommissar für politische Angelegenheiten, zu. Im Zuge einer Schikane verbietet dieser dem jungen Offizier, seine hochschwangere Ehefrau zu besuchen. Zábrana, zudem noch von einem Armee-Journalisten verleumdet, verlässt in einer Kurzschlussreaktion die Einheit. Für die Fahnenflucht droht ihm eine drakonische Strafe. In diese Handlung tritt der Divisionskommissar Oberst Sova ein und stellt die Ordnung wieder her wie der erzürnte Prinz am Ende von Romeo und Julia. Dies ist stichwortartig der Inhalt des Dramas Septembernächte, das im Jahre 1955 veröffentlicht und aufgeführt wurde.

      Man kann es kaum noch spielen, das Schema ist durchsichtig, passé sind auch die Szenen, die das Theater auf den Weinbergen, damals Zentraltheater der tschechoslowakischen Armee genannt, von Schießpulvergestank lüfteten; die sowjetischen Kriegsstücke ließen mit ihrem Radau die Bewohner der benachbarten Straßen bis in die späten Nachtstunden nicht schlafen. Die Septembernächte wurden nur von befreiendem Lachen oder ergriffenem Schnäuzen ins Taschentuch begleitet, wie es die Dialoge und die Geschichten auslösten, die der Autor während seines Wehrdienstes gesammelt hatte.

      Eine ganz andere Sache ist, was dieses Stück damals beim Publikum, beim Ensemble und vor allem bei seinem Autor selbst bewirkte. Es gibt viele Zeugnisse dafür, dass nach der Aufführung niemand mehr so war wie vorher. Das Publikum erlebte zum ersten Mal einen Tabubruch; wenn es in der Tschechoslowakei auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges neben der kommunistischen Partei eine zweite heilige Kuh gegeben hat, dann war dies sicherlich die Armee. Umso überraschender war es, dass dieses Stück die Armee wie ein normales Schlachtvieh behandelte. »Wir sind eine Volksarmee!«, ruft ein anderer Leutnant seinem Kommandanten zu, »und unserem Volk geschieht dort Unrecht!« Das Stück zielt dabei auf einen weiteren geschützten Kentauren ab, einen ›verdienten Bolschewiken‹ proletarischen Ursprungs.

      Wie konnte Mitte der Fünfziger die Zensur, die sich liebend gern mit der Streichung von kleinen Sätzchen und Wörtchen aufhielt, bereits zwei Jahre nach Stalins Tod zulassen, dass die zentrale Zeitschrift der tschechoslowakischen Armee über zwei Monate hinweg in fünf Teilen einen dramatischen Text veröffentlicht, der durch sein Erscheinen in Fortsetzungen und ohne erklärende Kommentare wie eine Serie von Schlägen auf den Solarplexus wirkt. Und für die Aufführung übernimmt ihn das repräsentative Armeetheater in einer unveränderten Version.

      Hat es etwa niemand rechtzeitig gelesen und gehört? Waren etwa alle, die die offizielle Veröffentlichung zuließen, und auch jene, die sie über Wochen duldeten, mit Blindheit und Taubheit geschlagen? Die Erklärung ist einfacher und verrät, wo die Kraft herkam, durch die sich aus den anfänglichen Schneekugeln allmählich eine Lawine der Reformbewegung zusammengeballt hat, um nach zwölf Jahren zum ersten Mal das sowjetische Reich real zu bedrohen. Die höchsten Machtorgane, parteiliche wie staatliche, öffentliche wie geheime, waren natürlich gespickt mit sowjetischen Kadern, deren Ideologie schon lange der blanke Zynismus war. Aber die Masse der Regierungspartei und auch die Mehrheit der Angestellten des Apparats wurde weiterhin von Männern und Frauen gebildet, die schon vor dem Krieg, währenddessen oder kurz danach zu Kommunisten geworden waren, in der Überzeugung, einer schwer gebeutelten Gesellschaft zu dienen. Jene waren es, die den Text eines kritischen Stücks bewusst durch die Zensurschleuse schwimmen ließen, in der Hoffnung, dass es den Schlamm entfernen und das ursprüngliche Ideal zum Vorschein bringen könnte. Solche beherrschten

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