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Nur dass gerade dieses Stück als Einziges noch vor seiner Aufführung verboten wurde. Nach der wiederholten Genehmigung durch die oberste politische Verwaltung der Armee, die erstaunlicherweise wie ein einäugiger König unter den Blinden übriggeblieben war, kam ein plötzliches Nein! direkt vom Zentralsekretariat der Partei. Oder es war eher ein russisches Njet!, weil der Kreml gerade am Tag der Leseprobe eine weitere Tragödie zu schreiben begann.

      Bis zu dieser Zeit hatte die beinahe wunderbare Entwicklung in Ungarn die Herzen aller Hoffenden emporgehoben. Das heimische Fernsehen ging zwar verdächtig sparsam mit den Bildern um, aber die tschechischen Rundfunksendungen aus dem Westen schafften es, dass die Menschen feuchte Augen bekamen, wenn die bewegenden Szenen der Verbrüderung der ungarischen kommunistischen Reformführer mit dem ganzen Volk geschildert wurden. Zuerst klang es so, als wäre die Entwicklung, die Chruschtschow vor acht Monaten eingeleitet hatte und die Imre Nagy gleich unerschrocken fortsetzte, durch nichts und niemanden mehr aufzuhalten. Dann schien es, als würde ein anderes Ensemble über Nacht anfangen, ein ganz anderes Stück zu spielen. Der ausländische Rundfunk bestätigte, was das tschechische Fernsehen schon vorsorglich als Warnung den dieses Mal erschrockenen Augen nahezu wohlgefällig anbot: Auf den Budapester Laternenpfählen brannten Menschen. Den grauenvollen Gestank lebender Fackeln in Prag im Mai 1945 konnte der Dramatiker immer noch wahrnehmen. Damals verbrannten die Tschechen die Deutschen, dieses Mal verbrannten die Ungarn die Ungarn. Auch dort vollzog die Straße den Akt der historischen Gerechtigkeit auf mörderische Art und Weise. Nikita der Furchtlose begann, einen Putsch der Stalin-Abkömmlinge zu fürchten, und schickte Panzer nach Budapest. Das nachfolgende Massaker war der schlagende Beweis, dass der Weg zur Freiheit nicht über die Barrikaden führt.

      Der Dramatiker und seine nahen Freunde bestärkten sich wie Tausende von Gesinnungsgenossen gegenseitig in der Annahme, dass man in diesem gespaltenen, aber immer noch mächtigen Verein bleiben und für ihn gemeinsam eine Grundlage schaffen müsse, wenn man einen gangbaren Weg aus der historischen Falle finden wollte. Ein Ausstieg hätte damals bedeutet, dass gerade die ihre Positionen räumen würden, die die ganze Gesellschaft von dem Maulkorb und der Leine des Totalitarismus befreien wollten und auch konnten. Zu bleiben erforderte natürlich auch, sich taktisch zu verhalten. Es ist schön, Liebe und Wahrheit zu predigen, sollten die jedoch je Hass und Lüge besiegen – das wissen alle, die es probiert haben! – geht es nicht ohne Zugeständnisse und Geduld. Es graute ihnen vor den steigenden Zahlen der Toten von Berlin über Posen bis nach Budapest. Und eine Warnung war auch das Resultat der unterdrückten Widerstandsversuche, das überall gleich war: der Terror ultrakonservativer Kräfte. In der Tschechoslowakei, die erst anfing, sich aus deren Umklammerung herauszumanövrieren, durften sie keinen Vorwand bekommen, der sie wie in Ungarn berechtigt hätte, sowjetische Hilfe einzuholen!

      Daher bemühte sich auch der Dramatiker bis zum Äußersten, seine Möglichkeiten auszuschöpfen, überschritt sie aber niemals waghalsig. So dass er auf keinem Forum ein Blatt vor den Mund nahm, aber auch keine Forderungen erhob, die in der jeweiligen Situation abenteuerlich gewesen wären. Darüber zu urteilen steht anderen zu. Hoffentlich beurteilen sie den ganzen Zeitraum anhand des Ergebnisses – des immer wohnlicheren Klimas der sechziger Jahre. Dass die Taktik der stillen ›Palisadenöffner‹ erfolgreich war, davon zeugt auch der Satz, mit dem der nichtsahnende Leonid Breschnew die Strategie des ›Prager Frühlings‹ absegnet, als die Reformer den Thron Antonín Novotnýs ins Wanken bringen: »Eto wasche djelo« – das ist eure Sache! Und dies bekundet auch die großartige Einheit, mit der die Bevölkerung der Tschechoslowakei ihre Okkupanten im August empfängt.

      Eines aber bekennt auch der erwachsene Mann offen: Das wirtschaftliche und politische Versagen des Vorkriegssystems hat ihn in seiner Jugend zu sehr geprägt, als dass er sich hätte wünschen können, sein Land solle so mir nichts, dir nichts zum Kapitalismus zurückkehren. Der Glaube an die Möglichkeit irgendeines besseren dritten Weges wird um so stärker sein, als schon damals zahlreiche westeuropäische Länder auf ihn zusteuerten, indem der Kapitalismus durch den dauerhaft gleichbleibenden Druck der Gewerkschaften und auch der immer häufiger werdenden Regierungsbeteiligung der Linken sozial kultiviert wurde. Dass es übrigens im Jahre 1968 nicht mehr um weitere fromme Wünsche ging, sondern um die Suche nach konkreten Ausgangspunkten von dauerhafter Gültigkeit, bestätigt sich auch, wenn auf tschechischem Boden nach dem Jahr 1989 das kapitalistische System erneut errichtet wird, und zwar in einer Spielart, die vor allem den Schwindlern und den Finanzschurken entgegenkommt: Schon nach ein paar Jahren erzwingt die Mehrheit der Wähler neue Debatten über einen besseren Weg, indem sie die Sozialdemokraten und leider wieder auch die Kommunisten zurück in den Ring lässt. Aber das ist aus Sicht des Jahres 1956 eine absolute Utopie ...

      21. Kapitel

      1 + 1 = 5

      Der Chronist seiner eigenen Geschichte hat hier schon etliche Kapitel seiner Revolutionsbegeisterung gewidmet, der Bemühung, sich den Beifall der Gleichgesinnten zu verdienen und alle Ungläubigen zu seiner Wahrheit zu bekehren. Es ist höchste Zeit, sich einem anderen Schwerpunkt zu widmen, der diesen ersten zum Glück bald ablösen wird: das Bedürfnis, von einem lebendigen Menschenwesen geschätzt und geliebt zu werden. Das Antlitz, das der Dichter noch vor seinem Fall monatelang in der Sopran-Reihe im Fučík-Ensemble wahrnahm, wirkte scheu und verletzlich wie ihre ganze Familie, die aus der tschechischen Enklave in Bulgarien in die Heimat zurückgekehrt war. Der abgenutzte Ausdruck ›einfache Leute‹ passte zu ihnen, sie waren warmherzig, fleißig und ehrlich, ihr irdisches Schicksal akzeptierten sie genauso selbstverständlich, wie sie Brot und Wasser zu sich nahmen.

      Das Schicksal des Dichters sollte immer wieder überraschende Wendungen im Angebot haben, die eher auf die Bühne passten als ins normale Leben. Als er an einem Mittag im Oktober 1952 vom Gericht zurückkehrte, welches das Ehebündnis mit der davongelaufenen Prinzessin annulliert hatte, war es eine schwarz gekleidete Frau, die als Erste bei ihm klingelte; sie stellte sich mit dem ihm vertrauten Namen Cornová vor. Sie sei gekommen, sagte sie im schönen Tschechisch längst vergessener Patrioten mit unverwechselbarem Balkanakzent, weil sie sich ihre Tochter schäme. Sie solle ausrichten, dass Anna in anderen Umständen sei, aber nicht erwarte, dass sie der Dichter nach einer so kurzen Bekanntschaft zur Frau nehme, wo sie ihn doch auch nicht auf ihre kritischen Tage hingewiesen hatte.

      Er besann sich den ganzen Nachmittag. Aber noch mehr, als ihm Annas stille Schönheit gefiel, traf ihn diese Noblesse. Die dramatische Einheit der Zeit zwischen den beiden Gipfelerlebnissen seines vierteljahrhundertjährigen Lebens signalisierte darüber hinaus den Willen der Sterne: sein Materialismus hatte nie völlig den Hang des Theatermachers zum Aberglauben vertrieben. Und es war sicher wieder auch der Doppelgänger des Cyrano in seinem neuesten effektvollen Auftritt, bei denen der Dichter selbst gerne vor Rührung verging, der ohne Ankündigung noch am selben Tag abends in die Wohnung von Annas Eltern kam, um sie zu ihrer Verblüffung, so wie es sich gehört, um die Hand ihrer Tochter zu bitten. Die bulgarische Mastika beschleunigte den Genrewechsel, und statt sich zu schämen, begossen sie das freudige Ereignis.

      Der Dichter heiratete also zum zweiten Mal, diesmal schon mit viel weniger Pomp – und verschwand. Zuerst entschwand er zum Wehrdienst, dann auf die Tournee des Armee-Ensembles durch die Sowjetunion, dann auf Reportagereisen, auf Militärmanöver und schließlich für ein Vierteljahr nach China und in die Mongolei. Zu Hause war inzwischen dank Anna im Laufe von lediglich vier Jahren nach Ondřej, der einst Maler in Österreich sein wird, und Kateřina, der zukünftigen Schweizer Hotelmanagerin, auch Tereza, die spätere tschechische Schriftstellerin Tereza Boučková, hinzugekommen; diese wird sich dereinst in ihrem leidenschaftlich geschriebenen Erstlingswerk Indianerlauf sarkastisch. »geplatzter Gummi« nennen, obwohl sie von den dreien das einzige echte Wunschkind gewesen ist; sie sollte nämlich das verkitten, was auseinanderzugehen drohte. Und der Vater und Gemahl dichtete für sie alle noch aus der Ferne weiter.

      Anna war eine fürsorgliche Mutter, ihre Ruhe entwaffnete schließlich auch die Mutter des Dichters, und durch die gemeinsame Wohnung verlief kein Graben mehr. Der Dichter nahm das Trio, wenn er in seinem stürmischen Flug gerade einmal Zeit hatte, gern ins Theater mit, hauptsächlich zu den Proben seiner eigenen Stücke, aber er ließ davon ab, als er einsah, dass sie für seine Kinder bei weitem nicht so interessant waren wie für ihn; vielleicht irrte er sich, weil Ondřejs erstes Ölbild von der Premiere

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