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„Bernhard, dein Vater schickt um dich, du sollst nach Hause kommen.“

      Die Augen des Knaben wurden groß und starr. Die Geige unterm Arm, folgte er stumm dem Kellermeister auf den schmiedeeisernen Gang, der den neuen Saalanbau mit dem alten Familienhause verband. Dort stand Bernhardts kleiner Bruder Jozsi und wartete.

      „Was will der Vater von mir?“ fragte Bernhard. „Die Mutter ruft dich. Du sollst dich beeilen!“

      Eine beklemmende Angst hinderte Bernhard, weitere Fragen zu stellen. Die beiden Knaben begannen zu laufen, rannten atemlos durch die nächtlichen Gassen. Drückende Schwüle lag über der Kleinstadt. In der Richtung des Dorfes Gelse zuckten Blitze. Das Vieh in den Ställen brüllte aufgestört. Hähne krähten aus dem Schlaf. Immer schneller lief Bernhard, und Jozsi konnte kaum mit ihm Schritt halten. Da wehte ihnen betäubender Akazienduft entgegen. Sie waren am Ziel. Unter den blühenden Bäumen am Haustor, stand der Vater und winkte: „Nicht du, Jozsi, nur Bernhard soll zu ihr hineingehen.“

      War das die Mutter, seine schöne Mutter? Man hatte ihr eine weiße Haube umgebunden, aus der ihr Gesicht bleich und traurig hervorsah. O, er wollte sie gleich fröhlich machen!

      „Schau, Mutter, die Violin’ hat mir der Baron geschenkt“, flüsterte er und legte seine Geige auf die Bettdecke. Frau Eva’s Hand berührte unversehends die Saiten. Der Klang weckte die fast schon bewußtlose Frau, und auf ihren Lippen erschien ein glückliches Lächeln: „Spiel’ Bernhard, mein Bub, spiel“, sagte sie.

      Bernhard gehorchte. Wie süß die Geige sang! Allen Jubel und alles Leid konnte sie singen. Alle Lieblingslieder der Mutter spielte er, fröhliche und traurige, bis ihm der Vater den Bogen aus der Hand nahm. Denn Eva Bálint war entschlafen.

      Schwer und langsam begriff der Knabe, daß die Mutter tot war. Die Geige lag fortan unberührt im Schrank; traurig hockten die Kinder in der dumpfen Stube.

      Es war etwas Fremdes, Unfaßbares in das Leben Bernhards gekommen. Der Vater, zu dem er bisher wie zu einem mächtigen Beschützer aufgesehen hatte, schien haltlos, schwach und fast weibisch in seinen Schmerzausbrüchen. Um keinen Preis hätte Bernhard vor fremden Leuten Tränen vergossen. Er fühlte, daß er seine Kindheit verloren hatte und nunmehr auf sich allein gestellt war.

      Mitleidige Nachbarinnen hantierten an diesen Tagen im Hause. Sie brachten mehr Unruhe als Ordnung in die Räume. Da erschien eines Morgens Baronin Amadé in Begleitung ihrer Tochter und ihres Vetters Don Carlo Casalanza und verlangte den Cymbalspieler Bálint allein zu sprechen. Furchtsam beäugten die Kinder den hohen Geistlichen, doch als Bernhard ihnen bedeutete, daß dieser ein gnädiger, herablassender Herr sei, rieben Pali und Klein-Regina ihre Näschen an seiner Hand, während Jozsi bloß einen Zipfel der Soutane erwischte, um einen Kuß darauf anzubringen. Dann standen die Kinder geduckt und mäuschenstill vor der geschlossenen Türe, hinter welcher die vornehmen Besucher ein langes Gespräch mit dem Vater führten. Als er herauskam, schien er freudig bewegt. Die Baronin trat an die Wiege seines jüngsten Kindes, hob es aus den Kissen und legte es ihrer Tochter Antonietta in den Arm.

      „Seien Sie unbesorgt, lieber Bálint“, sagte Teresa, „für Ihre kleine Fiorenza werden ich und mein Bruder, Baron Casalanza, der gestern aus Trient angekommen ist, treulich sorgen. Morgen ordnen wir das Materielle beim Notar. Und du, Bernhard, entscheide selbst und überlege, ob du den Fleiß und die Ausdauer in dir fühlst, um am Wiener Konservatorium das Geigenspiel von Grund auf zu erlernen. Die Mittel zum Studium und zu einer bescheidenen Lebenshaltung gebe ich dir. Du könntest schon morgen reisen, wenn du dich dem ehrwürdigen Don Carlo Casalanza anschließen würdest, der unseren Neffen Falco nach Wien begleitet.“

      Bernhard wollte sprechen, aber konnte er die überschwänglichen Dankesbezeugungen seines Vaters überbieten? Als die Besucher sich entfernt hatten, blieb er versonnen neben der leeren Wiege stehen.

      „Vater, weshalb tun sie das alles? Warum nehmen sie Rozsinka fort? Warum?

      „Weil sie wohltätige Menschen sind, mein Sohn.“

      „Nein Vater! Sie tun es, weil der kleine Baron die Schuld hat am Tod unserer Mutter.“

      „Schweig, Bernhard! Wir sind arme Zigeuner ...“

      „Und Rozsinka? Nicht einmal den Namen darf sie tragen, den ihr die Mutter geben wollte. Man hat sie Fiorenza Antonia getauft. Und nirgends wird sie zu Hause sein. Bei den Herrschaften nicht und bei uns auch nicht.“

      „Red’ nicht so! Eine vornehme Dame soll unsere Fiorenza einmal werden. Vielleicht eine reiche Baronesse! Was weiß ich?“

      „Keine Mutter wird sie haben. Kein Vaterhaus. Keine Heimat.“

      Vater Bálint wendete sich ab und kramte umständlich in altem Gerümpel, bis er ein Felleisen fand, das Bernhards Habseligkeiten für die Reise aufnehmen sollte. Aber das Wenige, das er besaß, war schnell untergebracht und füllte das Felleisen kaum zur Hälfte. Dann wurde die Geige aus dem Kasten genommen, in ein seidenes Schultertüchlein gewickelt, das die Mutter Sonntags getragen hatte und wieder sorgfältig, fast ehrfürchtig in den Geigenkasten gelegt.

      Als es Abend wurde, mußte Vater Bálint zur „Krone“ gehen, wo die Zigeuner spielten.

      „Kannst mitkommen“, sagte Bálint zu seinem Sohne. „Ich zahle dir ein Nachtmahl.“

      „Danke schön. Hab keinen Hunger.“

      „Der Zug geht erst um Mitternacht. Was willst du bis dahin anfangen?“

      „Wenn ich zur Bahn gehe, komm ich noch Abschied nehmen.“

      Der große Speisesaal im Hotel „Krone“ war übervoll und der Rauch darin so dicht, daß Bernhard bei seinem Eintritt die Zigeunerkapelle in ihrem Winkel, wie durch einen Schleier sah. Stimmengewirr und Tellergeklapper mischten sich mit den Geigen- und Cymbaltönen. Ein paar weinselige Gäste sangen mit. Die meisten aber nahmen keine Notiz von den Musikanten. Schüchtern versuchte Bernhard bis zu seinem Vater vorzudringen. Kaum hatte dieser seinen Sohn erblickt, so rief er dem Zigeunerprimas etwas zu. Die breite Melodie der Violinen, die Synkopen der Baßgeige verebbten. Der Cymbalspieler Bálint spielte allein.

      Und da wurde plötzlich Stille im Saal. Was war mit dem braven, immer dienernden Zigeuner Bálint los? Wer hatte Solches von ihm je gehört? In den Saiten des Cymbals brauste und tobte es, wie wilder Aufruhr. Scharfe Dissonanzen zischten unter den wirbelnden Hämmern hervor. Der ohnmächtige Zorn eines zertretenen Herzens schien sich zu entladen. Und dann, mit einem Mal, erhob sich aus dem Höllengerassel des mißhandelten Instrumentes eine Liedweise, zitternd und einsam, wie ein Engel im Tal der Verdammnis und weinte über dem Leid der Menschheit.

      Bernhard schob sich immer näher. Die Töne sanken wie segnende Hände auf das Haupt des verwaisten Knaben.

      „Gott mit dir, mein Kind“, sagte Bálint, als er geendet hatte.

      Länger, als er vorhergesehen, war Bernhard in der „Krone“ geblieben, er mußte sich sputen, um den Bahnhof rechtzeitig zu erreichen. Er sah das Gespann der Herrschaft vorfahren und Falco in Begleitung Don Carlo’s und eines hochgewachsenen, vornehmen Mannes aussteigen. Das war wohl Falco’s Vater, der versprochen hatte, für Fiorenca’s Zukunft zu sorgen.

      Ein Kammerdiener trug das Handgebäck, ein jüngerer Bedienter den Proviantkorb in die Bahnhofhalle. Der Schaffner salutierte und verbeugte sich ehrerbietig. Ein Abteil erster Klasse war für die hohen Reisenden reserviert worden. Der Schaffner riß diensteifrig die Coupétüre auf.

      Bernhard war noch nie mit der Eisenbahn gefahren und hielt sich etwas beklommen abseits. Der Kammerdiener hatte ihm eine Fahrkarte dritter Klasse in die Hand gedrückt. Die Wagen dritter und zweiter Klasse waren schon vollbesetzt. Viele Leute reisten jetzt nach Wien zur Weltausstellung, denn der große Börsenkrach dieses Jahres 1873 hatte die Ungarn nur wenig mitgenommen.

      „Einsteigen! Belieben einzusteigen!“ rief eine fette Baßstimme in deutscher und dann in ungarischer Sprache. Bernhard taumelte in einen Wagen hinein, fand aber keinen Sitzplatz. Da hörte er seinen Namen rufen, sprang aus dem Zug und sah, daß ihm Don Carlo aus einem Wagenfenster mit einem großen Schnupftuch winkte.

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