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Hauptbahnhof bei der Gepäckaufbewahrung abgegeben.

      Zu den wenigen, die Adeles Witze dieser Art schätzen können, gehört ihre beste Freundin Kandida Goytia, die ich bisher immer verpasst habe, wenn sie aus Kolumbien kommend natürlich im »Bogota« abgestiegen ist.

      Kandida ist der einzige Mensch, von dem Adele nicht »in Ausdrücken«, sondern schwärmerisch und auf hochdeutsch redet. Das geschieht zwar nicht oft, aber es fällt mir auf, weil Adele, außer dass sie sich eher selten unnachahmlich schräg über ihre Kundschaft äußern kann, von den Leuten nie denunzierend, aber auch nicht gerade warmherzig redet.

      Wenn wir aber mal auf meine immerhin fünfundzwanzigprozentige armenische Abstammung kommen, dann berlinert sie stärker als sonst und ihre Witze werden gröber, aber sie kommen ihr aus dem Herzen.

      3

      Von Jerewan nach Pankow

      Mein Name Micah Macrobius ist durch und durch armenisch, außer in seinen beiden lateinisch abgetarnten »c« und seinem Suffix. Aber das wollten Mutter und Großmutter so. Ein Ambrosius Macrobius war nämlich im 5. Jahrhundert Oberstadtkämmerer von Konstantinopel gewesen. Man darf ihn nicht verwechseln mit dem dann im Mittelalter berühmt gewesenen Schriftsteller Ambrosius Macrobius, der die »Saturnalia« geschrieben hat und nach dem heute ein großer Krater nahe dem Mare Crisium auf dem Mond benannt ist. Mit sechzehn Jahren hatte jedenfalls der Konstantinopler Ambrosius Macrobius ein Kind gezeugt, bevor er zwecks byzantinischer Beamtenlaufbahn kastriert wurde. Ohne dieses Kind würde ich selber, 1500 Jahre später, nicht existieren. Ambrosius Macrobius stammte aus Armenien, das ungefähr das Alter vom Berg Ararat hat und an einer sehr seltenen Erschöpfungskrankheit leidet, nämlich rein gar nichts vergessen zu können.

      Armenien hat, sagen manche Armenier, vor allem zwei Fehler: ein viel zu tiefes und langes Gedächtnis und die schönsten Frauen von der Welt mit leider oft zu kurzen Beinen.

      Ohne das Armenische könnten weder Jans Geschichte noch meine verständlich werden. Meinen armenischen Stammbaum zu rekonstruieren schien bei der katastrophalen Geschichte der Armenier völlig unmöglich zu sein – ich hatte das schon mal in den neunziger Jahren versucht und bin dann doch lieber bloß Detektiv geworden, eine an sich sehr harmlose Variante des Spitzels. Das muss mir ein bisschen im armenischen Blut gelegen haben. Der unenträtselbar böse Georgier Stalin hat 1949 alle Exil-Armenier aufgerufen, heimzukommen, um diese jahrtausendelang eigenwillige Brut in seinem Reich zu haben zur Entschärfung ihres Geistes und zu ihrer Dezimierung zu einer nationalen Minderheit unter der Sollgrenze zu einer Sowjetrepublik. Hunderttausende waren daraufhin aus aller Welt aufgebrochen, auch aus Griechenland, darunter eine gewisse Familie Makrobyan mit einem vierzehnjährigen Sohn namens Archag. Man trennte im grauen Hafen von Batumi Frauen und Kinder von den Männern, wovon die meisten für immer nach Sibirien verschwanden, aber die so eingefangenen Kinder versuchte man in der Folge, und oft mit guter Aussicht, zu Spitzeln und Spionen zu erziehen.

      Archag landete in der Aserbaidshanischen Sowjetrepublik, in der grauenerregenden und nichtsdestotrotz wunderschönen Stadt Shusha, heute das armenische Shushi in Nagorny Karabach. Ab 1950 studierte er dann in Armenien selbst, nämlich Hydrotechnik in Jerewan, wo es schon zu jener Zeit weltberühmte Fakultäten und Institute für das Buchwesen und für Mathematik und Astronomie gab. Dort lernte er meine Großmutter Gerti Netzeband kennen, die schon mit sechzehn im Jahr 1950 als vielversprechendes Mathematiktalent aus Oderberg im Kreis Eberswalde nach Jerewan zum Studium verschickt worden war. Dort geriet sie schließlich an Archag, der sie im Sturm eroberte und nach vielem Hin und Her mit den Behörden auch heiraten durfte. Die Ehe scheint unter keinem guten Stern gestanden zu haben, schon weil sich Archag bald nicht nur als außergewöhnlich eifersüchtig, sondern überhaupt als sehr rach- und herrschsüchtig herausgestellt haben soll, besonders gegen die deutschen Kriegsverbrecher. Das und vielleicht auch das doch nicht so große Mathematiktalent meiner Großmutter waren wohl der Anlass, dass sie das Studium abbrechen musste. Außerdem kam 1951 meine Mutter Micaela zur Welt, und zwar kurzentschlossen, nämlich in einem ehemaligen türkischen Bad in Shushi unter glücklicher Mithilfe eines anderen Mannes.

      Archag soll außer sich gewesen sein und Gertie sogar im Kindbett geschlagen haben. Das sei Omas Glück gewesen, denn einer Scheidung habe nichts entgegengestanden, weil diese Schläge angesichts eines dann gerichtlich protokollierten Zeugen, eines aserbaidshanischen Sowjetbürgers, geschehen waren.

      Gertie wurde dann Rechenlehrerin an einer Grundschule in Bernau und konnte dort mit ihren armenischen Mathematikkünsten punkten. Oma Gertie ließ unseren Hinternamen für nicht wenig Geld amtlich von Makrobyan in Macrobius zurückverwandeln und hatte es somit geschafft, ihrem aufdringlichen Ex weit bis in das 5. Jahrhundert hinab zu entfliehen. Micaela, nun ganz in den Händen einer alleinerziehenden Lehrerin, wollte als Kind immer zum Vater. Später begnügte sie sich mit anderen Männern. Sie wurde schließlich Kellnerin in Berlin-Pankow.

      Ich wurde 1969 als Blumenkind geboren. Micaela hat sich von mir den Wurm, der mich gezeugt hat, nie aus der Nase ziehen lassen – vermutlich kamen gleich ein paar solcher Würmer in Frage.

      Ich habe also gar keinen Vater, nur einen Großvater in Nagorny Karabach – und den konnte mir Micaela nicht auch noch so madig machen, wie es meine Großmutter Gertie heute noch zu tun beliebt.

      Immerhin hatte ich wenigstens eine Reihe von Ersatzvätern gehabt. Ich habe sie alle ausgenutzt, schließlich brauchten die mich, um sich bei Micaela einzukratzen – ich hatte schon eine ziemlich scharfe und mich oft nervende Mutti.

      Seit sie tot ist, fehlt sie mir hin und wieder sogar sehr. Sie wurde 1990 in unserer Wohnung anscheinend von einem ihrer Lover erschlagen oder war bei einer handfesten Auseinandersetzung unglücklich gestürzt und sterbend alleingelassen worden.

      Da war ich gerade bei Tante Lilo bei der Kirschernte in Odra Gora, also in Oderberg, gewesen und habe anschließend auf eigene Faust versucht, den Täter zu finden und zu überführen. Das war mir anscheinend auch gleich in einer Kneipe auf dem Prenzlauer Berg gelungen. Der Kerl ging sogar mit mir Würstchen zum ABV, aber ausgerechnet die Polizei war aus Versehen auf Beweise dafür gestoßen, dass er diese sogenannte fahrlässige Tötung gar nicht begangen haben konnte. Wie auch immer: Meinen »ersten Fall« hatte ich mit Bravour gelöst. Mir ist bei dieser Gelegenheit schon klargeworden, was mir von Anfang an im Blut lag: Ich liebte es, Welt und Leute auszukundschaften und dabei, wenn es sein musste, so weit wie möglich zu gehen. Ich liebe noch die schlechteste Wirklichkeit, selbst die virtuelle. Meine Lieblingsbeschäftigung an PC und iPad ist das Mappen, etwa die Spree von ihren Quellen bis an ihre Mündung entlangzufahren oder mir mit Streetview schon mal anzuschauen, wo ich hin muss in einer Stadt. Ich bin wahrlich eine Art Bartenwal, der weit umherschwimmen muss, um seinen Krill zu kriegen.

      Aber genau deswegen war ich auf Hilfe und guten Willen angewiesen, nicht täglich, aber in wichtigen Augenblicken schon. Den Kerl mit Schnauzbart auf dem Pferd im Kaukasus, meinen Großvater, habe ich mir niemals ausgeredet, weil ich ihn als Kind als meinen stärksten, wenn auch abwesenden Beschützer verstand. Hat er mir damals geholfen? Ganz bestimmt, denn ich wollte es einfach so, und auch deshalb wohl konnte ich mir meistens selber helfen.

      Auf die vielen Briefe, die ich Opa Archag jahrelang aus meinem Heim bei Berlin geschrieben hatte, hat er nie geantwortet. Mann, Opa! Vor einigen Jahren habe ich das Briefeschreiben an meinen Großvater schließlich ganz bleiben lassen.

      Einmal aber hatte ich doch noch eine unstillbare armenische Sehnsucht bekommen.

      Ich hatte 1994 eine Freundin namens Katharina Wink, eine Berliner Jungautorin, die ein Stipendium in Wiepersdorf genussvoll verzehrte. Als ich sie das erste Mal besuchte, kam ich zunächst an den Ateliers links des Parks vorbei und sah in einer besonders ausgestatteten Wohnung dort einen kühnen Maestro mit weißer Nackenmähne. Er war gerade dabei, auf einem Piedestal mit sorgsam gerichtetem Spitzendeckchen neben dem Flügel etwas Schweres vorsichtig aufzustellen. Ich sah noch, wie der Maestro zurücktrat mit kritisch zurückgeneigtem Kopf. Er hatte eine Büste platziert. Es war seine eigene.

      »Ach, Avet!«, lachte meine völlig unehrfurchtsvolle Freundin Katja, als ich auf den Maestro zu sprechen kam. »Der ist okay. Richard Wagner könnte sich von dem noch ne Scheibe abschneiden.

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