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Mit einer fahrigen Handbewegung strich sie ihr langes dunkelblondes Haar zurück. »Meine Krankheiten machen mir alle solche Angst… Meine Mutter sagt oft, ich sollte mich nicht so anstellen.« Sie seufzte. »Mama hat es nicht leicht mit mir. Seit mehr als zehn Jahren bin ich öfter in Krankenhäusern als zu Hause, und da sagt sie eben oft auch Dinge, die sie gar nicht so meint. Im Grunde kümmert sie sich rührend um mich.«

      »Sie wohnen also noch immer zu Hause«, stellte Dr. Daniel fest.

      Svenja nickte, dann errötete sie ein wenig. »Ich weiß, für eine Frau in meinem Alter ist das ungewöhnlich. Immerhin werde ich bald einunddreißig, aber… nun ja, durch meine Atembeschwerden… mein Herz spielt manchmal auch verrückt. Ständig bekomme ich Herzrasen und so ein seltsames Stechen.«

      Dr. Daniel nickte. »Wir werden Sie hier in der Klinik gründlich untersuchen, wenn Sie das möchten.«

      »O ja, das würde mich sehr beruhigen«, erwiderte Svenja rasch, dann senkte sie wieder den Kopf. »Anfangs hat mich Dr. Breuer auch immer ganz gründlich untersucht, aber in den vergangenen Jahren nicht mehr.« Sie schwieg kurz. »Ich glaube, er hat meinen Zustand nicht mehr ganz ernst genommen.«

      »So dürfen Sie das nicht sehen«, meinte Dr. Daniel. »Im Kreiskrankenhaus herrscht eben sehr viel mehr Betrieb als hier bei uns. Die Waldsee-Klinik verfügt nur über zwei Abteilungen, da können wir uns für unsere Patienten viel mehr Zeit nehmen.« Er stand auf. »So, und jetzt sehe ich mir erst mal an, was Ihnen solche Beschwerden bereitet.«

      Svenja nickte, doch um ihre Mundwinkel begann es plötzlich zu zucken. »Muß ich gleich auf diesen schrecklichen Stuhl?«

      Dr. Daniel schüttelte den Kopf. »Nein, Frau Birkert, diese erste Untersuchung kann ich auch hier im Bett durchführen.« Er stellte das Kopfteil nach unten, so daß Svenja ganz gerade lag. »Die Beine bitte anwinkeln und dann ganz locker ein wenig auseinanderfallen lassen.« Er lächelte sie aufmunternd an. »Keine Sorge, ich werde sehr vorsichtig sein.«

      Die Untersuchung im Bett gestaltete sich schwierig, und normalerweise hätte Dr. Daniel sie hier auch gar nicht durchgeführt, doch bei Svenja rechnete er mit keinem krankhaften Befund. Es war ihm daher wichtiger, der Patientin Sicherheit und Geborgenheit zu vermitteln. Eine etwas gründlichere Untersuchung konnte er auch noch zu einem späteren Zeitpunkt durchführen.

      »Und? Haben Sie etwas gefunden?« fragte Svenja ängstlich.

      »Nein, Frau Birkert«, antwortete Dr. Daniel. »Aber wie gesagt – wir werden Sie hier noch ganz gründlich untersuchen, doch noch nicht heute.« Er lächelte Svenja an. »Zuerst einmal sollten Sie sich hier ein wenig heimisch fühlen.«

      »Ich glaube, das wird nicht lange dauern«, meinte Svenja und sah sich in dem fast gemütlich anmutenden Zimmer um. »Irgendwie hat man hier gar nicht das Gefühl, als wäre man in einem Krankenhaus.«

      Dr. Daniel lächelte. »Das kommt Ihnen nur hier in der Gynäkologie so vor. Drüben in der Chirurgie tritt der Krankenhauscharakter sehr viel deutlicher zutage. Aber da hinüber müssen Sie nur für einige der anstehenden Untersuchungen.«

      Spontan griff Svenja nach seiner Hand und drückte sie voller Innigkeit. »Ich bin so froh, daß Dr. Breuer mich zu Ihnen geschickt hat. Ich habe das Gefühl, als könnte ich hier ganz gesund werden.«

      *

      Dr. Daniel war an diesem Nachmittag gerade in seiner Praxis, als seine Sprechstundenhilfe Frau Birkert anmeldete.

      »Wie bitte?« fragte Dr. Daniel verblüfft. »Das kann doch gar nicht…« Dann fiel ihm ein, daß Svenja von ihrer Mutter gesprochen hatte. »Bringen Sie die Dame bitte herein.«

      Dr. Daniel erschrak ein wenig, als er die verhärmte Frau sah, die sicher nicht viel älter als

      fünfzig sein konnte.

      »Der Chefarzt des Kreiskrankenhauses hat mich angerufen und gesagt, Svenja wäre jetzt bei Ihnen«, erklärte sie. Ihre Stimme klang leise und schleppend, wie bei einer sehr alten, kranken Frau und paßte genau zu ihrem Erscheinungsbild.

      »Das ist richtig, Frau Birkert«, antwortete Dr. Daniel, dann wies er auf einen der beiden Sessel, die vor seinem Schreibtisch standen. »Bitte, nehmen Sie Platz.«

      Mit langsamen, müden Bewegungen kam Mathilde Birkert seiner Aufforderung nach. Die ständige Sorge um ihre einzige Tochter hatte ihr mit den Jahren alle Kraft geraubt.

      »Ich bin sehr froh, daß ich Gelegenheit habe, mich mit Ihnen zu unterhalten, bevor wir mit den Untersuchungen bei Ihrer Tochter beginnen«, eröffnete Dr. Daniel das Gespräch.

      Mathilde runzelte die Stirn. »Untersuchungen?« Sie schüttelte den Kopf. »Das wird nicht nötig sein, Herr Doktor. Chefarzt Breuer hat mir gesagt, daß Svenja sich alles nur einbildet.« Aus ängstlichen Augen sah sie Dr. Daniel an. »Seien Sie ehrlich, Herr Doktor, diese Waldsee-Klinik… ist das ein Irrenhaus? Wird Svenja jetzt etwa allmählich verrückt?«

      »Nein, Frau Birkert, davon kann überhaupt keine Rede sein«, entgegnete Dr. Daniel entschieden. »Im übrigen ist die Waldsee-Klinik keine psychiatrische Anstalt, sondern ein ganz normales Krankenhaus.« Er lä-chelte. »Nun ja, vielleicht doch nicht ganz normal. Es ist eine verhältsnismäßig kleine Klinik, nicht vergleichbar mit dem Kreiskrankenhaus, aber das war ja von Anfang an der Sinn der Sache. Die Waldsee-Klinik verfügt nur über eine Chirurgie und eine Gynäkologie. Das hat den Vorteil, daß wir uns hier ganz besonders intensiv um unsere Patienten kümmern können. Deshalb hat Dr. Breuer Ihre Tochter zu uns überwiesen.« Er schwieg einen Moment. »Ich nehme an, Sie wissen, daß Ihre Tochter schwere psychische Probleme hat.«

      Mathilde nickte niedergeschlagen. »Sie war einmal eine Primaballerina… nein, mehr als das – sie war die Primaballeri-

      na schlechthin. Damals war sie fünfzehn, und die Ballettmeisterin sagte immer, Svenja wäre noch längst nicht am Höhepunkt ihrer Karriere angelangt. Drei Jahre tanzte sie sich in die Herzen des Publikums… sie war der gefeierte Star… an allen großen Bühnen der Welt zu Hause…« Mathilde nestelte ihr Taschentuch hervor und betupfte sich Augen und Nase. »Bei einer Probe stürzte sie unglücklich und brach sich das Fußgelenk. Seitdem ist sie ein anderer Mensch geworden.«

      Dr. Daniel war tief erschüttert. Jetzt begriff er, weshalb sich Svenja ständig in irgendwelche Krankheiten flüchtete. Sie lief vor dem Leben davon… vor einem Leben, in dem sie einst ein Star gewesen und jetzt völlig vergessen war.

      »Ich werde versuchen, Ihrer Tochter zu helfen«, versprach Dr. Daniel, doch Mathilde schüttelte resigniert den Kopf.

      »Das hat Dr. Breuer vor mehr als zehn Jahren auch gesagt«, entgegnete sie leise. »Anfangs hat er sich auch sehr bemüht, hat einen jungen Psychiater mit ihrem Fall betraut, doch alles war zwecklos. In den letzten Jahren blieb Svenja nur noch tageweise im Krankenhaus, dann wurde sie wieder entlassen. Und ein paar Wochen später wurde sie mit dem Krankenwagen erneut eingeliefert, weil sie behauptete, keine Luft zu bekommen, oder weil ihr Herz verrückt spielte. Kopfschmerzen, Magenschmerzen, Nierenkoliken… es gibt nichts, was meine Tochter angeblich nicht gehabt hätte.« Mit einer müden Handbewegung wischte sie sich über die Stirn. »Sie werden auch bald aufgeben, Herr Doktor. Meiner Tochter kann niemand helfen… es sei denn, sie könnte wieder das tun, woran ihr ganzes Herz hängt: Tanzen.«

      »Das Leben besteht nicht nur aus Tanzen«, erwiderte Dr. Daniel ernst. »Es gibt vieles, wofür es sich zu leben lohnt, und ich werde versuchen, das auch Ihrer Tochter nahezubringen.« Er stand auf, kam um seinen Schreibtisch herum und griff nach Mathildes Hand. »Ich gebe nicht so schnell auf, Frau Birkert.«

      Mathilde hob den Blick und sah in die gütigen blauen Augen des Arztes. Hoffnung keimte in ihr auf.

      »Sie wollen es wirklich versuchen?« flüsterte sie.

      Dr. Daniel nickte. »Vor uns liegt sicher ein weiter und manchmal wohl auch beschwerlicher Weg, aber ich werde al-

      les tun, um Ihrer Tochter die

      Lebensfreude zurückzugeben. Wenn mir das gelingt, werden auch ihre Krankheiten

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