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bin zwar der jüngere von uns beiden, aber ich bin nicht dumm«, antwortete der Bruder. »Ich weiß, daß du mich haßt, seit ich geboren wurde, und eigentlich müßte es dir jetzt sogar guttun, mich so leiden zu sehen.« Er schwieg einen Moment, dann senkte er den Kopf. »Ich dachte immer, ich könnte es irgendwie wettmachen. Ich dachte, wenn ich dich lieben würde, dann… dann müßte von dir irgendwann etwas zurückkommen, aber das war leider ein Irrtum.« Er blickte wieder auf. »Du haßt mich noch immer, und es wird sich niemals ändern.«

      Tobias’ Herz krampfte sich bei diesen Worten schmerzhaft zusammen, und Tränen würgten ihn im Hals.

      »Nein, Patrick… nein«, stammelte er leise. »Ich hasse dich ja gar nicht, und… und es quält mich sogar ganz schrecklich, dich so leiden zu sehen.«

      Jetzt muß ich ihm die Wahrheit sagen, dachte er. Ich kann nicht länger mit dieser Lüge leben. Patrick muß erfahren, was ich getan habe – auch auf die Gefahr hin, daß ich ihn dann für immer verliere.

      »Was ist denn mit euch los?«

      Mareikes Stimme fiel mitten in diese brisante Situation hinein und machte Tobias’ Vorsatz zunichte.

      »Nichts«, antwortete Patrick. »Wir haben nur etwas geklärt.« Er sah Tobias an. »Mag sein, daß du dir wirklich Sorgen um mich machst, aber es ist unnötig. Wenn ich hinter dem Steuer sitze, gibt es für mich nur noch meinen Bus – sonst nichts.«

      Er machte auf dem Absatz kehrt und ging auf die große Garage zu. Unwillkürlich machte Tobias einen Schritt nach vorn.

      »Patrick!«

      Doch sein Bruder hörte nicht. Er stieg in den Bus, ließ den Motor an und fuhr langsam aus der Einfahrt.

      »Sag mal, Tobias, was ist eigentlich mit dir los?« wollte Mareike aufgebracht wissen. »Entdeckst du plötzlich brüderliche Gefühle?«

      »Ja«, fuhr Tobias sie an. »Du wirst es nicht glauben, aber genauso ist es!« Sein Blick ging in die Richtung, wo Patricks Bus verschwunden war. »Wenn ihm etwas zustößt, dann werde ich meines Lebens nicht mehr froh.«

      »Tobias, wenn du mit dem Gedanken spielen solltest…«, begann Mareike, doch Tobias beachtete sie nicht. Er betrat das Büro und schloß die Tür sehr nachdrücklich hinter sich. Das Gespräch mit Patrick hatte ihm nur allzu deutlich gezeigt, welchen Weg er jetzt zu gehen hat-te.

      Gerade als er nach dem Hörer greifen wollte, um Sabrina anzurufen, klingelte das Telefon.

      »Busunternehmen Scholz«, meldete sich Tobias.

      »Hier ist Dr. Daniel aus Steinhausen«, gab sich der Anrufer zu erkennen.

      Unwillkürlich hielt Tobias den Atem an. Er hatte lediglich ge-hört, daß ein Doktor am Telefon war, und das konnte für ihn in diesem Moment nur eines bedeuten.

      »Ist Patrick etwas passiert?«

      »Patrick?« wiederholte Dr. Daniel erstaunt. »Ja… ist er denn wieder bei Ihnen aufgetaucht?«

      Tobias’ Gedanken fuhren Karussell. Er hatte keine Ahnung, wer dieser Arzt war, mit dem er da telefonierte. Nur eines wußte er mit absoluter Sicherheit – er mußte aus diesem schrecklichen Teufelskreis heraus!

      »Patrick ist mit dem Bus unterwegs«, stieß er hervor. »Ich habe Angst um ihn… er ist doch völlig durcheinander wegen Sabrina… wenn ihm nun etwas passiert…«

      »Beruhigen Sie sich, Herr Scholz«, bat Dr. Daniel, und seine tiefe, warme Stimme zeigte sogar am Telefon Wirkung.

      Es gelang Tobias, wieder ein wenig Ordnung in seine Gedanken zu bringen.

      »Wer sind Sie?« konnte er endlich fragen.

      »Dr. Robert Daniel. Ich bin Gynäkologe in Seinhausen bei München. Sabrina war heute bei mir, und ich habe ihr angeboten, Sie zu benachrichtigen, weil sie ins Krankenhaus mußte.«

      Tobias erschrak zutiefst. »Meine Güte, was ist denn mit ihr?«

      »Nichts, worüber Sie sich große Sorgen machen müßten. Sie erwartet ein Baby, aber ich nehme an, das hat Sie Ihnen schon gesagt.«

      Sekundenlang schloß Tobias die Augen. Sabrina erwartete ein Baby… von Patrick!

      »Nein«, stammelte er. »Nein, ich… das ist das erste, was ich darüber höre.« Mit einer fahrigen Handbewegung strich er durch sein dichtes Haar. »O Gott, was haben wir nur getan, Herr Doktor, bitte, sagen Sie Sabrina, daß ich alles in Ordnung bringen werde. Ich… ich bringe alles wieder in Ordnung, das schwöre ich.«

      »Herr Scholz!« rief Dr. Daniel noch, aber da hatte Tobias schon aufgelegt.

      Völlig zusammengesunken saß er an seinem Schreibtisch. Er konnte sich nicht mehr erinnern, wann er das letzte Mal gebetet hatte, doch jetzt flüsterte er Worte vor sich hin, die direkt aus seinem Herzen kamen.

      »Bitte, laß nicht zu, daß Patrick etwas passiert. Ich flehe dich an, laß ihn gesund nach Hause kommen. Ich habe so viel angerichtet – ich will nicht auch noch an diesem Unglück schuld sein.«

      *

      Dr. Daniel begriff nicht so recht, was da gerade vorgefallen war. Der junge Mann war ja völlig durcheinander gewesen.

      »Warum ist Köln nur so weit von München entfernt?« murmelte er, dann stand er auf. Er würde am späten Nachmittag noch einmal bei Tobias Scholz anrufen. Vielleicht würde es dann möglich sein, ein verständlicheres Gespräch mit ihm zu führen.

      Ein rascher Blick zur Uhr zeigte ihm, daß er für seinen täglichen Besuch in der Waldsee-Klinik schon reichlich spät dran war. In einer Stunde würde bereits die Nachmittagssprechstunde beginnen. Das bedeutete, daß er nur ganz kurz nach Sabrina sehen konnte und sich dann um Natalie kümmern mußte. Ihr Zustand war noch immer äußerst bedenklich, und dabei packte Dr. Daniel erneut große Wut auf Dr. Kreutzer – vor allem, weil es so aussah, als würde dieser gewissenlose Arzt ungeschoren davonkommen.

      Noch immer sehr blaß, aber wenigstens nicht mehr völlig apathisch wie in den beiden vergangenen Wochen, lag Natalie Meinhardt im Bett und starrte blicklos vor sich hin, doch bei Dr. Daniels Eintreten wandte sie den Kopf ihm zu.

      »Wie fühlen Sie sich heute?« fragte der Arzt, und aus seiner Stimme klang echte Besorgnis.

      Natalie antwortete mit einer Gegenfrage. »Warum bin ich denn nicht gleich bei Ihnen gelandet? Dann wäre mir das alles bestimmt erspart geblieben.« Ihre Augen brannten, doch es wollten keine Tränen mehr kommen. Sie hatte in letzter Zeit schon zuviel geweint. »Ich hätte nie auf meine Schwester hören sollen.«

      Spontan setzte sich Dr. Daniel auf die Bettkante und griff nach ihrer Hand. »Machen Sie sich keine Vorwürfe, Fräulein Meinhardt. Das nutzt jetzt alles nichts mehr. Sie können nur versuchen, das Beste aus dieser unerfreulichen Situation zu machen, und zumindest eines verspreche ich Ihnen – ich werde Dr. Kreutzer zur Verantwortung ziehen, wenn es irgendwie möglich ist.«

      Natalie nickte traurig. Das war für sie nur ein schwacher Trost.

      »Ich werde nie ein Baby haben können«, flüsterte sie mit erstickter Stimme, dann winkte sie ab. »Im Moment steht das aber ja sowieso nicht zur Debatte.« Sie seufzte. »Mein ganzes Leben ist grau und trostlos geworden.«

      »Es wird ganz bestimmt wieder anders werden, Fräulein Meinardt«, meinte Dr. Daniel. »Auch wenn Sie mir das jetzt noch nicht glauben können.« Er schwieg kurz. »Wie vertragen Sie die Tabletten, die Sie hier bekommen?«

      »Bis jetzt ganz gut«, antwortete sie, dann sah sie Dr. Daniel an. »Die muß ich jetzt ein Leben lang nehmen, nicht wahr?«

      Dr. Daniel nickte. »Ihr Körper muß mit den Hormonen versorgt werden, die normalerweise von den Eierstöcken produziert werden.« Er griff nach ihrer Hand und drückte sie sanft. »Ich will nichts beschönigen, Fräulein Meinhardt. Sie haben jetzt einen beschwerlichen Weg vor sich – vor allem, was die psychische Situation betrifft. Es werden sicher noch einige Tiefs auf Sie zukommen, aber

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