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Ihren Mann hintergangen, wenn es auch aus unglücklichen Umständen heraus geschehen ist, aber ich bin sicher, daß er es verstehen wird, wenn er erst die ganze Geschichte erfahren hat. Eine weitere Lüge jedoch…«

      »Er würde es doch nie erfahren«, warf Melanie dazwischen, und Dr. Daniel hörte die Verzweiflung aus ihrer Stimme heraus – Verzweiflung und auch Angst.

      »Das mag schon sein, aber die Möglichkeit, daß Sie später einmal versehentlich die Wahrheit sagen, ist immer gegeben. Wollen Sie ein solches Risiko wirklich eingehen?«

      Melanie bedeckte ihr Gesicht mit beiden Händen. »Ich weiß es nicht. Ich weiß nur eines: Ich will Kalle nicht mehr verlieren. Ich brauche ihn, und um ihn zu behalten, würde ich beinahe alles tun.«

      Dr. Daniel betrachtete sie eine Weile, dann berührte er ihren Arm. »Lassen Sie sich Zeit, Frau Probst. Ich werde mit Ihrem Mann sprechen und ihm klarmachen, daß das von Ihnen gewünschte Alleinsein nichts mit mangelnder Liebe zu tun hat. Denken Sie über alles, worüber wir gesprochen haben, gründlich nach. Hier in der Klinik haben Sie die nötige Ruhe und die Gewißheit, daß Sie nicht gestört werden. Und wenn Sie zu einem Entschluß gefunden haben, werde ich Ihnen beistehen, soweit es in meiner Macht steht.«

      Aufmerksam sah Melanie ihn an. »Gleichgültig, wie ich mich entscheide?«

      Dr. Daniel nickte ohne zu zögern. »Was und wieviel Sie Ihrem Mann sagen, liegt allein bei Ihnen. Ich habe Ihnen zur Wahrheit geraten, weil ich, wenn ich mich in die Lage Ihres Mannes versetze, die Wahrheit, so schmerzlich sie ist, eher verzeihen könnte als eine weitere Lüge, wenn sie denn doch herauskäme. Was Sie letztlich tun, ist Ihre Sache, aber das bedeutet nicht, daß ich Ihnen meinen Beistand versagen werde, wenn Sie meinen Rat nicht befolgen. Entscheiden Sie sich ganz frei. Sie haben dafür soviel Zeit, wie Sie brauchen.«

      Da griff Melanie nach seiner Hand und drückte sie voller Dankbarkeit.

      »Jetzt kann ich verstehen, weshalb Manuela immer so von Ihnen geschwärmt hat. Sie sind ein wundervoller Mensch.«

      *

      Die Fahrt von Nizza nach Rom endete für Tobias Scholz und seine Reisegesellschaft mit einer Tragödie. Zum ersten Mal während dieser bisher traumhaft schönen Reise regnete es in Strömen. Die Straße war naß und glitschig, doch Tobias war sich der Gefahren, die hier drohten, voll bewußt und paßte seine Geschwindigkeit den ungünstigen Straßenverhältnissen an.

      »Durch die starken Regenfälle wird sich die Ankunft in Rom ein wenig verzögern«, gab die junge Reisebegleiterin über das Mikrophon bekannt. »Wir werden voraussichtlich noch einmal übernachten müssen und dann erst morgen im Laufe des Tages Rom erreichen.«

      Doch sie erreichten es nicht. Der Erdrutsch kam schnell und unerwartet. Innerhalb von Sekunden verwandelten sich schlammige Erde, Steine und Geröll in eine tödliche Lawine, die alles, was sich auf der Straße befand, mit sich riß. Wie Spielzeugautos wurden der Bus, etliche Autos, Wohnwagen und ein riesiger Sattelschlepper weggefegt und unter Bergen von gerölldurchsetzter Erde begraben.

      Gellende Schreie drangen durch den Bus, als er wie ein willkürlich geworfener Ball den Abhang hinunterrollte. Dann blieb er mit einem letzten, entsetzlich knirschenden Geräusch auf der Seite liegen. Nasse Erde, Steine und kleine Felsbrocken drückten sich durch die zerbrochenen Scheiben und vermischten sich mit den Glasscherben zu einer gefährlichen Masse. Die Schreie waren für wenige Augenblicke tödlicher Stille gewichen, dann hörte man schmerzvolles Jammers und Stöhnen, ein kleines Kind begann zu weinen und nach seiner Mama zu rufen.

      Natalie war halb unter den Sitz gerutscht und dadurch verhältnismäßig unversehrt geblieben, wenn man von einer kleinen Platzwunde am Kopf und aufgeschürften Armen und Beinen absah.

      »Tobias!« Ihr angstvoller Schrei vermischte sich mit dem Jammern und Klagen anderer Verletzter, doch Tobias’ Stimme war nicht darunter.

      Auf allen vieren kroch Natalie über Geröll und nasse Erde. Ein paar der herausragenden Glassplitter bohrten sich in ihre Knie und Hände, doch Natalie spürte es gar nicht. Ihre Angst um Tobias war viel größer. Dann sah sie ihn. Er war zwischen Fahrersitz und Armaturenbrett hilflos eingeklemmt und bewegte sich nicht.

      Eine eisige Angst griff Natalie ans Herz.

      »Tobias.« Sie flüsterte es nur noch und wagte gar nicht daran zu denken, daß er tot sein könnte. Mit zitternden Händen berührte sie ihn. Er stöhnte leise auf, dann öffnete er die Augen.

      »Natalie.« Es kostete ihn große Mühe zu sprechen. Sein Atem kam röchelnd, und mit Entsetzen sah Natalie, daß ein dünner Blutfaden aus seinem rechten Ohr lief. Auch aus Nase und Mund blutete er. Verzweifelt versuchte sich Natalie an den Erste-Hilfe-Kurs zu erinnern, den sie vor noch nicht einmal zwei Jahren besucht hatte, doch in ihrem Kopf herrschte nur gähnende Leere.

      Das Jammern und Schreien der anderen Reisenden drang an Natalies Ohr und auch das Weinen des kleinen Kindes.

      »Mami!« rief es immer wieder. »Mami!«

      Doch nicht nur im Innern des Busses herrschte Tumult, auch von draußen drangen Schreie und andere Geräusche herein, die Natalie nicht zu deuten wußte.

      Mit lautem Krachen gab ein weiteres Fenster dem Druck von Erde und Geröll nach. Eine schlammige Lawine ergoß sich in den Bus, was zu erneuten Hilfeschreien führte.

      Dann tauchte ein Gesicht in dem kaputten Fenster auf und brüllte einen Schwall italienischer Worte herein, die niemand verstand. Die Reisebegleiterin war nirgends zu sehen. Vermutlich war sie wie viele andere unter der nassen Erde oder herausgerissenen Sitzen begraben.

      »Hilfe!« schrie Natalie.

      »Uno momento!« rief der Italiener und fügte dann in stark akzentuiertem Deutsch hinzu: »Hilfe ist unterwegs.«

      Er hatte nicht zuviel versprochen. Es dauerte nur wenige Minuten, bis der Bus soweit von Schlamm und Steinen befreit war, daß der Sanitäter hereinsteigen und sich einen ersten Überblick über die Verletzten verschaffen konnte. Die Reisebegleiterin und etliche Frauen und Männer, die auf der rechten Seite des Busses gesessen hatten, wurden schwerverletzt aus den Trümmern geborgen, während sich vier Feuerwehrmänner um den eingeklemmten Tobias bemühten.

      Das Kind weinte nicht mehr. Nur ein schwaches Wimmern drang noch an Natalies Ohr. Sie wußte, daß sie für Tobias nichts tun konnte. Ihm nützte es nichts, wenn sie daneben auf dem Boden kauerte. Dabei war sie den Hilfskräften sogar eher im Weg.

      »Signora«, wurde sie angesprochen, doch sie schüttelte den Kopf und versuchte zu dem Kind vorzudringen. Sie erinnerte sich an die Kleine, die mit Vater und Mutter diese Reise gemacht hatte.

      »Patricia!« rief Natalie, als ihr der Name der Zweijährigen einfiel. Die gesamte Reisegesellschaft hatte die Kleine mit dem sonnigen Wesen ins Herz geschlossen, und daß sich Natalie immer ein wenig zurückgehalten hatte, lag nur daran, daß Patricia genau das Kind war, das sie selbst sich immer gewünscht hatte. Natalie hatte keine Wunden aufreißen wollen, die ohnehin noch nicht völlig verheilt waren, doch jetzt galten andere Voraussetzungen. Noch konnte niemand wissen, was mit Patricias Eltern geschehen war.

      »Patricia!« rief Natalie noch einmal.

      »Mami«, erklang das jetzt schwache Stimmchen.

      Im selben Moment sah Natalie die Kleine zwischen Steinen und Felsbrocken am Boden liegen. Ein Sitz war aus der Verankerung gerissen worden und lag so über dem Kind, daß es von der nachrutschenden Erde nicht hatte erreicht werden können. Wäre der Sitz nicht gekippt, so hätte die nasse, schlammige Erde das Mädchen unter sich begraben und unweigerlich erstickt.

      Vorsichtig zog Natalie die Kleine aus ihrem unbequemen Gefängnis.

      »Mami«, schluchzte Patricia, während sie ihre Ärmchen fest um Natalies Nacken schlang – offensichtlich froh, überhaupt einen Menschen zu sehen.

      »Wir werden deine Mami suchen«, versprach Natalie und hielt das weinende Mädchen fest.

      »Signora.« Ein Sanitäter sprach sie an. »Verletzt?«

      Natalie

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