Скачать книгу

      Fast drei Tage lang hatte Tobias Scholz mit dem Tod gerungen, doch dann hatte sein Lebenswille gesiegt. Für die Ärzte an der ita-lienischen Klinik kam das fast einem kleinen Wunder gleich. Schädelbasisbruch, innere Verletzungen, Blutungen, die nur mit Mühe zu stillen gewesen waren – niemand hatte sich allzu große Hoffnungen gemacht, daß der junge Mann diesen schrecklichen Unfall überleben würde, doch nun war er auf dem Weg der Besserung, und seine erste bange Frage galt Natalie.

      Dottore Scarpelli holte die junge Frau unverzüglich zur Intensivstation. In den vergangenen Tagen war Natalie kaum zum Schlafen gekommen, weil sie ständig zwischen Tobias und der kleinen Patricia hin- und hergependelt war. Die Zweijährige hatte unter den Nachwirkungen des Unfalls ganz entsetzlich gelitten, hatte hohes Fieber bekommen und schreckliche Alpträume gehabt. Doch auch um Tobias hatte Natalie furchtbar zittern müssen, und so war ihr die ausgestandene Angst noch deutlich anzusehen.

      Trotzdem brachte sie ein zärtliches Lächeln zustande, als sie mit beiden Händen Tobias’ schmal gewordenes Gesicht umschloß und ihn sanft küßte.

      »Liebling«, flüsterte sie nur.

      Auch Tobias lächelte, obwohl ihm nicht danach zumute war. Er hatte noch immer große Schmerzen, die ihm nicht einmal die verabreichten Medikamente nehmen konnten, und er wußte, daß es noch lange dauern würde, bis er wieder völlig genesen wäre.

      »Natalie«, flüsterte er, und jede Silbe verursachte ihm Schmerzen. »Ich liebe dich.«

      »Ich liebe dich auch«, versicherte Natalie und konnte dabei nicht aufhören, sein Gesicht zu streicheln. Erst jetzt wurde ihr wirklich bewußt, wie nahe sie daran gewesen war, den Menschen zu verlieren, der ihr auf dieser Welt am meisten bedeutete. Dabei fiel ihr nun auch die kleine Patricia wieder ein.

      »Tobias«, begann sie, doch da war er unter der Einwirkung der starken Medikamente, die er wegen seiner Schmerzen bekam, schon wieder eingeschlafen.

      Es dauerte mehr als eine Woche, bis sich Tobias soweit erholt hatte, daß er längere Zeit wach bleiben und eingehendere Gespräche führen konnte. Etwa zu diesem Zeitpunkt wurde er auch von der Intensivstation auf die normale Station verlegt.

      »Wie schlimm war es?« wollte er schließlich von Natalie wissen. »Mir sagen die Ärzte ja nichts.«

      »Aus gutem Grund«, entgegnete Natalie und zeigte ihre Besorgnis dabei ganz offen. »Du bist noch immer äußerst erholungsbedürftig, Tobias. Es war ein schreckliches Unglück, das du nur mit knapper Not überlebt hast.«

      »Haben… alle überlebt?« fragte er stockend, weil er sich entsetzlich vor der Antwort fürchtete.

      Natalie zögerte, dann schüttelte sie den Kopf. »Es hat viele Tote gegeben… zu viele… nicht nur im Bus, sondern auch… der Erdrutsch hat etliche Autos mitgerissen.« Sie legte eine Hand auf die seine. »Tobias…«

      Die hereintretende Schwester unterbrach sie. Es war die hübsche Donatella, die immerhin gebrochen Deutsch sprach. Jetzt hatte sie die kleine Patricia auf dem Arm.

      »Will zu ihrer Mama«, erklärte Schwester Donatella mit starkem Akzent, dann übergab sie Natalie die Zweijährige, streichelte noch einmal über das runde Pausbäckchen des Kindes und verließ dann das Zimmer.

      Natalie drückte die Kleine liebevoll an sich, und Patricia schmiegte ihr Gesichtchen vertrauensvoll an Natalies Schulter, während ihre runden Ärmchen den Nacken der jungen Frau umschlungen hatten. Wortlos betrachtete Tobias diese Szene, die von so viel Liebe und Vertrauen geprägt war und die für ihn nur eine Deutung zuließ.

      »Patricias Eltern… sind sie…« Er sprach die Worte leise aus und brachte es nicht fertig, den Satz zu beenden.

      Natalie sah ihn an, dann nickte sie. »Patricia ist völlig allein auf der Welt. Während der letzten Tage habe ich mich erkundigt – sie hatte nur ihre Eltern und jetzt… jetzt hat sie niemanden mehr außer uns.« Mit dem Kind auf dem Arm setzte sie sich auf die Bettkante und griff nach Tobias’ Hand. »Ich liebe dieses Kind. Ich kann es nicht erklären, Tobias. Weißt du noch, wie ich sagte, ein fremdes Kind könnte mir nie soviel bedeuten wie ein eigenes?« Sie wartete seine Antwort gar nicht ab. »Ich wurde eines Besseren belehrt. Als ich Patricia zwischen den Trümmern hervorholte… als ich sie so weich und warm an meinem Körper fühlte… dieses kleine Leben in den Armen hielt… ich kann dir gar nicht beschreiben, was da in mir vorgegangen ist.«

      Noch ein wenig mühsam hob Tobias eine Hand und streichelte über Patricias weiche, blonde Löckchen, dann sah er Natalie mit einem zärtlichen Lächeln an.

      »Das heißt, daß wir als Familie heimkommen werden«, meinte er.

      Natalie nickte. »Es gibt zwar noch viele Formalitäten zu regeln, aber…« Ihr liebevoller Blick wanderte von Tobias zu Patricia, die sich noch immer in ihre Arme kuschelte. »Ich gebe dieses Kind nicht mehr her. Ich will Patricia ein neues Zuhause geben, ich will ihr eine zärtliche Mutter sein.«

      Tobias dachte an das junge Ehepaar, das mit seinem Kind so glücklich gewesen war, bis ein grausames Schicksal sie getrennt hatte. Patricia war noch immer verstört und unsicher, doch sie schien die Geborgenheit in Natalies Armen zu genießen, und irgendwann würde sie die Schrecken des Unfalls vergessen.

      »Wir haben dich sehr lieb, kleine Patricia«, flüsterte Tobias und dachte dabei: Wir werden dir gute und liebevolle Eltern sein.

      Patricia schmiegte sich noch immer in Natalies Arme, doch mit ihren kleinen Fingerchen berührte sie nun Tobias’ Hand, und dann huschte sogar der Ansatz eines Lächelns über ihr rundes Gesichtchen.

      Sehr sanft streichelte Natalie über Patricias seidenweiches Haar und mußte dabei unwillkürlich an Dr. Daniel denken, der ihr so dringend zu dieser Reise geraten hatte. »Sie sind es wert, geliebt zu werden«, hatte er gesagt, und jetzt wußte sie, wie recht er gehabt hatte. Die Tatsache, daß sie durch die fehlerhafte Operation niemals schwanger werden würde, hatte ihr schwer zu schaffen gemacht, und meistens hatte sie sich nicht mal mehr als vollwertige Frau gefühlt, doch jetzt war alles anders. Sie liebte und wurde geliebt – von ganzem Herzen, und die Krönung dieser Liebe würde von nun an die kleine Patricia sein.

      *

      Dr. Daniels Sprechstunde war fast zu Ende, als Melanie Probst das Zimmer betrat. Noch immer war sie sehr blaß, und ihr Gesichtsausdruck war ernst, beinahe traurig. Spontan kam Dr. Daniel ihr entgegen und begleitete sie zu einem der beiden Sessel, die vor seinem Schreibtisch standen.

      »Wie geht es Ihnen?« wollte Dr. Daniel wissen.

      »Nicht sehr gut«, antwortete sie leise. »Im Augenblick stehen Kalle und ich vor einem Scherbenhaufen, der einmal unsere Ehe gewesen ist. Es gibt soviel aufzuarbeiten, und manchmal denke ich, daß wir es nie schaffen werden.«

      »Lieben Sie ihn?« fragte Dr. Daniel.

      Melanie nickte ohne zu zögern. »Mehr als alles andere.«

      »Dann wird es Ihnen gelingen, die Probleme aus dem Weg zu schaffen«, meinte Dr. Daniel zuversichtlich. »Die Liebe ist eine unbezwingbare Macht.«

      »Hoffentlich«, flüsterte Melanie, dann blickte sie Dr. Daniel an. »Ich habe in letzter Zeit oft über Ihr Angebot, mich noch einmal zu untersuchen, nachgedacht. Natürlich muß ich mit Kalle darüber sprechen, aber… ich für meinen Teil würde es gerne noch einmal versuchen.«

      Dr. Daniel nickte bedächtig. »Dagegen ist im Grunde nichts einzuwenden, Frau Probst. Ich selbst hatte Ihnen das ja vorgeschlagen, allerdings kann eine Kinderwunschbehandlung für beide Partner sehr belastend sein, und gerade im Augenblick würde ich Ihnen nicht empfehlen, Ihre ohnehin wacklige Ehe auf diese harte Probe zu stellen.«

      »Das hatte ich auch nicht vor«, verwahrte sich Melanie. »Im Moment ist mir nur wichtig, meine Ehe mit Kalle zu retten, aber danach…« Sie seufzte leise. »Ich möchte doch so gern ein Baby von ihm haben.«

      »Ich werde tun, was ich kann«, versprach Dr. Daniel, dann griff er tröstend nach Melanies Hand. »Kommen Sie zu mir, wann immer Ihnen danach zumute ist.«

Скачать книгу