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sie das Haus betrat und im dunklen Flur stand, begann sie zu denken. Sie betrachtete das Baby in ihren Armen, und mit Entsetzen wurde ihr bewußt, daß sie es ihrer Schwester gestohlen hatte.

      In diesem Moment flammte Licht auf. Völlig verschlafen, in einem zerknitterten Pyjama stand Karlheinz in der geöffneten Schlafzimmertür und starrte sie an.

      »Melanie«, brachte er hervor, dann war er mit einem Schlag hellwach und stand im nächsten Augenblick neben ihr. Fassungslos blickte er auf das schlafende Baby in ihren Armen. »Du hast… meine Güte, warum weiß ich denn nichts davon? Dieser Dr. Daniel wollte mir nichts sagen, dabei… wann hast du entbunden? Und warum wurde ich nicht benachrichtigt? Ich hätte doch dabeisein wollen!«

      In diesem Augenblick brach Melanie in Tränen aus.

      »Es ist Peter!« stieß sie hervor. »Alles ist gelogen… die Schwangerschaft… alles… ich wollte doch so gern ein Baby… ich…« Vor lauter Schluchzen konnte sie nicht mehr weitersprechen, und Karlheinz stand ratlos daneben. Er begriff nicht, wovon Melanie da eigentlich sprach.

      »Wir müssen in die Klinik zurück«, fuhr die junge Frau fort, als sie endlich wieder Worte fand. »Ich muß… o Gott, was habe ich getan? Aber ich wollte doch nur ein einziges Mal…«

      Der kleine Peter begann zu weinen und suchte dabei verzweifelt nach der Brust der Mutter.

      »Komm, Kalle, wir müssen in die Klinik«, drängte Melanie und war dabei schon wieder den Tränen nahe. Sie fühlte sich hilflos, weil sie wußte, daß sie dem Baby nicht geben konnte, wonach es verlangte. Sie war nicht seine Mutter, und wahrscheinlich würde sie niemals eine Mutter sein.

      Karlheinz begriff noch immer nicht, was eigentlich los war, aber er spürte, daß jetzt nicht der Zeitpunkt war, um Fragen zu stellen. Rasch zog er Hose und Hemd über den Schlafanzug, dann brachte er Melanie und das schreiende Baby zur Waldsee-Klinik zurück.

      *

      Zur selben Zeit betrat Manuela das Säuglingszimmer. Sie kannte den Rhythmus ihres kleinen Sohnes schon und wußte, daß er bald Hunger bekommen mußte. Prüfend besah sie sich die Bettchen, und plötzlich griff eine eisige Angst an ihr Herz. Peter war nicht hier.

      »Darinka!« rief sie, und ihre Stimme bebte dabei. »Ist etwas mit Peter?«

      Erstaunt sah die junge Krankenpflegehelferin sie an. »Peter? Aber den haben Sie doch vor mehr als einer Stunde mit in Ihr Zimmer genommen, Frau Stumpe. Wir haben uns doch noch unterhalten und…«

      Manuela schüttelte den Kopf. Dabei standen in ihren Augen gleichermaßen Entsetzen und Fassungslosigkeit.

      »Melanie«, flüsterte sie, machte auf dem Absatz kehrt und lief den Flur entlang bis zu dem Zimmer, in dem sie ihre Schwester vermutete. Dr. Daniel hatte ihr zwar den Zutritt verwehrt, und Manuela hatte sich bis jetzt daran gehalten, wenn es ihr auch schwergefallen war, weil sie sich um Melanie große Sorgen gemacht hatte. Doch jetzt ging es um Peter!

      Mit einem Ruck riß Manuela die Tür auf, doch das Zimmer war leer, und der schmale Schrank in der Ecke stand offen. Dann fiel Manuelas Blick auf das Babybettchen, das halb verborgen hinter dem großen Krankenbett stand. Mit wenigen Schritten eilte Manuela darauf zu, und dann fühlte sie sich einer Ohnmacht nahe. Das Bettchen war leer! Ihr Sohn war weg – gestohlen von ihrer eigenen Schwester.

      Das jämmerliche Schreien eines Babys ließ Manuela herumfahren. Sie kannte dieses Stimm-chen. Wie gehetzt rannte sie auf den Flur und sah, wie Melanie so abrupt stehenblieb, als sei sie gegen eine Wand gelaufen. Manuelas Schritt stockte nur für einen Augenblick, dann lief sie auf ihre Schwester zu und riß ihr das Baby aus den Armen. In ihren Augen flackerte es gefährlich, doch ihre Lippen zitterten, als würde sie jeden Moment anfangen zu weinen.

      »Manuela«, flüsterte Melanie und versuchte, die Schwester zu berühren, doch Manuela wich vor ihr zurück, als hätte Melanie eine ansteckende Krankheit.

      Währenddessen stand Karlheinz zwischen den Zwillingsschwestern, blickte von einer zur anderen und wußte doch nicht so recht, was er von dieser Situation halten sollte. Er spürte nur, daß sich zwischen Melanie und Manuela ein Drama anbahnte, doch er hatte keine Ahnung, wie er es verhindern sollte.

      Bevor ein Wort fiel, stieß Dr. Daniel zu der kleinen Gruppe. Nach Manuelas Flucht aus dem Säuglingszimmer hatte Darinka ihn angerufen, und im Gegensatz zu ihr gelang es Dr. Daniel rasch, die Situation richtig einzuschätzen. Daher wußte er auch, daß Eile geboten war.

      Jetzt stellte er sich zwischen die beiden jungen Frauen, sah zuerst Manuela, dann Melanie an und begann schließlich zu sprechen. »Vielleicht hätte ich ahnen müssen, daß so etwas passieren könnte.«

      Diese wenigen Worte, in dem einfühlsamen Ton gesprochen, über den Dr. Daniel verfügte, entspannten die Situation. Jetzt wandte er sich Manuela zu.

      »Sie sollten den Kleinen stillen und dann in sein Bettchen bringen«, riet er ihr. »Danach sollten wir uns alle zusammensetzen, denn ich glaube, ein offenes Gespräch ist jetzt unumgänglich geworden.«

      »Ich verstehe das alles nicht«, mischte sich Karlheinz ein. »Wenn das Manuelas Baby ist… Melanie war doch auch schwanger…«

      »Nein«, flüsterte Melanie, dann sah sie ihren Mann flehend an. »Bitte, Kalle, verzeih mir. Ich… ich habe…« Ihre Stimme brach.

      Mit einem Blick voller Schmerz, aber auch voller Kälte sah Karlheinz sie an, dann drehte er ihr den Rücken zu und machte einen Schritt, doch Dr. Daniel hielt ihn zurück.

      »Sie sollten jetzt nicht so einfach gehen, Herr Probst«, meinte er.

      Karlheinz fuhr herum. »Was soll ich denn Ihrer Meinung nach tun? Melanie umarmen und ihr für den Betrug danken, den sie an mir… an uns allen begangen hat?« Er musterte Dr. Daniel feindselig. »Aber Sie stehen ja auf ihrer Seite. Sicher wußten Sie schon längst, daß alles nur Lüge und Betrug gewesen ist. Deshalb durfte ich auch Melanies Zimmer nicht betreten.« Er sah seine Frau wieder an. »Dieses ganze Ma-növer bedeutete aber nur einen Aufschub. Ich werde gehen.«

      Wieder drehte er sich um.

      »Kalle! Ich liebe dich!« rief Melanie verzweifelt.

      Es war nicht ihre Liebeserklärung, die seinen Schritt stokken ließ, sondern der Kosename und vor allem die Art, wie sie ihn ausgesprochen hatte. Der Klang ihrer Stimme beschwor in ihm die Erinnerung an glückliche Tage herauf. Langsam wandte er sich ihr zu, und in seinen Augen konnte sie Schmerz und Enttäuschung erkennen.

      »Warum?« wollte er nur wissen.

      Da brach alles aus Melanie heraus. Ihre grenzenlose Sehnsucht nach einem Kind, die Verwechslung und der Beginn ihrer vorgetäuschten Schwangerschaft, die Liebe zu Karlheinz, die während dieser Zeit wieder zur vollen Blüte gereift war, aber auch ihre Verzweiflung, weil sie doch genau gewußt hatte, daß ihre Schwangerschaft niemals mit einer Geburt enden würde.

      Als sie nach fast zwei Stunden endlich schwieg, stand sie zusammengekauert und mit tränen-überströmtem Gesicht da – verzweifelt, verloren und todunglücklich. Aber auch in den Augen von Karlheinz glitzerten Tränen. Melanies Geschichte hatte ihn tief getroffen.

      Ein wenig zaghaft berührte er ihre Schulter, dann zog er sie in seine Arme.

      »Ich weiß nicht, ob ich dir verzeihen kann«, gestand er. »Im Moment weiß ich überhaupt nur sehr wenig, aber… wenn ich gehe… wenn ich dich jetzt verlasse, dann… dann mache ich vielleicht alles nur noch schlimmer.«

      Auch Manuela trat nun zu den beiden. Sie hatte ihren kleinen Sohn gestillt und wieder ins Säuglingszimmer gebracht. Den Anfang von Melanies Geständnis hatte sie dadurch verpaßt, doch was sie gehört hatte, hatte ausgereicht, um ihr begreiflich zu machen, daß Melanie den kleinen Peter nicht wirklich hatte entführen wollen.

      »Ich glaube, wir haben viel aufzuarbeiten«, meinte sie. »Wir alle. So wie bisher können wir nicht weitermachen, das steht fest, aber vielleicht sollten wir jetzt einfach zusammenhalten und versuchen, noch einmal von vorn zu beginnen.«

      Dr. Daniel zog

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