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danach voller Blut und Schlamm war, konnte sie sich in etwa vorstellen, wie schlimm sie aussehen mußte.

      Der Sanitäter wollte ihr das Kind abnehmen, damit sie leichter aus dem Bus klettern könnte, doch Natalie hielt die kleine Patricia fest, obwohl es sehr beschwerlich war, sich mit dem Kind durch das einzige Fenster zu zwängen, das nicht mehr von Erde und Geröll verstopft war. Draußen wurden Natalie und Patricia von anderen Sanitätern in Empfang genommen, die sie und das Kind auf eine Trage legten und zu den weiter entfernt stehenden Krankenwagen brachten. Noch immer war die Luft erfüllt vom Stöhnen der vielen Verletzten, und Natalie fragte sich besorgt, wo Tobias wohl sein mochte. Plötzlich war die Angst um ihren Verlobten, die sie über der Sorge um Patricia beiseite geschoben hatte, wieder da.

      »Tobias Scholz«, sprach sie den jungen Arzt an, der sich im Krankenwagen um sie und vier andere Verletzte kümmerte. »Der Busfahrer.«

      Bedauernd zuckte der Arzt die Schultern, und Natalie war nicht sicher, ob er damit ausdrücken wollte, wo Tobias war, oder ob er sie überhaupt nicht verstanden hatte.

      Sie erreichten das nächste Krankenhaus. Da man annahm, Natalie sei die Mutter des kleinen Mädchens, das sie so innig an sich gedrückt hielt, brachte man sie gemeinsam in ein Zimmer. Patricia war in Natalies Armen völlig erschöpft eingeschlafen, weinte aber immer wieder kläglich auf.

      Erneut kam ein Arzt zu Natalie, diesmal einer mit eisgrauem Haar und sanften dunklen Augen, der sich als Dottore Angelo Scarleppi vorstellte.

      »Sprechen Sie Deutsch?« fragte Natalie hoffnungsvoll.

      »Ein bißchen, Signora«, antwortete er, dann lächelte er bedauernd. »Erwarten Sie aber nicht zuviel.«

      »Mein Verlobter«, begann Natalie, und ihre Stimme bebte ein wenig. So dringend sie etwas über Tobias erfahren wollte, so groß war andererseits ihre Angst davor. »Tobias Scholz… er war der Fahrer des Busses. Ist er… ist er hier?«

      Der Arzt nickte ohne zu überlegen, und Natalie fragte sich bang, ob das nun ein gutes oder eher ein schlechtes Zeichen war.

      »Er wird operiert«, antwortete der Arzt. »Machen Sie sich keine Sorgen. Das ist hier ein sehr gu-tes Krankenhaus.«

      Natalie nickte nur. Sie hatte Angst… schreckliche Angst. Nur am Rande nahm sie wahr, daß Dottore Scarpelli sie untersuchte und ihre zahlreichen Schürf- und Schnittwunden behandelte. Die Platzwunde am Kopf mußte genäht werden, dann sah der Arzt von ihr zu dem schlafenden Kind.

      »Ihre Tochter?« wollte er wissen.

      Natalie schüttelte den Kopf. »Sie heißt Patricia.« Angestrengt versuchte sie sich an den Nachnamen des Kindes zu erinnern. »Koch. Patricia Koch. Ihre Eltern waren auch mit im Bus, aber ich konnte sie nicht finden. Nach dem Unfall herrschte ein schreckliches Durcheinander.«

      Dottore Scarpelli nickte. »Es war ein fürchterliches Unglück.« Über die vielen Toten schwieg er sich aus. Es war unnötig, der jungen Frau die schrecklichen Einzelheiten zu berichten. »Ich werde mich nach den Eltern der Kleinen erkundigen.«

      »Danke«, flüsterte Natalie, dann beugte sie sich über die schlafende Patricia, streichelte ihr seidiges Haar und drückte schließlich einen sanften Kuß auf ihre Stirn. Dabei fühlte sie sich diesem Kind so nah, als würde sie es schon ganz lange kennen. In den vergangenen Stunden war es ihr so ans Herz gewachsen, daß sie sich beinahe vor dem Augenblick fürchtete, an dem sie es den Eltern zurückgeben mußte.

      Natalie wich zurück, als der Arzt begann, das kleine Mädchen vorsichtig zu untersuchen. Patricia schlug die Augen auf, dann verzog sich ihr Gesichtchen zu einem kläglichen Weinen.

      »Oh, bambina mia, nicht weinen«, bat Dottore Scarpelli und lächelte die Kleine an, doch Patricia wollte sich nicht beruhigen. Erst als sie Natalie sah, versiegten die Tränen allmählich.

      »Sie hatte Glück«, stellte der Arzt schließlich fest, dann hob er Patricia hoch und gab ihr ein Zäpfchen, bevor er ihr rasch und geschickt die Windel wieder anlegte. Patricia begann erneut zu weinen und zu strampeln.

      »Ich weiß, bambina, Zäpfchen ist nicht schön«, meinte Dottore Scarpelli tröstend. »Geht aber gleich vorbei.« Er wandte sich Natalie zu. »Das Medikament wird sie beruhigen und schnell einschlafen lassen.«

      Natalie konnte nur nicken. Auch sie fühlte sich erschöpft und müde, wußte aber, daß die Sorge um Tobias sie nicht schlafen lassen würde. Das schien auch der Arzt zu befürchten, denn er sprach kurz mit der Schwester, die ihn begleitet hatte, und bekam von ihr wenig später eine vorbereitete Spritze gereicht.

      »Nicht erschrecken, Signora«, bat er. »Es ist nur ein kleiner Pieks, dann werden Sie sehr müde werden.«

      Das Medikament wirkte tatsächlich schnell. Natalie konnte die Augen nicht mehr offenhalten. Mit letzter Kraft versuchte sie, Patricias kleines Händchen zu erreichen, dann schlief sie ein.

      *

      Tagelang lag Melanie Probst in ihrem Bett und überlegte, was sie Karlheinz sagen sollte. Endlich die Wahrheit oder weitere Lügen? Melanie konnte zu keinem Entschluß finden. Sie wollte Karlheinz nicht ein zweites Mal verlieren, aber gleichgültig wie sie sich letztlich entscheiden würde – die Möglichkeit, daß Karlheinz sie für immer verlassen würde, lag erschreckend nahe.

      Mitternacht war längst vor-über. Mit einer Hand tastete sie nach ihrem Bauch, doch er war flach. Plötzlich wurde ihre Sehnsucht nach der Wölbung, die sie während ihrer vorgetäuschten Schwangerschaft gefühlt hatte, übermächtig.

      »Mein Baby«, schluchzte sie leise und verdrängte den Gedanken, daß es nur ein Sandsack gewesen war, den sie sich unter das Kleid geschnallt hatte.

      Wie in Trance verließ sie ihr Zimmer und fand wie von selbst den Weg zur Säuglingsstation. Durch das große Fenster betrachtete sie die vielen Babys, die zumeist schlafend in ihren Bettchen lagen.

      »Na, Frau Stumpe, haben Sie Sehnsucht nach Ihrem kleinen Peter?«

      Erschrocken fuhr Melanie herum und sah sich der jungen Da-rinka Stöber gegenüber, die hier als Krankenpflegehelferin tätig war und heute Nachtschicht hatte. Auf der Säuglingsstation arbeitete sie besonders gern, und sie hatte auch eine glückliche Hand im Umgang mit Babys.

      »Sie wissen doch, daß Sie jederzeit kommen und den Kleinen zu sich holen können«, fuhr Da-rinka lächelnd fort. »Jetzt muß er ja nicht mehr im Brutkasten liegen.«

      Währenddessen hatte sie Melanie ins Säuglingszimmer zu einem der vielen Bettchen gebracht. Mit sehnsüchtigem Blick sah Melanie ihren kleinen Neffen an, dann berührte sie vorsichtig das kleine Büschelchen dunkler Haare auf seinem Kopf.

      »Nur für ein paar Minuten«, murmelte sie, dann schob sie das Bettchen mit dem Baby hinaus.

      Erstaunt sah Darinka ihr nach. Die Patientin war ihr heute doch sehr verändert vorgekommen. In den vergangenen Tagen hatte sie sich nie gescheut, das Baby zu holen und es wiederzubringen, wenn sie sich ein wenig ausruhen wollte. Und auch nachts hatte sie den Kleinen geholt, wenn die Zeit zum Stillen nähergerückt war. Doch dann zuckte Darinka die Schultern. Vielleicht war Manuela Stumpe einfach nur müde gewesen. Darinka fragte sich ohnehin, wie sie es schaffte, immer rechtzeitig wach zu werden. Die meisten jungen Mütter mußten nachts geweckt werden, wenn ihre Babys Hunger hatten.

      In der Zwischenzeit hatte Melanie das fahrbare Bettchen in ihr Zimmer ganz am Ende des Flurs gebracht. Fast eine Stunde stand sie da, betrachtete das schlafende Baby und hatte plötzlich das Gefühl, als könne sie es nicht wieder hergeben, ohne daß ihr das Herz brechen würde.

      In fliegender Hast begann sie sich anzukleiden, dann wickelte sie den kleinen Peter sorgfältig in eine warme Decke und verließ mit ihm ihr Zimmer. Vorsichtig spähte sie den Flur entlang, doch es war niemand da, der sie hätte sehen können. Die Nachtschwester machte einen Rundgang durch die Klinik, und Darinka hatte ein weinendes Baby auf dem Arm, wie Melanie sehen konnte, als sie rasch an der Säuglingsstation vorübereilte.

      Dann stand sie vor der Klinik auf der Straße und lief einfach los, das Baby liebevoll an sich

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