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aus ihren Gedanken. Mit einer müden Bewegung hob sie die heruntergefallenen Blätter auf, legte sie achtlos auf den Tisch und ging zur Tür, um zu öffnen.

      »Tobias!« rief sie erstaunt. »Wie kommst du nach Steinhausen?«

      Tobias Scholz grinste. »Überraschung gelungen?«

      Natalie nickte und brachte sogar ein Lächeln zustande. »Und ob! Komm herein.«

      Das ließ sich Tobias nicht zweimal sagen. Er schloß die Tür hinter sich, dann zog er Natalie in seine Arme.

      »Ich habe dich schrecklich vermißt.«

      Vertrauensvoll lehnte sie sich an ihn. »Ich habe dich auch vermißt, Tobias.« Sie blickte zu ihm auf. »Ich fühlte mich schrecklich einsam. Nach meiner Entlassung aus der Klinik… es war nicht einfach.« Sie bemühte sich um ein Lächeln, doch ihre Augen blieben ernst. »Aber jetzt bist du da. Wie lange kannst du bleiben?«

      Da lächelte er sie liebevoll an. »In Zukunft wirst du nicht mehr so lange auf mich verzichten müssen. Patrick hat es endlich geschafft, sich gegen unseren Vater durchzusetzen. Zum nächsten Ersten wird er das Unternehmen meinem Bruder und mir übergeben.«

      Bei diesen Worten mußte Tobias an die unerfreulichen Szenen denken, die beinahe zu einem dauerhaften Zerwürfnis geführt hätten. Sein Vater hatte die Leitung des Busunternehmens Tobias’ jüngerem Bruder Patrick übergeben wollen, und zu allem Überfluß war Tobias zu jener Zeit auch noch in Patricks Freundin verliebt gewesen – so sehr, daß er versucht hatte, seinen Bruder und Sabrina mit Hilfe einer bösen Intrige zu entzweien, doch er hatte sich gerade noch rechtzeitig besonnen und Patrick die Wahrheit gestanden. Sein Bruder hatte ihm verzeihen können, und dann war mit Natalie auch noch das wirkliche Glück bei ihm eingezogen, und er hatte erkannt, daß seine vermeintliche Liebe zu Sabrina eben doch nicht mehr als eine flüchtige Verliebtheit gewesen war, vielleicht auch nur Eifersucht auf seinen Bruder, der damals alles das besessen hatte, was Tobias sich erträumt hatte. Inzwischen gehörte das jedoch längst der Vergangenheit an.

      »Was geschieht mit deinem Unternehmen in Köln, wenn du hier mit deinem Bruder zusammenarbeiten wirst?« fragte Natalie und holte ihn in die Gegenwart zurück.

      »Das ist bereits verpachtet«, entgegnete Tobias und seufzte erleichtert auf. »Ich bin so froh, daß ich wieder zurückkommen kann. Es ist schön in Köln, aber es geht doch nichts über die Heimat.« Zärtlich berührte er Natalies Gesicht, dann fügte er hinzu: »Und über die Gewißheit, dich in meiner Nähe zu haben.«

      Zusammen betraten sie das Wohnzimmer.

      »Setz dich schon mal«, meinte Natalie. »Ich mache uns rasch Kaffee.«

      »Fein«, urteilte Tobias, aber er hatte jetzt nicht die Geduld, sich auf das Sofa zu setzen und auf Natalies Rückkehr zu warten. Statt dessen lehnte er sich in den Rahmen der Küchentür und sah ihr zu, wie sie Wasser aufsetzte und Kaffeepulver in den Filter gab.

      »Wie geht’s dir?« wollte er wissen.

      Sie schwieg eine Weile, entschloß sich dann aber für die Wahrheit. »Nicht sehr gut.« Wieder machte sie eine Pause. »Dr. Kreutzer wurde die Approbation entzogen, aber das gibt mir meine Gebärmutter und die Eierstöcke nicht zurück.«

      Tobias trat zu ihr, legte beide Hände auf ihre schmalen Schultern und küßte ihr weiches,

      dunkles Haar.

      »Ich kann mir wahrlich nicht einmal vorstellen, wie schlimm das für dich ist«, meinte er leise. »Trotzdem solltest du versuchen, die Vergangenheit zu vergessen. Ich liebe dich, und gemeinsam…«

      Natalie drehte sich zu ihm um. »Wir werden niemals ein Kind haben können.«

      Tobias nickte. »Ich weiß, Liebes, aber für mich ist das kein Grund, dich weniger zu lieben.« Er lächelte sie an. »Schau mal, Natalie, auf diese Weise können wir uns ganz auf unsere Pflichten als Tante und Onkel konzentrieren.«

      Natalie wußte, daß er sie aufmuntern wollte, doch dieser Versuch mißlang kläglich.

      »Glaubst du wirklich, daß es für mich einfacher wird, wenn ich das Familienglück deines Bruders und deiner Schwägerin sehe?« fragte sie ernst und mit Augen voller Traurigkeit.

      Verlegen blickte er zu Boden. »Tut mir leid, Liebes. Das hätte ich nicht sagen sollen.«

      Sie schmiegte sich an ihn. »Ich weiß schon, daß du es gut gemeint hast, aber…« Ihre Stimme wurde ganz leise. »Ich habe mir immer Kinder gewünscht.« Dann seufzte sie tief auf. »Ich glaube, ich werde nie darüber wegkommen.«

      *

      Die Sprechstunde bei Dr. Daniel war fast zu Ende, als seine Sprechstundenhilfe hereinkam und einen Brief auf seinen Schreibtisch legte. Dr. Daniel warf einen kurzen Blick darauf, sah den Gerichtsstempel und wußte sofort, daß der Umschlag nur das Urteil über Dr. Joachim Kreutzer enthalten konnte. Obwohl er ahnte, wie die Entscheidung des Gerichts ausgefallen war, drängte es ihn, seinen Verdacht zu bestätigen. Dennoch befaßte er sich zuerst mit der Patientin, die bei ihm im Zimmer saß. Als das Gespräch mit ihr und die nachfolgende Untersuchung beendet war, öffnete er den Umschlag und überflog das mehrseitige Urteil, dann nickte er befriedigt.

      »Fräulein Sarina, wie viele Patientinnen warten denn noch?« wollte er von seiner jungen Sprechstundenhilfe wissen.

      »Nur zwei«, antwortete sie und lächelte. »Es sieht so aus, als könnten Sie heute ausnahmsweise mal pünktlich zum Mittagessen gehen.«

      Dr. Daniel nickte. »Dann kann ich mir auch noch ein kurzes Telefongespräch gönnen.« Er warf einen Blick auf die Uhr. »Schicken Sie die nächste Patientin in fünf Minuten zu mir. Bis dahin bin ich fertig.«

      Er nahm den Telefonhörer ab und wählte die Nummer der Sommer-Klinik in München, dann ließ er sich mit dem dortigen Chefarzt verbinden, der seit vielen Jahren sein bester Freund war.

      »Grüß dich, Schorsch, ich bin’s, Robert«, gab er sich zu erkennen.

      »Ich weiß genau, weshalb du anrufst«, erwiderte Dr. Sommer. »Kreutzer wurde endgültig aus dem Verkehr gezogen.«

      »Woher weißt du das schon?« fragte Dr. Daniel erstaunt zurück.

      »Stell dir vor, in München gibt es Zeitungen«, erklärte Dr. Sommer, und Dr. Daniel hörte an seiner Stimme, daß er grinste. »Überdies bin ich auch des Lesens mächtig.«

      »Erstaunlich«, spielte Dr. Daniel sofort mit. »Noch viel erstaunlicher aber ist, daß ein angeblich so vielbeschäftigter Chefarzt sich einen solchen Luxus wie Zeitunglesen leisten kann. Ein ewig gestreßter Gynäkologe hat dazu keine Zeit.«

      »Ha!« machte Dr. Sommer. »Daß ich nicht lache! Woher hast du denn deine Weisheit?«

      »Ich habe heute das Urteil bekommen«, erwiderte Dr. Daniel, dann wurde er ernst. »Immerhin war ich an dem Verfahren gegen Kreutzer ja beteiligt. Ohne die Aussagen von Köhler und mir wäre er womöglich wieder ungeschoren davongekommen.«

      »Es ist ohnehin eine Schande, daß so einer überhaupt praktizieren durfte«, meinte Dr. Sommer. »Nun ja, jetzt gehört das Kapitel Kreutzer der Vergangenheit an.« Er zögerte einen Moment. »Wie geht es deiner Patientin?«

      »Nicht besonders«, antwortete Dr. Daniel. »Du bist lange genug Arzt, um zu wissen, wie schwer Frauen eine Totaloperation verkraften. Wenn sie überdies auch noch unnötig war und ohne Wissen der Patientin durchgeführt wurde…« Er seufzte. »Ich mache mir große Sorgen um sie.«

      »Vielleicht solltest du versuchen, sie zu einer Therapie zu überreden«, schlug Dr. Sommer vor.

      »Ja, mal sehen«, entgegnete Dr. Daniel ausweichend. Im Augenblick war er nicht davon überzeugt, daß eine Psychotherapie für Natalie Meinhardt wirklich das Richtige wäre. »Ich muß Schluß machen, Schorsch. Auf mich wartet noch eine Menge Arbeit.«

      Die Freunde verabschiedeten sich, dann legte Dr. Daniel auf. Kurz darauf begleitete Sarina von Gehrau die nächste Patientin ins Sprechzimmer.

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