Скачать книгу

was habe ich nur verbrochen?« fragte er in komischer Verzweiflung. »Jetzt ist gleich Mittag, und auf meinem Schreibtisch stapeln sich die Karteikarten. Ist in Steinhausen der Notstand ausgebrochen?«

      »Es scheint so«, stimmte Gabi bekümmert zu. »Die Damen, die jetzt noch im Wartezimmer sitzen, sind allesamt ohne Termin gekommen, aber…« Hilflos zuckte sie die Schultern. »Es sieht so aus, als wären sie nicht grundlos hier.«

      »Das sicher nicht«, meinte Dr. Daniel. »Ohne Grund geht ja wohl kaum jemand zum Arzt.«

      Gabi schwieg dazu. Hier in der Praxis hatte sie nämlich des öfteren den Eindruck, als kämen die Patientinnen nur, um Dr. Daniel zu sehen und mit ihm zu sprechen. Er war ohnehin sehr beliebt, aber zumindest einige der Damen verehrten ihn so sehr, daß es fast an Schwärmerei grenzte, und für diese Patientinnen machte es auch keinen Unterschied, daß Dr. Daniel seit einiger Zeit wieder verheiratet war. Offensichtlich sahen sie in ihm noch immer den äußerst attraktiven Witwer, den es zu erobern galt.

      Jetzt kehrte Dr. Daniel in sein Sprechzimmer zurück, doch an der Tür drehte er sich noch einmal um.

      »Fräulein Meindl, seien Sie doch bitte so nett und sagen Sie meiner Frau Bescheid, daß ich heute keine Zeit haben werde, zum Mittagessen hinaufzukommen«, erklärte er. »Falls ich hier doch noch vor Beginn der Nachmittagssprechstunde fertig werden sollte, muß ich auf einen Sprung zur Waldsee-Klinik hin-über.«

      »In Ordnung, Herr Doktor«, stimmte Gabi bereitwillig zu und griff gleich nach dem Telefonhörer, um über die Hausleitung in der im ersten Stockwerk gelegenen Wohnung von Dr. Daniel anzurufen.

      Währenddessen hatte Dr. Daniel die Tür hinter sich geschlossen und begrüßte nun Manuela noch einmal mit dem ihm eigenen herzlichen Lächeln, bevor er sich zu den beiden Kindern hinunterbeugte und mit ihnen ein paar Worte sprach. Er brachte eine Kiste mit Bauklötzchen herein, über die sich Anna und Florian voller Begeisterung hermachten.

      »Nun, Frau Stumpe, wie fühlen Sie sich?« wollte Dr. Daniel wissen. Die Kinder waren beschäftigt, also würde man für ein ausführliches Gespräch Zeit finden.

      »Die Schwangerschaft bereitet mir keine Probleme«, antwortete Manuela, dann umschattete sich ihr Gesicht. »Ich mache mir große Sorgen um meine Schwester. Beim letzten Termin habe ich Ihnen ja schon erzählt, daß sie keine Kinder bekommen kann, was unser Verhältnis in den vergangenen Jahren zunehmend belastet hat. Melanie und ich waren immer mehr als Schwestern. Wir… wir fühlten uns manchmal, als wären wir nur zwei Hälften eines Ganzen.«

      Dr. Daniel nickte. »Das kommt gerade bei Zwillingen nicht selten vor.«

      Ein wenig nervös spielte Manuela mit dem Riemen ihrer Handtasche. Man merkte ihr genau an, wie sehr das gestörte Verhältnis zu ihrer Schwester sie belastete.

      »Als Anna geboren wurde, war es noch gar nicht so schlimm«, fuhr sie fort. »Damals waren ja auch Melanie und Karlheinz vol-ler Zuversicht, doch dann begannen die Untersuchungen, und jeder Arzt bestätigte, daß einer Schwangerschaft nichts im Wege stehen würde. Trotzdem wollte sich das ersehnte Baby bei Melanie nicht einstellen. Dann war ich mit Florian schwanger, und da bemerkte ich zum ersten Mal die Distanz, die sich zwischen Melanie und mir auftat. Sie konnte nicht akzeptieren, daß ich das, was sie sich so sehnlichst wünschte, bekommen würde. Letzte Woche haben wir miteinander telefoniert, und… ich mußte es ihr einfach sagen. Ich bin doch schon im sechsten Monat.« Mit einer fahrigen Handbewegung strich sie ihr langes, blondes Haar zurück. »Ich hatte Angst davor, es ihr zu sagen, aber ich konnte auch nicht warten, bis sie es selber sehen oder gar von jemand anderem erfahren würde.« Sie seufzte tief auf. »Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie schlimm es war. Melanie… sie hat kein Wort gesagt. Es war, als hätte ich ihr den Todesstoß versetzt, und einen Augenblick fühlte ich mich tatsächlich wie eine Mörderin.«

      »Ich kann gut nachempfinden, was in Ihnen vorgeht, Frau Stumpe«, entgegnete Dr. Daniel. »Ich habe selbst eine Schwester, der eigene Babys versagt blieben, während ich Vater von zwei Kindern wurde. Meine Schwester hatte manchmal so schreckliche Tiefs, daß ich es gar nicht wagte, meinen Sohn oder meine Tochter in ihrer Gegenwart überhaupt zu erwähnen. Allerdings – so sehr man es sich wünschen mag – man kann den anderen nicht ein Leben lang davor bewahren, mit einer ihn schmerzenden Wirklichkeit konfrontiert zu werden. Mittlerweile ist meine Schwester schon seit langem Witwe und führt uns hier den Haushalt. Sie liebt meine erwachsenen Kinder, als wären es ihre eigenen.«

      Manuela schwieg eine Weile und dachte über diese Worte nach. »Irgendwie kann ich mir nicht vorstellen, daß Melanie meine Kinder lieben könnte. Ich habe vielmehr das Gefühl, als würde ich mich mit jeder Schwangerschaft weiter von ihr entfernen.«

      Sehr ernst sah Dr. Daniel sie an. »Sie können nicht aus Liebe zu Ihrer Schwester Ihre Lebens-einstellung ändern. Ich erinnere mich noch sehr gut an Ihre erste Schwangerschaft. Sie steckten voller Vorfreude auf Ihr Baby. Das ist bei den meisten Müttern der Fall, doch bei einigen wird der Enthusiasmus durch die Geburtsschmerzen gedämpft. Viele können sich in den ersten Tagen oder Wochen nach der Geburt nicht vorstellen, jemals wieder schwanger werden zu wollen. Bei Ihnen war das anders. Unmittelbar nach Annas Geburt fragten Sie mich schon, wie lange Sie warten müßten, bis Ihr Körper eine zweite Schwangerschaft verkraften könnte.«

      In der Erinnerung daran mußte Manuela lächeln. »An meiner Einstellung hat sich nichts geändert, Herr Doktor. Ich möchte noch viele Kinder haben. Unser Haus ist so groß, da hätte notfalls eine ganze Fußballmannschaft Platz… mit Ersatzspielern.«

      Der Vergleich brachte Dr. Daniel zum Lachen. »Da haben Sie ja noch einiges vor, Frau Stumpe.«

      Manuelas Lächeln erlosch. »Kann ich das meiner Schwester antun? Wissen Sie, damals, nach Annas Geburt, war unsere Welt noch in Ordnung. Ich zweifelte nicht daran, daß es bei Melanie auch klappen würde… eben nur ein bißchen später als bei mir. Wir sind Zwillinge… eineiige Zwillinge. Wie kann ich da ein Kind nach dem anderen bekommen, während sie ihr versagt bleiben?«

      »Und nun wollen Sie Ihrer Schwester zuliebe auf weitere Kinder verzichten?« Dr. Daniel schüttelte den Kopf. »Das ist der falsche Weg, Frau Stumpe.«

      »Ist es denn richtig, ihr die eigene Unfähigkeit durch meine vielen Kinder so deutlich bewußt zu machen?«

      »Unfähigkeit«, wiederholte Dr. Daniel nachdenklich, dann sah er Manuela an. »Ich glaube nicht, daß die Kinderlosigkeit Ihrer Schwester etwas mit Unfähigkeit zu tun hat.« Er schwieg kurz. »Vielleicht sollten Sie ihr raten, einmal zu mir zu kommen. Ich will nicht etwa sagen, daß ich mehr kann als die Kollegen, von denen Ihre Schwester untersucht worden ist, aber wir hatten in unserer Waldsee-Klinik tatsächlich schon Fälle, die aussichtslos schienen und wo es uns dennoch gelungen ist, dem betreffenden Ehepaar zu einem eigenen Kind zu verhelfen.«

      »Ich werde es ihr sagen«, versprach Manuela, doch ihr Ton und ihr Gesichtsausdruck bewiesen, daß sie nicht sehr zuversichtlich war, ihre Schwester zu diesem erneuten Arztbesuch bewegen zu können.

      *

      Wie in Trance starrte Natalie Meinhardt auf das mehrseitige Schreiben in ihrer Hand. Ihre Klage hatte Erfolg gehabt, doch Natalie konnte sich darüber nicht freuen. Ihr Leben war zerstört, auch wenn Dr. Kreutzer zur Strafe die ärztliche Zulassung entzogen worden war – ihr Leben würde für immer zerstört bleiben, denn was Dr. Kreutzer getan hatte, konnte nicht mehr rückgängig gemacht werden.

      Wegen Unterleibsschmerzen war sie damals in diese kleine Privatklinik gegangen, und Dr. Kreutzer hatte ihr zur Operation geraten. Sie hatte unter Endometriose gelitten, die der Chirurg auf radikalste Weise bekämpft hatte – er hatte ihr kurzerhand Gebärmutter und Eierstöcke entfernt. Die Endometriose war damit zwar ausgeheilt, doch Natalie hatte ganz plötzlich unter Wechseljahrsbeschwerden gelitten. Zum damaligen Zeitpunkt hatte sie noch nicht gewußt, was der verantwortungslose Arzt getan hatte. Erst als sie auf Empfehlung einer Apothekerin nach Steinhausen zu Dr. Daniel gegangen war, hatte sie die Wahrheit erfahren – eine Wahrheit, an der sie beinahe zugrunde gegangen wäre.

      Langsam entglitt das Schreiben Natalies Händen. Sie sah, wie es zu Boden flatterte. Sie fühlte ein Brennen in den Augen, doch

Скачать книгу