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machen, Nicole«, meinte Dr. Daniel. »Du bist krank, auch wenn du es nicht mehr so recht wahrhaben willst, da ist es wirklich kein Luxus, wenn du von den Schwestern ein bißchen verwöhnt wirst.«

      Nicole zuckte die Schultern. »Möglich. Aber wissen Sie, so krank fühle ich mich eben jetzt nicht mehr.« Dann lächelte sie. »Und nun werde ich erst mal ein bißchen spazierengehen.«

      Kaum in ihrem Zimmer angekommen, holte sie ihre warme Thermohose aus dem Schrank und zog den Anorak an, bevor sie nach ihrem weißen Stock griff und den Raum verließ. So sicher, als könnte sie sehen, ging sie zur Treppe und verließ schließlich durch den rückwärtigen Ausgang die Klinik. Schneeflocken stoben ihr ins Gesicht, und Nicole hielt ihr Gesicht lachend der kalten weißen Pracht entgegen. Sie liebte es, wenn die kalten Flocken ihre Haut berührten.

      Vor lauter Freude über den unerwarteten Schnee vergaß Nicole völlig, daß sich der Weg, den Bianca ihr vor zwei Tagen gezeigt hatte, nun völlig verändert hatte. Sie war schon eine Weile gegangen, als sie plötzlich merkte, daß sie nicht mehr im Schnee stand. Dem herben Duft nach mußte sie inzwischen den Wald erreicht haben.

      Nicole bückte sich und berührte den Boden. Er war hartgefroren, und vereinzelte Schneeflocken hatten den Weg durch die dichten Äste gefunden, doch Nicole ertastete auch Steine – ein deutliches Zeichen, daß sie nicht mehr weit vom Waldsee entfernt sein konnte. Kurz vor der Uferböschung lagen viele Steine herum.

      Nicole erhob sich wieder, machte kehrt und ging den Weg zurück, den sie gekommen war – zumindest glaubte sie das. Erst als sie den Wind fühlte, wußte sie, daß sie falsch gegangen war. Zuerst hatte sie den Wind im Rücken gehabt, jetzt kam er von der Seite. Wäre sie richtig gewesen, hätte er sie von vorne treffen müssen. Nicole wandte sich halb um und ging nun dem Wind entgegen.

      Plötzlich hörte sie Schritte im Schnee. Sie wandte sich in die Richtung, aus der die Geräusche kamen.

      »Hallo! Können Sie mir bitte helfen?« fragte sie.

      »Frau Kortenhagen.«

      Die männliche Stimme klang erstaunt, und Nicole wußte, daß sie diese Stimme schon einmal gehört hatte, doch im ersten Moment konnte sie sie nicht einordnen.

      »Sie kennen mich?«

      »Natürlich«, entgegnete der Mann. »Ich habe Sie doch schließlich in die Klinik gebracht. Mit meinem Kollegen natürlich«, fügte er rasch hinzu.

      Plötzlich konnte sich Nicole erinnern. Das war der nette Sanitäter, der sich im Krankenwagen um sie gekümmert hatte, bevor sie ohnmächtig geworden war. Ein Lächeln erhellte ihr Gesicht.

      »Wie schön, daß ich Sie hier treffe«, erklärte sie. »Da kann ich mich gleich bei Ihnen bedanken. Sie haben sich so rührend um mich bemüht.«

      »Das war doch selbstverständlich«, betonte der Sanitäter, dann kam er näher. »Und wie kann ich Ihnen jetzt helfen? Haben Sie sich verletzt?«

      Nicole schüttelte den Kopf. »Nein, das nicht. Es ist nur… ich habe mich verlaufen, und nun finde ich nicht mehr zur Klinik zurück.«

      Der Sanitäter schwieg einen Moment, und fast glaubte Nicole seine Verständnislosigkeit zu spüren. Anscheinend hatte er noch nicht bemerkt, daß sie blind war.

      »Die Klinik ist doch deutlich zu sehen«, erklärte er da auch schon.

      »Für mich leider nicht«, entgegnete sie und wies ihren Stock vor.

      »Meine Güte, das tut mir leid.« Die Stimme des Mannes klang plötzlich sehr unsicher. Trotzdem war es für Nicole immer noch eine äußerst anziehende Stimme – weich und tief, ein angenehmer Bariton.

      »Dafür müssen Sie sich nicht entschuldigen«, meinte Nicole lächelnd, dann tastete sie mit einer raschen Bewegung nach ihrer Uhr. »Meine Güte, schon so spät. Dr. Daniel hatte mir eigentlich nur eine Viertelstunde zugebilligt, und nun bin ich schon mehr als eine Stunde unterwegs.«

      »Dann sollten wir uns aber beeilen«, meinte der Sanitäter. »Es wundert mich ohnehin, daß Sie schon aufstehen dürfen. Immerhin hatten sie vor drei Tagen einen massiven Schock.«

      Dabei nahm er Nicole mit sanftem Griff am Arm. Es war eine feingliedrige Hand, die sie spürte, und sie wußte, daß sie einem jungen Mann gehören mußte. Die Haut war glatt und weich.

      »Wie kommt es überhaupt, daß man Sie allein hier spazierengehen läßt?« erkundigte er sich. »Ich schätze Dr. Daniel sehr, aber in diesem Punkt halte ich ihn doch für recht verantwortungslos.«

      Da lachte Nicole. »Ich bin nicht so unselbständig, wie Sie anscheinend glauben. Schwester Bianca hat mich vorgestern mit dem Weg vertraut gemacht. Allerdings lag da noch kein Schnee, und überdies habe ich den Fehler begangen, mich zu sehr über die weiße Pracht zu freuen, anstatt mich auf den Weg zu konzentrieren. Plötzlich war ich irgendwo im Wald, vermutlich in der Nähe des Sees und hatte die Orientierung verloren. Das kommt selten vor, aber es passiert eben doch mal.«

      »Sie scheinen trotz Ihrer… Behinderung sehr selbständig zu sein.«

      »Stimmt«, bekräftigte Nicole. »Und ich bin stolz darauf.«

      »Das können Sie auch sein.«

      Nicole spürte eine Bewegung und vermutete, daß er sie jetzt anschaute.

      »Sie sehen sehr glücklich aus.« Die Worte kamen so, als wäre der Mann erstaunt über diese Feststellung.

      Nicole hob den Kopf in die Richtung, aus der seine Stimme kam. »Ich bin auch glücklich, das heißt… im Moment sehne ich mich nach Hause zurück. Ich fühle mich nämlich fast schon gesund, und da widerstrebt es mir, mich von den Schwestern so bedienen zu lassen, aber Dr. Daniel meint, mit einer Entzündung wäre nicht zu spaßen, und ich müßte mindestens noch eine Woche hierbleiben.« Sie seufzte. »Dabei gäbe es zu Hause und in der Schule so viel zu tun.«

      »Sie sind… Lehrerin?« fragte der Mann mit hörbarem Erstaunen.

      Nicole nickte. »An einer Blindenschule in der Kreisstadt. Es ist eine Arbeit, die mir sehr viel Spaß macht.«

      Einen Augenblick herrschte Schweigen, dann erklärte der junge Mann: »Ich bewundere Sie, Frau Kortenhagen.«

      Nicole lächelte ihn schelmisch an. »Das ist ungerecht. Sie kennen meinen Namen, aber ich weiß noch immer nicht, wer Sie sind.«

      »Entschuldigen Sie bitte. Sie müssen mich ja für einen richtigen Flegel halten, aber ich kann Ihnen versichern, daß ich nicht immer so unhöflich bin. Ich heiße Mario. Mario Bertoni.«

      »Mario Bertoni«, widerholte Nicole langsam, beinahe schwärmerisch. »Meine Güte, das klingt wie Urlaub in Italien. Sind Sie Italiener?«

      Mario mußte lächeln. »Ja und nein. Mein Vater ist Italiener, aber er kam vor vielen Jahren nach Deutschland. Meine Mutter ist Deutsche, und ich wurde in München geboren. Seit einem Jahr lebe ich hier in Steinhausen. Allerdings spreche ich fließend italienisch.«

      Nicole strahlte jetzt wie die liebe Sonne. »Das ist schön. Sagen Sie doch etwas auf Italienisch.«

      Mario schmunzelte. »Und was?«

      »Egal. Irgend etwas.«

      »Uscirebbe con me stasera, mia bella ragazza?«

      Nicole lächelte schwärmerisch. »Es klingt traumhaft. Wenn die Worte nur halb so schön sind, wie sie klingen…« Sie lächelte Mario an. »Was heißt es auf Deutsch?«

      »Möchten Sie heute abend mit mir ausgehen, mein schönes Mädchen?«

      Nicole lächelte. »Sie haben nicht nur einen italienischen Namen, Sie sind auch ein waschechter Italiener. Der erste Satz von Ihnen ist gleich eine Einladung.«

      »Mir fiel im Augenblick nichts anderes ein.«

      »Das war nun wieder weniger charmant. Sie hätten ja zumindest so tun können, als würden Sie wirklich gern mit mir ausgehen.«

      »Da müßte

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