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Hoffentlich hatte Doris sich nicht gelangweilt, sie hatte zwar innerlich Abschied von Jörg nehmen wollen, aber gewiss nicht so viele Stunden lang.

      Dennoch ging Bettina zuerst in den rechten Seitenflügel, in dem schon immer die privaten Räume des Besitzers lagen.

      Auch ihr Vater hatte diese Räume für sich genutzt, und ganz gewiss die Vorbesitzer auch.

      Es fiel ihr schwer, den Seitenflügel zu betreten. Sie atmete tief durch, ehe sie die Türklinke zum Eingangsbereich herunterdrückte.

      »Doris?«, rief sie leise.

      Es kam keine Antwort.

      Bettina wanderte von Raum zu Raum. Hier und da entdeckte sie Dinge, die zu Jörg gehörten, aber irgendwo war alles still, tot, seelenlos. Bettina spürte fast körperlich, dass diese prunkvollen Räume nicht mehr bewohnt wurden, und das bereitete ihr fast körperliches Unbehagen.

      Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass Doris nirgendwo war, verließ sie beinahe fluchtartig den Seitenflügel und atmete auf, als sie wieder in der Diele war.

      Aus dem linken Trakt hörte sie Geräusche, Marie schimpfte mit einem der Mädchen.

      Schon wollte sie sich dorthin wenden, als sie innehielt. Nein, Doris würde sich ganz gewiss nicht bei Marie aufhalten, sie verstanden sich zwar jetzt sehr viel besser als früher, aber Freundinnen waren sie dennoch nicht geworden, dafür war die Sprachbarriere einfach zu groß. Marie sprach nur gebrochen Deutsch, und mit den Kenntnissen, die einem in einem Anfängersprachkurs vermittelt wurden, kam man nicht weit.

      Bettina eilte die Treppe hinauf, wollte in ihr Zimmer gehen, als sie leises Weinen vernahm.

      Sie hielt inne, lauschte.

      Es gab keinen Zweifel, das Weinen kam aus dem Zimmer ihrer Schwägerin.

      Vorsichtig näherte sie sich der Tür.

      Was sollte sie jetzt machen?

      Hineingehen?

      Aber vielleicht wollte Doris ja allein sein.

      Als das Weinen in verzweifeltes Schluchzen überging, klopfte Bettina entschlossen, wartete einen Moment, doch als sie nichts hörte, drückte sie entschlossen die Türklinke herunter.

      Doris lag auf ihrem Bett und sah aus wie ein Häufchen Unglück.

      Mit wenigen Schritten war Bettina bei ihr, setzte sich auf die Bettkante, berührte die zuckenden Schultern ihrer Schwägerin.

      »Doris, meine Liebe, was ist denn los?«, erkundigte sie sich besorgt.

      Das Schluchzen ebbte ab. Langsam drehte Doris sich um. Sie

      musste schon länger geweint haben, denn ihr Gesicht war total verquollen.

      »Was ist passiert, Doris?«, wiederholte Bettina ihre Frage.

      Doris schluckte, ihr war anzusehen, wie schwer ihr das Sprechen fiel: »Es war …, es war unerträglich«, flüsterte sie mit vor innerer Erregung heiserer Stimme, »wie ein …, wie ein Schlag mit einer eisernen Faust in die Magengrube … Ich hielt es da unten nicht aus. Es lagen zwei Dinge herum, die Jörg gehörten, aber er … Bettina, er war nicht da, nicht der Duft seines After Shaves, nicht eine achtlos über den Stuhl geworfene Jacke.«

      Also hatte Doris es auch so empfunden wie sie.

      »Weißt du, was komisch ist, Bettina? Obschon es keine Präsenz von ihm dort unten gab, es alles so seelenlos war, wurde mir bewusst, wie sehr ich Jörg geliebt habe, wie sehr ich ihn noch immer liebe … Er ist meine große Liebe, warum war ich nur so dumm, ihn zu verlassen? Ich weiß schon, die Leni hätte jetzt wieder einen ihrer Sprüche parat, wie etwa – wenn es dem Esel zu wohl ist, geht er aufs Eis tanzen. Und so war es ja auch. Ich habe meine große Liebe verlassen. Kannst du mir mal sagen, wie bescheuert ich eigentlich war? Ich hatte das Leben einer Prinzessin in einem Ambiente, um das mich tausende von Frauen beneidet hätten. Und was hab ich gemacht? Ich hab herumgezickt und mich mit Alkohol zugeschüttet. Bettina, ich kann mich selbst nicht mehr begreifen. Die so bescheuert war, das konnte doch nicht ich gewesen sein.«

      »Du warst es aber, Doris, und jetzt darüber zu wehklagen, bringt auch nichts mehr. Das Rad der Zeit lässt sich nicht zurückdrehen. Du hast Jörg verlassen, und jetzt…«

      Sie brach ihren Satz, den Doris beendete: »Und jetzt ist es zu spät. ich werde damit leben müssen, dass ich mein Glück mit Füßen getreten habe … Jörg hatte so viel Geduld mit mir. Warum, bitte, sag mir, warum ich so verbohrt war?«

      »Ich weiß es nicht, Doris. Ich kann dir diese Frage wirklich nicht beantworten.«

      Sie schaute auf Doris, die sich wieder herumgeschmissen hatte und erneut jämmerlich weinte.

      Bettina stand diesem Ausbruch hilflos gegenüber, aber sie wusste, dass sie jetzt nicht eingreifen konnte und es auch nicht durfte. Sie musste Doris jetzt ihrem Schmerz überlassen, die von der Erkenntnis überwältigt worden war, dass sie freiwillig ihre große Liebe aufgegeben hatte.

      Das war schrecklich, doch mit oder ohne diese Erkenntnisse würde es doch nichts an der Tatsache ändern, dass Jörg nach einem Flugzeugabsturz verschollen war. Selbst wenn sie mit ihm gelebt hätte, wäre er jetzt für sie verloren.

      Vielleicht aber auch nicht. Vielleicht wäre er nicht zu dieser Weltreise aufgebrochen.

      Vielleicht ja, vielleicht nein … Es war ja so müßig, darüber Mutmaßungen anzustellen.

      Was immer auch passierte war von höherer Gewalt gelenkt, zumindest die wichtigen, die gravierenden Dinge des Lebens.

      Der liebe Gott hat mit jedem von uns etwas vor, dachte Bettina. Wir alle haben unser Schicksal, das uns vorbestimmt ist.

      Still blieb sie auf der Bettkante sitzen, versunken in ihre eigenen Gedanken. Sie wollte für Doris da sein, wenn die sich wieder ein wenig beruhigt hatte.

      *

      Bettina saß an ihrem Küchentisch beim Frühstück, dem sie allerdings nicht allzu viel Aufmerksamkeit widmete, denn ihre Gedanken wanderten immer wieder zu Doris, zu der gemeinsamen Frankreichreise, die sie beide, Doris vielleicht noch ein bisschen mehr, in Höhen und Tiefen erlebt hatten.

      Für sie war es in erster Linie eine emotionale Belastung gewesen, weil sie zum ersten Mal auf dem Chateau gewesen war, seit sie offiziell die Erbin des ganzen Anwesens war. Das hatte sie allerdings schnell verdrängt und sah sich, auch wenn das vielleicht ein wenig verrückt war, noch immer als Verwalterin, und glücklicherweise hatten das die Bewohner, ganz speziell Marcel, auch verstanden und akzeptiert.

      Vor Jörgs Schatten war sie allerdings mehr als einmal geflohen, weil es ihr fast das Herz gebrochen hatte zu wissen, dass er niemals mehr zurückkommen würde. Dass seine Reise nicht nur ein sorgloses Abenteuer rund um die Welt gewesen war, sondern ihn … in den Tod geführt hatte, und das musste sie endgültig akzeptieren, wenn sie sich nicht lächerlich machen wollte. Welche Beweise erwartete sie denn noch?

      Für die arme Doris war die Reise mehr als schmerzlich gewesen, hatte aber auch ihr Gutes gehabt, auch wenn das zunächst mit Schmerz verbunden war.

      Sie hatte sich ihrer Vergangenheit gestellt und konnte ihr Leben auf dem Chateau nun aufarbeiten, es würde hernach nichts mehr geben, was sorgsam in einer Schublade verschlossen war.

      Sie hatte erkannt, dass es nicht die »Anderen« gewesen waren, die ihr übel mitgespielt hatten, sondern dass sie selbst es gewesen war, die sich in diese Situation hineinmanövriert hatte. Sie war renitent gewesen und hatte sich selbst um das »Leben wie Gott in Frankreich« gebracht, was sie hätte führen können. Frankreich und das Chateau Dorleac waren nun nicht mehr ein dunkler Fleck, der ausradiert werden musste.

      Aber Jörg …

      Dass sie emotional mit ihrem geschiedenen Mann längst nicht fertig war, diese Erkenntnis hatte Doris den Boden unter den Füßen weggezogen, und es würde lange brauchen, ehe sie verarbeitet hatte, dass sie die große Liebe ihres Lebens verlassen hatte.

      Bettina

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