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Er betonte das Wort »lag« in besonderer Weise. Ich ging in der angegebenen Richtung, und bald konnte ich mich an einigen Brücken und Gewässern orientieren. Aber welches furchtbare Bild bot sich meinen Augen: Die halbe Stadt war abgebrannt, ein eigentümlicher Geruch lag in allen Straßen; von den größeren Gebäuden standen noch Kirchen, Universität und Magistratsgebäude. Vor dem letzteren, an dem ich vorbeikam, standen Tausende arme, halb-erfrorene Menschen und warteten auf das Austeilen von Brot. Eine furchtbare Leere in der ganzen Stadt; alle Wirtshäuser und die meisten Läden geschlossen. Endlich, nach langem Herumlaufen kam ich in die »lüttje Straat«, und pochenden Herzens stieg ich die Stiege meiner Wohnung hinauf, und klopfte an die mir wohlbekannte Tür; ein altes, greisenhaftes Weib ohne Haube mit zerzausten Haaren öffnete, und als sie mich sah, fuhr sie mit einem gellenden Schrei zurück und fiel wie leblos zu Boden.

      Es war meine Hausfrau. Eine Scheu hielt mich ab, mich teilnehmend um sie zu kümmern. Ich ging auf mein früheres Zimmer zu und drückte auf die Klinke. Mit einem Krach, als wäre sie eingefroren gewesen, ging die Türe auf; gleichzeitig fiel durch die Erschütterung ein dicker Band, ein medizinisches Lexikon, von der höchsten Stelle des Bücherregals mit einem dumpfen Schlag mitten in das Zimmer; eine dicke Staubwolke schlug mir entgegen; alles war fingerdick mit Staub bedeckt; meine anatomischen Präparate verschimmelt; alle meine Papiere und Schriften gelb und eingebogen; an den Ecken und Kanten der Möbel Spinngewebe; auf dem Tisch mit der gestrickten Decke lag ein Schreiben, welches weniger dick verstaubt war, als die übrigen Gegenstände; ich nahm es und ging damit zum Fenster, um es zu lesen; auf dem Weg dahin passierte ich den Spiegel; ich blickte in das vollständig blind gewordene Glas und blieb fast starr vor Schrecken: mein Haar war fast vollständig ergraut; mein Gesicht zitronengelb und ledern; meine Augen erloschen, und um die Mundwinkeln hatte ich, wie festgefroren, jenen Zug der Bitterkeit, wie ich ihn beim Mondmann in seinen düsteren Stunden bemerkt hatte. Entsetzt wandte ich mich ab und versuchte in meinem Gedankengang wenigstens die grauenhafte Couleur auf das schlechte Spiegelglas zu schieben.

      Auf dem Weg zum Fenster fiel mein Blick in’s Freie: ein schreckliches Bild der Zerstörung; nur schwarze Mauern und eingestürztes Gebälk. – Ich öffnete das Schreiben; es war von der Universität, und enthielt meine Relegation. Ich war erst fest entschlossen nicht zu weinen. Aber plötzlich wurde ich überwältigt. Und kaum fähig, mich noch aufrecht zu erhalten, machte ich noch einige Schritte, und brach dann schluchzend über meinem Bett zusammen. »Ach Gott!« – rief ich, auf den Knien liegend, und mein trockenes Gesicht in den staubigen Kissen vergrabend, – »ist das das Los, wenn wir aus Verzweiflung von der Erde fliehen, und andere Götter oder überirdische Gewalten aufsuchen; – zurückgekehrt, stoßen uns nun die Menschen auch von sich, und ohne einen überirdischen Besitz entdeckt zu haben, will man uns auch als irdische Bürger nicht mehr anerkennen, – und wir sind schwebend wie zwischen Himmel und Erde?« –

      Der Stationsberg

       Inhaltsverzeichnis

      … Die Nacht, in der sich alles seltsam verändert, Menschen müd und leblos wie versteinern, und Steingebilde zu phantastischem Leben erwachen.

      Lenau

      Eines Abends kam ich spät und ermüdet in ein unterfränkisches Dorf, dessen Name mir entfallen ist. Es mochte wohl am Fuße der Rhön gelegen sein, deren bergige Ausläufer in undeutlichen Umrissen am Horizont zu erkennen waren. Doch war es so regnerischtrüb, und bei der vorgeschrittenen Zeit so dunkel, daß von einer eigentlichen Erforschung des Ortes, wie weit das Dorf in die Berge vorgeschoben sei, keine Rede sein konnte. Wir mochten wohl um die Zeit zwischen Gründonnerstag und Ostern sein. Das Dorf, wußte ich, war berühmt durch seine Prozessionen. – Kein Mensch war auf der Gasse. Mehrmals war ich die breiten Straßen auf und ab gewandert auf der Suche nach einer Herberge, und allmählich war es stockfinster geworden. Als Beleuchtung für das ganze, nicht unansehnliche Dorf dienten drei Öllampen, in Laternen eingeschlossen, die, an Schnüren aufgehängt, quer über die Straße von Haus zu Haus hinübergebunden waren, und deren Scharnierwerk bei dem leichten Südwestwind ein kreischendes, ächzendes Geräusch hervorbrachte. Sonst war alles still. Keine zehn Leute hätten man in diesem großen Dorfe vermutet. Beim Schein der Laternen entdeckte ich endlich ein kleines Gasthaus: »Zu den heißen Tränen der Magdalena«. Ich klopfte und erhielt Einlaß. Der Wirt, ein kleiner, freundlicher Mann, bedauerte: für die Festtage sei alles überfüllt. – Ich war mißmutig und enttäuscht. – Ein kleines, hoch oben gelegenes Dachstübchen, meinte er, mit schlechtem Bett, sei alles, was er mir bieten könne. – Ich erklärte, mit allem zufrieden zu sein. Und da ich müde war, ließ ich mir sogleich hinaufleuchten. Es war ein kleines Dachzimmerchen mit tief bis in die Mitte vorspringendem Gebälk. Ein winziges Oberlichtfenster, gerade groß genug, um den Kopf bequem durchstecken zu können, befand sich über dem Bett. Ohne mich weiter im Zimmer umzusehen, löschte ich sogleich das Licht aus und begab mich zu Bett und schlief ein.

      Wie lange ich geschlafen, kann ich nicht sagen. Es war mitten in der Nacht, als ich plötzlich durch einen starken Stoß erwachte, der gleichzeitig einem fürchterlichen Traum ein Ende machte. Das Oberlichtfenster meines Zimmers war durch den Wind aufgefahren; ich fuhr erschrocken aus den Kissen, setzte mich im Bett auf, dessen Kopfteil sich gerade unter dem Fenster befand und erblickte ein merkwürdiges, fesselndes und schreckliches Schauspiel, welches ich anfangs geneigt war, für einen zweiten Traum zu halten. In die schmale Fensteröffnung, durch die knapp ein Kopf hätte durchgehen können, ragte nur ein Stück Himmel, und von unten her die dunklen Umrisse eines Bergrückens, auf dessen Kamm sich ein lange Reihe glitzernder Funken auf und ab bewegten. Die Luft war mild und feucht; die schweren Wolken des vorhergehenden Abends hatten sich verschoben; nur oben am Rand meines Fensterrahmens hing noch ein schmaler Saum schwarzen Gewölks. Dann kam ein Stück ganz reinen, trotz der Nacht fast blau erscheinenden Himmels mit funkelnden Sternen. Irgendeine Beleuchtungsquelle, der Mond, mir unsichtbar, vielleicht hinter dem schwarzen Wolkensaum oder über dem Dach, mußte die ganze Szene mit hellem Licht übergießen; so scharf trat alles hervor; durch die Mitte des Bildes lief dann der dunkle Bergrücken, der, wie ich jetzt bemerkte, durch Tannen gebildet war, und über den die Menge glitzernder, hüpfender Lichter in langsamer, aber stetiger Bewegung hinwegzog. Unten schloß der Fensterrahmen mitten durch den Berg das Bild ab.

      Ich starrte erschreckt auf das merkwürdige Schauspiel. Es war, als hätten sich sämtliche Irrlichter von zehn Meilen im Umkreis dort Stelldichein gegeben. Allmählich jedoch schärften sich meine Sinne, und ich gewahrte, daß die Lichter Kerzen waren. Unter den Kerzen gingen dichte Haufen kleiner schwarzer Menschen, die langsam und mühevoll den Berg hinaufkeuchten. Wie Karawanen von dunklen Ameisen, die jedes ein Fünkchen am Kopf angebunden haben, zog es ruckweise vorwärts, und wenn der Wind günstig zu mir herüberwehte, dann hörte man in feierlich-klagendem Ton immer die gleichen Worte: »Bitt’ für uns! – Bitt’ für uns!« Ich starrte wie gelähmt auf den gespenstisch-wunderbaren Vorgang. Mein kleiner Fensterrahmen erschien mir wie die Rampe eines Miniaturtheaters, über dessen Bildfläche kleine, feststehende Figürchen gezogen werden. Aber dann sah ich wieder, daß der Vorgang in der Natur spielte und der Horizont unermeßlich war; der Mond, und kein Theaterlicht, goß breite Lichtwellen auf die Szene, und die kühle Brise der Nacht schlug an meine Wangen. – Ruck für Ruck verfolgte ich die vorwärtskriechenden Ameisenknäuel schwarzer Menschen. Oft wurde wie auf Kommando haltgemacht, als gälte es die Verrichtung irgendeines wichtigen Geschäfts, und dann ging es wieder gleichmäßig vorwärts, als beseelte ein einziger, unausgesprochener Instinkt die ganzen Haufen. Und jedesmal, wenn der Wind herüberwehte, klang es monoton und flehend: »Bitt’ für uns! – Bitt’ für uns!« Und wenn der Wind quer herüberkam, dann klang es breit, dialektisch gefärbt: »Bett’ für uns! – Bett’ für uns!«

      »Wer: bitt’ für uns?« rief ich; »Bitt’ für wen? Wer seid ihr? Was macht ihr da droben?! – Bin ich in Liliput, wo kleine Nußknackergestalten winzige Lichter mit beiden Händen in die Höhe heben, und springen und hüpfen und quieksen. Bitt’ für uns! Bitt’ für uns!?« – Inzwischen aber wurde ich immer mehr wach; meine Sinne begannen sich zu konzentrieren. Ich wußte recht gut, ich war nicht in Liliput; aber die Sache mußte doch erklärt werden! Wer war das kleine, schwarze, fremdartige

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