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Gesammelte Werke. Oskar Panizza
Читать онлайн.Название Gesammelte Werke
Год выпуска 0
isbn 9788027204748
Автор произведения Oskar Panizza
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Inzwischen war der Zug auf der Spitze des Berges angelangt. – Wenn die bisherigen Vorgänge während des Aufstiegs wahrhaftig an Grauenhaftem, Possierlichem und Unauslegbarem gerade genug geboten hatten, so sollte dies alles mit dem Erklimmen der Bergspitze erst seinen Gipfel erreichen. Da standen drei kolossale weiße Balken, die hoch in die Luft hineinstarrten, und an den Balken waren hoch oben drei weiße Menschen festgeknebelt, die Arme am Querbalken schräg hinausgereckt. Am mittleren Balken hing wieder jener weiße malträtierte, junge Mensch. Die Häuschen waren hier verschwunden; die ganze Szene, die an wildem Schauder für jeder Häuschen zu groß gewesen wäre, war hier, gleichsam den Häuschen entrissen, hoch auf das Plateau des Berges in die Wirklichkeit und mitten unter die Schwarzen hineingestellt worden. Diese umstanden glotzend und verwundert die grauenhafte Szene. Alles schien hier haltzumachen, durch das allmähliche Nachrücken der Späteren im Zuge wuchs die Menge der Schwarzen ins Enorme. Und oben hingen die drei weißen Menschen. Alles Beiwerk war verschwunden. Die grinsenden weißen Gesichter und unflätigen Soldatenköpfe der früheren Häuschen waren zurückgeblieben. Der Kontrast dieser drei aufgehängten weißen Menschen und der riesigen Übermacht der Schwarzen war von ungeheurer Wirkung. Schließlich, dachte ich mir, ist das Ganze doch furchtbarer Ernst. Ein kolossales Stück wird dort oben tragiert, keine abgekartete Sache, sondern eine entsetzliche, blutige Handlung, deren Ausgang man noch nicht kennt. – Ich durchforschte die Ansammlung der Schwarzen und bemerkte, wie alles sich um drei langberockte, dickbäuchige, bebrillte Menschen konzentrierte, die noch gestickte Schärpen und goldflimmernde Mantillen über ihren Röcken trugen und eben große Folianten aufschlugen, in denen sie beim Schein der Kerzen eifrig lasen und dazwischen immer hinauf zu den drei weißen Menschen an den Balken glotzten.
Kein Zweifel, wir waren hier an einen der Hauptmomente der ganzen Tragödie gekommen. Aber, was war die Bedeutung? – Waren die drei Dickbäuche die Repräsentanten der Schwarzen? Und die drei weißen ausgemergelten Menschen an den Balken die Vertreter der Weißen? Handelte es sich um einen Kampf der Fetten mit den Mageren? Wo war aber der Rest der Weißen? Offenbar fehlten zwischen dieser Szene auf der Spitze des Berges und dem letzten Häuschen mehrere Mittelglieder. Aber die Tannen versperrten dort jede Aussicht. – Hatte inzwischen ein Kampf stattgefunden? Hatten die Schwarzen einige von den Weißen gepackt und erdrosselt und hier als Siegeszeichen aufgehängt, während die übrigen in die Wälder zerstoben waren? – Aber das Verhalten der drei Weißen unter sich gab mir neue Bedenken. Während nämlich der mittlere, arme, traurige Mensch ruhig und resigniert, mit gesenktem Kopf am Balken hing, streckte der auf seiner linken Seite zu meiner größten Verwunderung die Zunge heraus, die weiß und gipsern war wie der ganze Mensch, reckte dem in der Mitte in höchst despektierlicher Weise das Gesäß hin und schien überhaupt der ganzen tragischen Szene nicht die geringste Beachtung zu schenken, indem er mit der größten Gleichgültigkeit über den Wald hinblickte, in einer Richtung, in der, wie ich später gewahr wurde, ein Wirtshaus lag. – Den dritten weißen Mann konnte ich nicht sehen, weil die Kerzenträger sich so hinter einen der dickbäuchigen Sachwalter der Schwarzen gestellt hatten, daß dieser einen mächtigen Schattenkegel auf den dritten Balken warf, durch den der weiße Mensch und noch ein großer Teil des dahinterliegenden Waldes verfinstert wurde.
»Bitt’ für uns! Bitt’ für uns!« brachte jetzt wieder der Wind zu mir herüber. Ja, bitt’ für uns! dachte ich mir, – bitt’ für wen? Wer soll denn für euch bitten? Was fehlt euch denn? Seid ihr krank? Jetzt habt ihr die Weißen erst aufgehängt, nun sollen sie für euch bitten? Könnt ihr ohne die Weißen nicht existieren? Seid ihr ein Doppelgeschlecht, wobei Weiße und Schwarze die äußersten Qualitäten ein und desselben Ichs bezeichnen, die sich bekriegen und doch immer wieder vereinigen müssen? Oder was soll die ganze Komödie da droben? – Der eine der Dickbäuche fing jetzt in schnarrendem Ton aus dem Folianten zu lesen an. Ich war zu weit entfernt, um es zu verstehen; aber es war eine fremde Sprache. Die Schwarzen hatten sich jetzt allmählich alle vor den drei weißen Menschen an den drei Balken versammelt; und da die ganze weinerliche Szene mit den drei weißen Figuren immer jenseits der Schwarzen von meinem Standpunkt aus sich abspielte, die Schwarzen also zwischen mir und den drei Balken sich befanden, so sah ich nichts wie schwarze Buckel. – Alles blickte wie fasziniert auf das weiße Antlitz des armen Menschen am mittleren Balken, auf das der Hauptstrom der Kerzenlichter fiel. Oft atemlose Stille, als wartete man auf eine Antwort – vielleicht von einem der weißen Menschen oben. Von Zeit zu Zeit streckte sich eine Hand blitzartig aus der Masse gegen den mittleren Balken zu aus. Alle Köpfe folgten dann der angedeuteten Richtung. Der bebrillte glatzige Kopf des Dickbauches hörte dann auf einen Moment mit dem Lesen auf und glotzte ebenfalls hinauf. Ich strengte meine Sehkraft an, so gut ich konnte, ob vielleicht von oben, von dem weißen Menschen am mittleren Balken, etwas erfolge, ein freundliches Lächeln oder ein spöttisches Zucken, eine vielsagende Nickbewegung wie von dem Komtur auf dem Friedhof im »Don Juan«, oder ein trauriges Kopfschütteln. Aber nichts! – Und der Foliantenträger las weiter. Und die Menge wimmerte leise mit.
Wie zufällig und ermüdet von der trostlosen Szene schweifte mein Blick noch einmal den Berg hinauf, den die Menge heraufgekommen war. Die weißen Puppen waren tief in ihren Häuschen versteckt, und da die Kerzenbeleuchtung fehlte, so konnte man von ihrem ferneren Tun und Treiben wenig erkennen. Nur hie und da blitzte eine weiße Hand heraus, oder ein gestikulierender Kopf wurde sichtbar. Aber plötzlich hielt ich inne: ein kleines, blondes Mädchen, das ich anfangs hinter den Tannen nicht bemerkt hatte, sprang lustig und leichtfüßig den Berg herauf. Offenbar stand es mit der ihm voranziehenden Menge außerhalb jedes Zusammenhanges und verstand von dem sich abspielenden Vorgang und seinen Leidenschaften und Exzentrizitäten so wenig wie ich. Vielmehr schien es die weißen Figuren, die ihm nicht entgingen, wie wirkliche Puppen zu behandeln und sich in seiner mädchenhaften Weise mit ihnen zu beschäftigen.
Die Kleine mochte vielleicht vierzehn Jahre zählen und hatte große blonde Zöpfe. Vor dem Häuschen, wo das Weib mit der karierten Schürze so jämmerlich geschrien hatte, kniete sie sich hin und breitete ihre Arme aus; dann zog sie ein rotes Herzchen aus der Tasche und schenkte es der schönen, weißen, jungen Frau im Häuschen, die eine Krone auf dem Haupte hatte, machte allerlei Knixe und Verbeugungen, band ihre Zöpfe mit den Fingern der weißen Frau zusammen und brach dann in ein lautes Gelächter aus. Endlich sprang sie weiter, den Berg hinauf, unter allerlei sonderbaren Gesten, wie es ganz junge Mädchen machen, die sich unbeachtet wissen; gab den Tannenzweigen die Hand, sprach zum Mond hinauf und machte vor den Rosenhecken Komplimente.
Aber ein furchtbares Gekreisch brachte meine Aufmerksamkeit zum Gipfel des Berges zurück. Dicht unterhalb der drei Balken, in einem ähnlichen Häuschen, wie die oben beschriebenen, aber geräumiger und von ebener Erde aus zugänglich, lag der weiße Mensch längshingestreckt, wie tot, im Bett. Der Mund offen, die gipserne Zunge nachlässig heraushängend, ganz nackt, nur um die Hüfte ein Tuch. Die Schwarzen, die