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sich nicht selten als hochintelligente und sinnlich raffinierte Bestien entpuppten, und die Wucht dieser Wahrheit wird durch die spätere, thunlichste Hervorhebung edlerer Charakterzüge nicht abgeschwächt. Auch ist es ein unlösbarer Widerspruch, gewissermassen in einem Atem in den Handlungen der Wilden das Tierische als das Vorherrschende, ihre Ausschweifungen aber als sporadische Verirrungen zu bezeichnen. Wohl hat noch Altmeister Peschel manche schnöde Sitte als „örtliche Verirrung“ oder „Sittenverwilderung“ gedeutet, und in einzelnen beschränkten Fällen ist diese Auffassung auch nachweisbar die richtige. Seit einem Jahrzehnt und darüber hat indes die Völkerkunde die Zahl solcher „Verirrungen“ derart vermehrt, dass sie keineswegs mehr als örtliche oder sporadische, sondern geradezu als Regel erscheinen, auf welche die mildere Deutung nicht mehr anwendbar ist, weil durch keinerlei Beweisgründe gestützt. Natürlich sind unter den Kulturarmen wiederum unzählige Abstufungen vorhanden, welche vom Ärmsten zum Reichsten hinanführen; wiederum ist es aber nur logisch vorauszusetzen, dass diese an Gesittungsschätzen Allerärmsten ihrem Vorgänger, dem Urmenschen, am nächsten kommen. Nur dieses, und nicht, dass der dermalige Naturmensch den kulturlosen, tierähnlichen Urmenschen der Entwicklungslehre darstelle, drängt sich einem logisch denkenden Hirn mit fast zwingender Notwendigkeit auf, sobald es die lediglich auf subjektivem Glauben, nicht auf Wissen beruhende Lehre ursprünglicher Vollkommenheit als mit der Analogie alles positiv Erforschten unvereinbar erkannt hat. Es bedarf dazu der Annahme nicht, dass die Kulturarmen seit der Urzeit gelebt und die damaligen Sitten und Gebräuche unverändert beibehalten hätten. Wäre dies der Fall, so gäbe es ja heutzutage noch wahre Wilde, die bekanntlich dermalen vergeblich auf Erden gesucht werden. Wer aber die Zähigkeit der Sitten und Gebräuche bei den geschichtlichen Völkern nicht absichtlich übersehen will, wer nicht die gesamte Forschung über die Überbleibsel der alten Heidenzeit inmitten unserer europäischen, christlichen Kulturwelt über den Haufen zu werfen gesonnen ist, wer dann vollends mit unserer rasch fortschreitenden, alles umgestaltenden Gesittung die Abgeschlossenheit der Ideenkreise, die Unbeweglichkeit und Unveränderlichkeit bloss des uns so nahe liegenden Morgenlandes vergleicht, der wird vernünftigerweise an der Altertümlichkeit der Sitten niedriger Völker keinen Zweifel hegen dürfen. Die Nomaden Syriens und Arabiens denken und leben noch wie zur Zeit Abrahams; die Nachrichten der Alten über die Brahmanen und Fakire Indiens scheinen wie im neunzehnten Jahrhunderte geschrieben. Und nun sollen die Sitten noch weit unbeweglicherer, geistig viel beschränkterer Völker nicht aus uralten Epochen herrühren? Man sieht, eine solche Annahme ist bare Willkür und schlägt aller Analogie ins Gesicht.

      Wie alt aber die Sitten der Kulturarmen auch sein mögen, sie bekunden sicherlich schon einen unermesslichen Fortschritt gegenüber den ersten Anfängen der Urzeit. So weit wir die Geschichte rückwärts zu schauen vermögen, überall sind selbst die rohesten Menschenhorden im Besitze der Sprache, der einzigen hohen Schranke zwischen Mensch und Tier. Wie lange aber es gedauert, ehe der sprachlose Urmensch (Homo alalus) zum redenden Wesen sich entwickelte, entzieht sich jeder Berechnung. Auch die rohesten Wilden der Geschichte wie der Gegenwart haben teil an den eigenartigen Gütern der Menschheit und erweisen ihre Zusammengehörigkeit durch die Kunst, Nahrung, Obdach, Schmuck und Kleidung zu bereiten, Nährpflanzen zu ziehen, Nutztiere zu züchten und höchst zweckmässige Geräte und Waffen zu verfertigen. Alle Wilden kennen ferner, wenn auch in mehr oder weniger ausgebildetem Grade, die Zählkunst, den Ausdruck der Gemütsbewegungen durch Lachen und Weinen, durch Gesang und Musik, durch Spiel und Tanz. Sie sind vertraut mit dem Austausche der Freundschaft, mit Begrüssungs- und Höflichkeitsformen, sind der Mode und Etikette unterworfen, feiern zum Teil Geburts-, Hochzeits- und Totenfeste, halten Ernte- und Siegestänze. Alle haben zum mindesten einen gewissen Schatz abergläubischer Vorstellungen, welche der genügsame Forscher als die ältesten Spuren von Religion betrachtet, alle kennen und üben den Krieg. Sie leben endlich, wenn auch auf unterster Stufe, horden- und familienweise, haben einen Begriff von Eigentum und Sitten, welche die Begegnung der Geschlechter und die Hinterlassenschaft der Verstorbenen regeln, besitzen in ihren Stammessatzungen eine Art Rechtsgemeinschaft, stehen meist unter einer Obrigkeit und haben auch einigen Anteil am Ruhme der Erfindungen. Es bedarf wohl keiner weiteren Ausführung, dass die Gesittungshabe der Urzeit im Sinne der Entwicklungslehre eine beträchtlich geringere gewesen sein müsse. Die Sitten niedrigster Menschenstämme der Jetztzeit können daher als eine Art Grenze gelten, hinter welcher noch die Urzeit liegt, und in diesem Sinne ist deren Heranziehung bei urgeschichtlichen Betrachtungen ganz unerlässlich. Nicht als Vertreter urzeitlicher Zustände, sondern bloss als Wegweiser zu denselben haben sie zu dienen. Ist diese oder jene Sitte an der dermaligen äussersten Kulturgrenze nachweisbar, so spricht alle Wahrscheinlichkeit dafür, dass die Urzeit noch hinter derselben zurückgeblieben, im günstigsten Falle sie erreicht hat.

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