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Die menschliche Familie nach ihrer Entstehung und natürlichen Entwickelung. Friedrich von Hellwald
Читать онлайн.Название Die menschliche Familie nach ihrer Entstehung und natürlichen Entwickelung
Год выпуска 0
isbn 4064066112547
Автор произведения Friedrich von Hellwald
Жанр Документальная литература
Издательство Bookwire
[30] Tito Vignoli. Über das Fundamentalgesetz der Intelligenz im Tierreiche. Versuch einer vergleichenden Psychologie. Leipzig, 1879. S. 227–228.
V.
Naturmensch und Urmensch.
Von dem eigentlichen Urzustande der Menschheit — so habe ich schon vor Jahren an einem andern Orte ausgeführt[31] — vermögen wir uns kein zutreffendes Bild zu entwerfen, da es uns hierzu an jeglichem Anhaltspunkte oder Vergleiche gebricht. Selbst die rohesten Wilden der Gegenwart haben augenscheinlich einen höheren Gesittungsrang errungen, als man dem Urmenschen zusprechen kann. Überall finden sich dermalen mehr oder weniger entwickelte gesellschaftliche Gliederungen, irgend eine wenn auch noch so rohe Vorstellung von einer Gottheit, endlich gewisse Künste, ja sogar Luxusgewerbe, und ein Schatz von Dichtungen. Kurzum man hat erkannt, dass es wirklich wilde Völker nicht giebt; nicht einmal aussprechen lässt sich, welches Volk auf Erden überhaupt am tiefsten, d. h. dem Naturzustande am nächsten stehe. Zwar liest man oft von diesem oder jenem Stamme, er befinde sich auf der denkbar niedrigsten Stufe und erhebe sich kaum über die Tierheit; stets fand sich aber auch ein Verteidiger, welcher den Angeschuldigten nach Kräften und auch nicht erfolglos von dem ausgesprochenen Verdachte reinigte und um etliche Staffeln der Gesittungsleiter emporrückte, indem er zu seinen Gunsten diese oder jene übersehene Sitte, Einrichtung oder Geistesäusserung beibrachte. Gewiss muss unter den jetzt lebenden Völkern eines den tiefsten Rang einnehmen, welches es ist, lässt sich aber mit Bestimmtheit nicht sagen. Nur ganz im allgemeinen kann man durch Abschätzung und Vergleichung der Kulturunterschiede bei einzelnen Stämmen die Überzeugung gewinnen, dieses Volk stehe höher oder tiefer als jenes. So ist denn auch die vielgebrauchte Bezeichnung „Naturvölker“ im Gegensatze zu den „Kulturvölkern“ eine den thatsächlichen Verhältnissen nicht entsprechende, insoferne als jene keineswegs mehr im Naturzustande leben. Nur in dem Sinne darf man von Naturvölkern sprechen, als sie in der Regel mit dem sich begnügen, was die Natur ihnen unmittelbar und freiwillig darbietet, sie daher ganz von deren Laune abhängen. Sie sind aber, so weit sich heute absehen lässt, nicht ohne jegliche Gesittung, nicht kulturlos, sondern nur kulturarm. Nirgends giebt es da schroff gezogene Grenzen, überall vielmehr zahlreiche Schwankungen und Abstufungen, nicht bloss zwischen, sondern auch innerhalb der aufgestellten Gruppen, so dass insbesondere das Bereich der gesitteten Menschheit von der ungesitteten durch Grenzpfähle sich nicht abscheiden lässt. Auch so viel haben die neueren ethnologischen Forschungen festgestellt, dass keinem der heute auf Erden lebenden Menschenstämme die geistige Anlage, sich auf höhere Zustände emporzuschwingen, abgesprochen werden darf. Es entspricht den Thatsachen, aktive und passive Rassen zu unterscheiden; aber, wie Lippert sehr richtig bemerkt, in jeder Rasse, in jedem Volke, in jeder Menschengruppe werden sich Typen aus beiden Gattungen finden,[32] und nur das durch Zuchtwahl beeinflusste Überwiegen des einen oder des anderen wird dem Ganzen seine Eigenart als vorherrschendes Merkmal aufdrücken.
Die unter den zahlreichen Menschenstämmen der Gegenwart und der Vergangenheit — so weit wir davon Kunde besitzen — unleugbar obwaltenden Abstufungen gestatten nun, an ihnen bis zu einem gewissen Grade der Wahrscheinlichkeit die Entwicklungsgeschichte der ganzen Menschheit zu studieren. Unter den Wilden, und selbst unter den allerrohesten, bei denen unter den an die Oberfläche tretenden ursprünglichen, tierischen (primären) Instinkten kaum noch die Keime zu den jüngeren edleren Regungen zu erkennen sind, lässt sich lernen, wie unser Geschlecht allmählich zum menschlichen Dasein sich emporgearbeitet und die Grundlagen der Gesittung erworben hat. Dieser Fortschritt hat sich nicht lückenlos, sondern oft mit langen Stillständen, selbst mit vereinzelten, durch äussere Ursachen veranlassten Rückfällen vollzogen; immerhin ist gestattet den Weg der Menschheit rückwärts bis zu seinem Ausgangspunkt zu ahnen, den man frühestens in die Tertiärzeit und an die äusserste Grenze des Tierreichs verlegen darf, an jene denkwürdige Stelle, wo aus dem höchstbegabtesten Lebewesen der vermutlich sprachlose Urmensch ganz allmählich, ohne jeglichen Sprung, sich entwickelte. Es ist hier nicht meine Aufgabe, dem freundlichen Leser ein der allgemeinen Kulturgeschichte angehöriges Gemälde dieser Vorgänge im Lichte des wissenschaftlich Möglichen zu entrollen; nur Bruchteile des gesamten Kulturlebens, Familie und Ehe, sollen in diesem Buche Gegenstand der Betrachtung sein. Doch ist es unthunlich, dieselben aus dem Ganzen derart loszulösen, dass die dasselbe beeinflussenden Meinungen nicht auch für sie massgebend wären. Es darf daher nicht verschwiegen bleiben, dass der eben kurz angedeutete entwicklungsgeschichtliche Gedanke (dessen Durchführung in grossem Massstabe durch die ganze Menschheitsgeschichte zuerst, schon vor Jahren, versucht zu haben ich vielleicht wähnen darf), trotz des Anklanges, den er bei unbefangenen Denkern und Freunden der naturwissenschaftlichen Methode gefunden, durchaus nicht nach jedermanns Geschmack ist. Die Gegner sind namentlich auf dogmatischer Seite zu suchen, welche an dem biblischen Berichte von der ursprünglichen Paradiesesunschuld und dem darauffolgenden Sündenfalle festhält, welche die Bevorzugung des Urmenschen in Form göttlicher Belehrung oder einer ausserordentlichen Führung bis zur Möglichkeit der eigenen Fortbildung für „unvergleichlich anmutiger“ und „wissenschaftlich annehmbarer“ erachtet, als die „Herabwürdigung“ desselben zum tierischen Urerzeuger. Diese von ihrem Glaubenseifer völlig berauschte Schule erblickt auch in den kulturarmen, geschichtslosen Stämmen der Gegenwart nicht zurückgebliebene, sondern von ihrer uranfänglichen Reinheit in ihre dermaligen „Laster“ versunkene Menschen und spricht unter Berufung auf die ganz unerweisliche, leere Behauptung: philosophia quaerit, religio possidet veritatem der modernen Forschung das Recht ab, aus den bei den heutigen Wilden herrschenden Sitten und Empfindungen Schlüsse auf noch ältere Zustände, auf die Urzeit und den Urmenschen zu ziehen. Obwohl das Beharren bei diesem dogmatischen Gesichtspunkte in vielen Stücken lediglich subjektive Geschmackssache ist, die mit ernstem Forschen nach wissenschaftlicher, objektiver Wahrheit nichts gemein hat, scheint doch eine tiefere Begründung der für uns massgebenden Ansichten an dieser Stelle geboten.
Was gegen dieselben von den Bibelgläubigen vorgebracht wird, hat mit grossem Fleiss und Geschick Dr. Wilhelm Schneider in seinem zweibändigen Werke[33] zusammengetragen. Zweierlei soll erhärtet werden: dass auch der allerroheste Wilde, sowohl leiblich wie geistig und sittlich, noch hoch über dem höchsten Tiere stehe; dann aber dass die Naturvölker „entartet“ und die Voraussetzung unbewiesen und unbeweisbar sei, dass die rohesten Wilden dem menschlichen Urzustande am nächsten stünden:[34] „Nein, auf gleichem Niveau mit den Zuständen der äussersten Wildheit (d. i. die Entartung) ist die Bildungsstufe unserer Stammeltern nicht gelegen,“[35] ruft Dr. Schneider aus. Für alle Anhänger der Darwinschen Entwicklungslehre bedarf die erstere der beiden Behauptungen keines Beweises; es heisst das offene Thüren einstossen. Ein anderes ist es mit der angeblichen „Entartung“ der Naturvölker, welche auch von einem Gesinnungsgenossen Schneiders, dem Oberlandesgerichtsrat Dr. Karl Schmidt in Kolmar, verfochten wird.[36] „In geschichtlicher Zeit,“ sagt dieser, „sind bekanntlich manche Völker, die einst eine hohe Bildungsstufe einnahmen, später in Barbarei gesunken, und kein Grund nötigt zu der Annahme, dass eine derartige Entartung der Völker in vorgeschichtlicher Zeit nicht vorgekommen sei. Es kann daher nicht angenommen werden, dass in vorgeschichtlicher Zeit sämtliche Völker vom Zustande der Roheit zu dem der Gesittung vorgeschritten seien.“ Die letztere Schlussfolgerung ist unzulässig. Die Geschichte bewahrt uns kein Beispiel, dass jemals ein Volk von der erreichten Gesittungshöhe von selbst