ТОП просматриваемых книг сайта:
Die menschliche Familie nach ihrer Entstehung und natürlichen Entwickelung. Friedrich von Hellwald
Читать онлайн.Название Die menschliche Familie nach ihrer Entstehung und natürlichen Entwickelung
Год выпуска 0
isbn 4064066112547
Автор произведения Friedrich von Hellwald
Жанр Документальная литература
Издательство Bookwire
So wenig wie das Erröten kann auf ihrer untersten Stufe die Menschheit die Schamhaftigkeit besessen haben. Unterscheidet man mit Julius Lippert ursprüngliche, ältere (primäre) Instinkte, d. h. solche, welche allen Menschen von Haus aus unbedingt gemeinsam sind, und jüngere (sekundäre), welche später und nicht von allen, auch nicht von allen gleichmässig im Laufe ihrer Entwicklung erworben wurden, so ist die Schamhaftigkeit unzweifelhaft ein solcher Instinkt jüngerer, gesellschaftlicher Art. „Auf der ersten Stufe,“ so führt Lippert überzeugend aus, „wird die möglichste Verstärkung des Geschlechtssinnes von wohlthätigen Folgen für die Erhaltung der Art. Je feiner die Sinne für die Wahrnehmung geschärft werden, je intensiver und unmittelbarer auf die Sinnesempfindung der Antrieb folgt, desto weniger besorgt braucht Mutter Natur um die Arterhaltung ihrer Geschöpfe zu sein. Die Intensität dieses Instinktes ist in der That bei allen Geschöpfen ausserordentlich gross; sie führt sie mit Ausserachtlassung der grössten Gefahren für das Individuum dem Ziele zu. Seiner Intensität nach nimmt dieser Instinkt auf höheren Entwicklungsstufen nicht ab, je nach der Anzahl seiner Impulse verstärkt er sich noch. Zu den Sinneseindrücken, welche im Tiere sowohl, als auch im Urmenschen die entsprechenden Reflexerscheinungen, wie wir sie wenigstens einer Analogie nach nennen können, auslösen, gesellt sich auf einer höheren Stufe die willkürliche und unwillkürliche Reproduktion des Gedächtnisses und der Einfluss einer entwickelteren Vorstellungskraft. Um so notwendiger erscheint, sobald die Menschen zu erweiterter Fürsorge auf der Basis der Gesellschaft fortschreiten, ein zügelnder Instinkt.“[58] Dieser hat aber ursprünglich so wenig bestanden, wie gegenwärtig auch beim Tiere; erinnert doch noch die biblische Überlieferung an einen Urzustand, in welchem die Menschen das Gefühl geschlechtlicher Scham nicht besassen. Der Standpunkt der Schamhaftigkeit, auf dem wir heutigen Tages in Europa stehen, ist also nicht etwas von Hause aus Gegebenes und ein- für allemal Unwandelbares, sondern vielmehr ein sehr wandelbares Erzeugnis jener Kultur, welche sich hauptsächlich in der Entwicklung allgemein menschlicher und auch bei den Naturvölkern zu findenden Anlagen offenbart.[59] Der Neger z. B. besitzt die gleiche Anlage zur Schamhaftigkeit wie wir, aber auf den allerverschiedensten Stufen der Ausbildung. Thatsache ist, dass es noch heute eine grosse Menge von Völkern giebt, bei welchen eine Schamhaftigkeit in unserem Sinne gar nicht vorhanden ist. Brauch und Sitte entscheiden eben allein über Verstattetes und Anstössiges, und erst nachdem sich eine Ansicht befestigt hat, wird irgend ein Verstoss zu einer verwerflichen Handlung.[60] Allerdings ist bei barbarischen Stämmen vieles des Charakters des Herausfordernden entkleidet, das einen solchen erst einem geübteren Verknüpfungs- (Kombinations-) und Vorstellungsvermögen gegenüber gewonnen hat. So ist auf dem Standpunkte der Bibel vieles als Thatsache längst unter das abwehrende Gesetz der Scham gestellt, aber noch nicht das nackte, unverblümte Wort dafür und der nackte Bericht. Seither ist das Schamgefühl fortgeschritten, indem es auch das Wort verbietet, welches die Vorstellung mit konkreter Bestimmtheit oder gerade nach der Richtung hin hervorruft, in welcher sich jener Instinkt bewegt. Dieser Fortschritt vollzieht sich noch in unserer Zeit, und es ist noch nicht allzulange her, dass er angebahnt wurde.[61]
So schämt der Kulturmensch sich jeder Handlung, wenigstens vor andern, die aus Notwendigkeit hervorgeht, selbst der zur Erhaltung des Organismus unbedingt unerlässlichen. Während er aber anstandlos isst, trinkt, raucht, schnupft, dünken ihm alle Ausscheidungen gleichsam unverdiente Erniedrigungen, die der Haushalt des tierischen Leibes ihm auferlegt. Über sie vor allem trachtet das Schamgefühl einen dichten Schleier zu werfen, um vor andern zu erscheinen, als seien wir so rein und sehenswürdig, wie die Lilien in der Sprache der Evangelien. An dieses unser Naturleben wollen wir nicht gemahnt sein und verhüllen daher ängstlich die Organe und Körperteile, welche diesem ausschliesslichen Zwecke dienen. In der gesitteten Gesellschaft mit ihrer hochgradigen Scheu vor der Nacktheit existiert diese Seite unseres Naturlebens scheinbar gar nicht, und in der Rede geschieht von deren Vorhandensein keinerlei Erwähnung. Vollends aber wird das Schamgefühl durch jede, auch die leiseste Anspielung auf das Erotische empfindlichst beleidigt, freilich bei Völkern, wie bei Individuen nicht immer im gleichen Grade. Und das kleine Kind des Kulturmenschen kennt die Scham ebensowenig wie das Tier. Dieses kommt nie dazu, weil es nicht zum Bewusstsein des Geistes gelangt, das Kind aber erst dann, wenn es in sich den qualitativen Gegensatz zwischen Geist und Körper zu fühlen beginnt. Ganz rohe Stämme, die auf dem Standpunkte des Tieres oder richtiger auf jenem kleiner Kinder stehen, wissen deshalb auch nichts von unserer Schamhaftigkeit. Ohne alle Scheu vollziehen sie Verrichtungen, welche der Kulturmensch sorgfältig fremden Blicken entzieht, und es ist nur zu beklagen, dass die meisten Reisenden, welche uns mit fernen Völkern vertraut machen, über Dinge, die ihrer Aufmerksamkeit unmöglich entgehen konnten, eine zwar erklärliche, aber wissenschaftlich recht anfechtbare Zurückhaltung beobachten zu müssen glauben. So sagt z. B. Alfred Lortsch in einer sonst verdienstvollen Studie über Neukaledonien: „Die Tracht der Neukaledonier ist eine sehr sonderbare und keineswegs geeignet, hier speziell beschrieben zu werden.“[62] Mit solcher Zurückhaltung wird der Wissenschaft herzlich schlecht gedient. Hunderte von Reisewerken wird man deshalb enttäuscht aus der Hand legen, ehe man auf eine jener Mitteilungen stösst, welche einen direkten Schluss auf das Schamgefühl der beschriebenen Völker gestatten würden.
In der Beurteilung der Frage, ob einem Volke der Sinn für Schamhaftigkeit abgehe oder bis zu welchem Grade derselbe etwa vorhanden sei, werden häufig, ja sogar gewöhnlich ganz verschiedene Regungen vermengt und insbesondere Sittsamkeit oder Anstandsgefühl und Keuschheit mit Schamhaftigkeit verwechselt. Keuschheit (Castitas) oder, was das Nämliche ist, Züchtigkeit erheischt zunächst strenge Eindämmung der geschlechtlichen Verrichtungen innerhalb der von der Sittenlehre vorgeschriebenen Schranken. Sie paart sich mit der Sittsamkeit, dem äusseren Anstande, welcher seinerseits jeglichen Hinweis auf das Geschlechtsleben, sei es in Wort oder Gebärde, verbietet. Auf der obersten Stufe steht die geschlechtliche Scham (Pudor), welche vor der leisesten Andeutung dieser Prozesse zurückbebt und daher vor allem die tierische Seite des menschlichen Körpers fremden Blicken zu entziehen beflissen ist. Zwischen ihr und der Sittsamkeit walten feine psychologische Unterschiede, die nur selten die gebührende Beachtung finden. Mit der Keuschheit im obigen Sinne hängt das Schamgefühl dagegen nur lose zusammen. Die Keuschheit betrifft das verborgene, die Schamhaftigkeit das augenscheinliche Thun und Lassen. Niemand schämt sich vor sich selbst, stets nur vor dritten; die Keuschheit wird bewahrt oder verletzt auch ohne Zeugen. Daraus ergiebt sich, wie sehr wohl Unkeuschheit mit Schamgefühl, Schamlosigkeit mit Keuschheit vereinbar ist. Die feinen Lebemänner unserer Grossstädte, wie die eleganten Damen der sogenannten Halbwelt lassen sich kaum einen Verstoss gegen die Sittsamkeit zu Schulden kommen, während die Unzüchtigkeit ihres Wandels keinem Zweifel unterliegt und wahres Schamgefühl höchstens in Gegenwart unberufener Dritter sich ihrer wohl bemächtigen würde. Umgekehrt fehlt es nicht an geschlechtlicher Zurückhaltung, an Keuschheit, bei einzelnen, wie bei ganzen Völkern, die im Punkte der Schamhaftigkeit, wie wir sie auffassen, unendlich viel, fast alles zu wünschen übrig lassen.
Aus dem Gesagten erhellt, dass wenn man vielleicht mit „Schamlosigkeit“ den Mangel an Keuschheit, Sittsamkeit und Schamgefühl zusammenfassend bezeichnen darf, doch nur für letzteres, nicht auch für Anstand und Züchtigkeit, in der grösseren oder geringeren Entblössung des Körpers ein Massstab zu suchen ist. Nur die Vermengung dieser verschiedenen Begriffe verleiht dem Schamgefühl eine viel grössere Ausdehnung, als ihm thatsächlich zukommt. Auf verschiedenen Stufen und unter verschiedenen Gestalten ist das Schamgefühl fast unter allen Wilden