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in Zweifel setzen, dass eine und dieselbe Erscheinung, wie es das Erröten ist, bald den Abglanz der Unschuld, bald das Kainszeichen der Schuld vorstellen soll. Beim Kulturmenschen tritt als letzter Grund des Errötens die Rücksichtnahme auf die Beurteilung durch andere auf; es zeigt sich daher fast unausweichlich, wenn er in Gegenwart dritter eine die Schamhaftigkeit verletzende Handlung begehen soll, eine solche sieht oder auch nur davon hört. Es ist ein Gedicht, welches die Tugend mit rosenfarbener Tinte auf die Wangen schreibt.

      In der Beurteilung der Frage, ob einem Volke der Sinn für Schamhaftigkeit abgehe oder bis zu welchem Grade derselbe etwa vorhanden sei, werden häufig, ja sogar gewöhnlich ganz verschiedene Regungen vermengt und insbesondere Sittsamkeit oder Anstandsgefühl und Keuschheit mit Schamhaftigkeit verwechselt. Keuschheit (Castitas) oder, was das Nämliche ist, Züchtigkeit erheischt zunächst strenge Eindämmung der geschlechtlichen Verrichtungen innerhalb der von der Sittenlehre vorgeschriebenen Schranken. Sie paart sich mit der Sittsamkeit, dem äusseren Anstande, welcher seinerseits jeglichen Hinweis auf das Geschlechtsleben, sei es in Wort oder Gebärde, verbietet. Auf der obersten Stufe steht die geschlechtliche Scham (Pudor), welche vor der leisesten Andeutung dieser Prozesse zurückbebt und daher vor allem die tierische Seite des menschlichen Körpers fremden Blicken zu entziehen beflissen ist. Zwischen ihr und der Sittsamkeit walten feine psychologische Unterschiede, die nur selten die gebührende Beachtung finden. Mit der Keuschheit im obigen Sinne hängt das Schamgefühl dagegen nur lose zusammen. Die Keuschheit betrifft das verborgene, die Schamhaftigkeit das augenscheinliche Thun und Lassen. Niemand schämt sich vor sich selbst, stets nur vor dritten; die Keuschheit wird bewahrt oder verletzt auch ohne Zeugen. Daraus ergiebt sich, wie sehr wohl Unkeuschheit mit Schamgefühl, Schamlosigkeit mit Keuschheit vereinbar ist. Die feinen Lebemänner unserer Grossstädte, wie die eleganten Damen der sogenannten Halbwelt lassen sich kaum einen Verstoss gegen die Sittsamkeit zu Schulden kommen, während die Unzüchtigkeit ihres Wandels keinem Zweifel unterliegt und wahres Schamgefühl höchstens in Gegenwart unberufener Dritter sich ihrer wohl bemächtigen würde. Umgekehrt fehlt es nicht an geschlechtlicher Zurückhaltung, an Keuschheit, bei einzelnen, wie bei ganzen Völkern, die im Punkte der Schamhaftigkeit, wie wir sie auffassen, unendlich viel, fast alles zu wünschen übrig lassen.

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