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Die menschliche Familie nach ihrer Entstehung und natürlichen Entwickelung. Friedrich von Hellwald
Читать онлайн.Название Die menschliche Familie nach ihrer Entstehung und natürlichen Entwickelung
Год выпуска 0
isbn 4064066112547
Автор произведения Friedrich von Hellwald
Жанр Документальная литература
Издательство Bookwire
Die Entblössung zum Massstabe nehmend, verweist man wohl mit Recht in die unterste Klasse der Schamlosen alle jene Stämme, welche im Zustande völliger Nacktheit lebten oder noch leben. Auf diese Liste gehören die Guantschen, d. h. die ausgestorbenen, angeblich halbgesitteten Bewohner der Kanarischen Inseln, desgleichen, nach den Beschreibungen der ersten spanischen Entdecker, die dahingeschwundenen Bewohner der Bahamainseln, der Kleinen Antillen, sowie eine Anzahl von Küstenstämmen des heutigen Venezuela und Guyana.[66] In letzterem Lande fand noch Alexander von Humboldt die meisten Völkerschaften, selbst solche mit schon ziemlich entwickelten Geisteskräften, so nackt, so arm, so schmucklos, wie die Neuholländer. Bei der ungeheuren Hitze, beim starken Schweiss, der den Körper den ganzen Tag über und zum Teil auch bei der Nacht bedeckt, ist jede Bekleidung unerträglich. Die Putzsachen, namentlich die Federbüsche, werden nur bei Tanz und Festlichkeiten gebraucht.[67] Vor hundert Jahren beobachtete G. T. Marlier die brasilischen Puri in völliger Nacktheit, und in solcher ergehen sich heute noch die Trumai und Suya am Schingu, welche Dr. Karl von den Steinen erst 1884 besucht hat.[68] Desgleichen die Engeräckmung oder Botokuden sowie die Pescheräh auf Feuerland. Zu Cooks Zeiten gingen bei vielen Australierstämmen beide Geschlechter ganz nackt, und einige sind auch heute noch kaum weiter gekommen. So nach John Forrest die Westaustralier, die doch von der Witterung viel zu leiden haben.[69] Am Kap York in Nordaustralien gehen nach Frank Jardine wenigstens die Männer völlig entblösst, die Frauen mit einem blossen Laubgürtel, in den sie vorn ein paar Palmblätter einfügen.[70] Dr. Adolf Bernhard Meyer fand bei seiner Bereisung Neuguineas an der Geelvinksbai ebenfalls Stämme, die Tarungareh, welche „ganz und gar nackt gehen, ohne jede, auch die geringste Bekleidung“.[71] Cañamaque sprach den philippinischen Tagalen alles Schamgefühl ab: „Männer wie Weiber, besonders in der Provinz, lassen sich splitternackt erblicken, ohne die geringste Verlegenheit zu zeigen.“[72] Ganz ähnlich benehmen sich die Mincopies auf den Andamanen.[73] Afrika ist nicht minder reich an solchen Beispielen. Splitternackt sind nicht bloss die Buschmänner im Süden des schwarzen Erdteils, sondern auch die sanftmütigen Adiye oder Bubi auf der Insel Fernando Po. David Livingstone fand die Bawe am Sambesi, Sir Samuel White Baker etliche Stämme am Weissen Nil, wie die Latuka, ganz nackt, und das nämliche bestätigt Georg Schweinfurth für die Schilluk, Nuer und Dinka, John Petherik für die Dschangar. Von den ostafrikanischen Wataweta, die erst jetzt bekannt werden, sagt einer ihrer Erforscher, H. H. Johnston: „Beide Geschlechter entbehren jedes Begriffs und jeder Vorstellung von Scham. Die Männer besonders sind sich völlig unbewusst, dass Nacktheit unschicklich sei.“[74] Auch den Wadschagga schreibt dieser Forscher „fast tierische Unbewusstheit des Schamgefühls“ zu.[75] Ja, die Neukaledonierinnen gehen soweit, dass sie Abortus treiben, geradezu aus Buhlkunst, nämlich um das Welken von Reizen zu verhüten, welche die Schamhaftigkeit der Europäerinnen sorgfältig verbirgt, sie aber der Öffentlichkeit preisgeben.[76] Bei allen diesen Menschen ist die Nacktheit buchstäblich zu nehmen.
In die Klasse von Mantegazzas halbschamhaften Völkern darf man vielleicht die grosse Reihe jener einstellen, bei welchen der aufkeimende Instinkt des Schamgefühls das vormannbare Alter noch nicht einschliesst. Viele Menschenstämme legen nämlich die Bedeckung erst mit der Altersreife an, lassen also die Kinder, Knaben wie Mädchen, bis zur Pubertät noch völlig nackt. Diese Sitte findet sich bei den Aschira in Westafrika, den Gamergu im mittleren Sudan, den Chaymas in Mittelamerika, den Neuhebrideninsulanern und vielen andern. Als ich in den sechziger Jahren die ungarische Tiefebene durchritt, war der Anblick völlig nackter Zigeunerkinder, darunter selbst halbwüchsiger Mädchen mit bronzefarbener Haut, durchaus keine Seltenheit. Ägyptische Bildwerke, die Häuslichkeit der Pharaonen darstellend, zeigen selbst die Prinzessinnen im Königshause bis zu jenem Lebensalter noch gänzlich unbekleidet. Diese Sitte reicht, Knaben und Mädchen umfassend, sehr allgemein noch in ziemlich hohe Epochen herauf. Viele Stämme lassen endlich die Mädchen unbekleidet, und zwar bis zur Verheiratung, andere dagegen bloss die verheirateten Frauen, die Mädchen nicht. Letzterer Fall ist allerdings der weit seltenere, doch huldigen einige Afrikaner auch diesem Gebrauche. Bei manchen Völkerschaften geht nur eines der Geschlechter, ohne Rücksicht auf Alter und Stand, bekleidet, das andere gar nicht. Die Männer der Dinka z. B. sind geradezu stolz auf ihre Nacktheit; sie erachten Kleidung für entehrend und als eine ausschliessliche Sache der Weiber, daher sie den Reisenden Georg Schweinfurth ironisch bloss „das Weib der Türken“ nannten.[77] Ich möchte es dahingestellt sein lassen, ob diese Völker überhaupt schon zu den Halbschamhaften gerechnet zu werden verdienen.
Die Halbschamhaftigkeit reicht übrigens bis zu ganz ansehnlicher Kulturhöhe hinauf. Bildhauereien auf alten indischen Tempeln beweisen deutlich, dass ein Volk bis zu einer bedeutenden Gesittungsstufe sich erheben und deshalb füglich nicht mehr zu den Schamlosen gezählt werden kann, ohne dabei die leiseste Notwendigkeit einer Bekleidung einzusehen. Dies ist aber der Fall bei den Frauen, die dem predigenden Buddha lauschen, und selbst Buddhas Weib, sowie seine Mutter, Maya, werden in der Regel nackt dargestellt. Fergusson behauptet sogar, dass bis zur muhammedanischen Eroberung in Indien Nacktheit durchaus nicht das Anstandsgefühl verletzt habe.[78] Jedenfalls duldet dasselbe auch heute noch in Benares, gelegentlich auch sonst in Hindustan bis nach Assam, den Anblick der scheusslichen Aghori oder Aghorpunts, einer Sekte, deren Mitglieder, splitternackte Zweifüssler, den cynischen Ausdruck des menschlichen Pessimismus darstellen.[79]
Es ist vielleicht hier der Hinweis am Platze, dass auch die längst gut bekleideten klassischen Alten in ihren Bildwerken eine auffallende Schaustellung des Nackten übten, was gewiss nicht sein könnte, hätte nicht wirklich das Nackte noch in ihre Gesittung hineingeragt, wäre ihr Schamgefühl so ausgebildet gewesen als das unserige. Ich rede nicht von so archaistischen Darstellungen wie jene der behelmten, sonst aber ganz nackten Äginatenkrieger,