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      Kapitel 6

       Mittwoch, 30. Mai, 05:00 Uhr – Wohnsiedlung des Stützpunktes, Kwajalein

      Ich hatte schon seit drei Tagen nicht mehr mit Kate gesprochen, und wusste deshalb nicht, ob es ihr und den Kindern gut ging, und besaß auch keinerlei Mittel, um es herausfinden zu können. Eine Pandemie grassierte momentan auf der Erde. Jemand könnte einen Anschlag auf unser Land verübt haben. Wir konnten nicht mit der Außenwelt kommunizieren, und ich durfte die Insel nicht verlassen und hatte deshalb keine Ahnung, was ich jetzt unternehmen sollte.

      Stundenlang wälzte ich mich im Bett herum, während die Mühlen meines Unterbewusstseins laut mahlten, um das Problem irgendwie zu lösen. Im Dämmerzustand zwischen Schlafen und Wachen, wenn mein Verstand die Welle zu reiten versuchte, rasten Gedankenfetzen in meinem Kopf herum wie Laub im Wind. Ich kam von einer Sache zur anderen, bewertete sie immer wieder neu und stürzte mich dann auf einige Ideen. Die meisten ließ ich aber wieder hinter mir, wie eine Honigbiene auf einer Wiese, die von Blüte zu Blüte zog. In der Regel wachte man dabei nicht zwangsläufig auf, doch schwierige Probleme, so scheint es, bedurften unserer vollen Besinnung.

      Plötzlich kam mir ein vielversprechender Gedanke, dem ich auf jeden Fall nachgehen musste. Zunächst betrachtete ich ihn nur wie eine Person, die man zu kennen glaubt, aber nicht richtig zuordnen kann. Letzten Endes aber ergriff mein Bewusstsein die Initiative, eilte zur Antwort und hielt daran fest, bevor sie mir wieder entschlüpfen konnte. Als ich sie dann endlich zu fassen bekam, fand ich sie schwierig, aber sie schien mir trotzdem offensichtlich zu sein. Warum hatte ich nur so lange gebraucht, um darauf zu kommen?

      Nachdem ich schlagartig richtig wach geworden war, setzte ich mich aufrecht hin. Ich musste unbedingt mit Jeff sprechen.

      ***

      Wie bescheuert radelte ich durch die hell erleuchteten Straßen, die angesichts des frühen Morgens wenig überraschend vollkommen leer waren. Ein kräftiger, sehr feuchter Gegenwind wehte mir entgegen, was wohl auf bevorstehenden Regen hindeutete. Deshalb fuhr ich langsamer und musste fester treten, als mir lieb war, vor allen, da ich trotz der angenehmen Nachttemperatur leicht schwitzte. Das ärgerte mich.

      Schließlich erreichte ich aber Jeffs Wohnung. Nach mehreren vergeblichen Versuchen, den Ständer umzuklappen, schimpfte ich auf das Fahrrad, einen leblosen Gegenstand, und stieß es einfach um, als könne ich ihm so eine Lehre erteilen. Hoffentlich wurde ich dabei nicht beobachtet.

      Als ich zur Haustür gehen wollte, erschrak mich jemand, der plötzlich zwischen den Hecken hervortrat.

      »Oh, fast wäre ich ausgerutscht«, sagte er zu sich selbst.

      Es war Jeffs Nachbar Randy, der mit Abstand unausstehlichste Mensch, den ich jemals kennengelernt hatte.

      Schnell lief ich zum Gehsteig zurück, damit er mich nicht entdeckte. Randy zählte zu den Gammlern, so nannten wir die Arbeitslosen auf Kwaj, die sich nur von ihren Ehepartnern aushalten ließen. Davon gab es zwar viele, doch auf Frauen, die keinem Beruf nachgingen, weil sie sich stattdessen um ihre Kinder kümmern mussten, schaute niemand hinab. Ein Mann jedoch, der vom Gehalt seiner Lebensgefährtin lebte – vor allem ältere und kinderlose wie Randy – wurden weithin geächtet. Dieser Umstand hatte aber wenig damit zu tun, dass ich ihn nicht mochte, und war strenggenommen auch nicht der Grund dafür, dass ihn eigentlich überhaupt keiner ausstehen konnte.

      Er kam nun in einem neuen glänzenden Jogginganzug zu mir hinübergelaufen, der mindestens eine Nummer zu klein für ihn war, und fing mich auf dem Weg ab.

      »Hast du das gesehen? Ich wäre fast ausgerutscht«, rief er.

      »Um genau zu sein, bist du ausgerutscht«, entgegnete ich, während Randy seine Haare glattstrich.

      »Was?«

      Er runzelte die Stirn und schaute mich verwirrt an. Selbst im Dunkeln wirkte sein Schnurrbart künstlich, und dass er sein Gesicht hatte liften lassen, erkannte man noch dazu deutlich. Das passiert, wenn ein alternder Mann versucht, den einzigen Vorzug festzuhalten, den er jemals hatte – sein Aussehen, obwohl es sich schon Jahrzehnte zuvor verschlechtert hatte.

      »Na ja, du bist doch schließlich auf den nassen Blättern ausgerutscht, oder nicht?«, fragte ich.

      »Ja«, sagte er und lächelte mich dann schief an.

      »Also bist du nicht fast ausgerutscht, sondern wirklich. Du bist fast hingefallen, das stimmt.«

      »Ach, egal!«, fuhr er laut auf wie üblich, wenn er ein Gespräch beenden wollte, dessen Inhalt ihm zu hoch war – was wahrscheinlich auf die meisten Gespräche zutraf.

      »Ich hab’s wirklich eilig«, erklärte ich ihm nun.

      »Um diese Uhrzeit?«, fragte er grinsend.

      »Bis später, Randy.«

      Lästig wie immer ging er noch einen Schritt mit mir und streckte dann seinen Arm aus, um mich aufzuhalten. »Hey, noch was: Hast du gehört, wie das Wetter wird? Ich wollte morgen zum Angeln rausfahren.«

      Ich hätte nicht darauf eingehen müssen und ihn einfach aus dem Weg drängen können, aber er wäre mir trotzdem weiterhin gefolgt, und wenn ich eine Person nicht bei mir haben wollte, wenn ich gleich mit Jeff redete, dann ihn.

      »Randy, ich höre nichts vom Wetter.«

      »Aber wie wird es denn?«, fragte er mich wieder.

      »Das Wetter wird nicht …« Ich setzte neu an: »Pass auf, ich habe keine Lust, jetzt über das Wetter zu reden. Morgen sieht es bestimmt nicht viel anders aus als an beliebigen anderen Tagen hier. Wie lange wohnst du denn schon auf der Insel?«

      »Na hör mal«, brummte er. »Bist du denn kein Wetterfrosch?«

      »Ich bin ein Me-te-o-ro-lo-ge«, betonte ich, indem ich ihm die Silben langsam einzeln vorsagte. »… kein Wetterfrosch

      »Ich will mich doch einfach nur mit dir unterhalten.«

      »Morgen scheint meistens die Sonne, doch Schauer sind durchaus möglich.« Das hatte ich mir gerade spontan aus den Fingern gesogen. »Also, wenn du mich jetzt bitte entschuldigen würdest?«

      »Ja, geh nur«, erwiderte er, wandte sich ab und lief davon.

      Ich klopfte an Jeffs Tür, doch dieser öffnete nicht. Als ich am Knauf der Tür drehte, ging sie einfach auf. Absperren war auf Kwaj nämlich nicht üblich. Ich schaute mich in der Wohnung um, fand ihn aber nicht. Er hatte offenbar nicht einmal in seinem Bett geschlafen.

      Als ich an seinem Büro vorbeifuhr, brannte dort kein Licht, und auch im EOC fand ich ihn nicht. Meine letzte Möglichkeit war der einzige andere Ort, an dem ich ihn ansonsten manchmal traf: sein Bootshaus.

      Schiffseigner auf Kwaj durften sich solche Gebäude am Hafen zulegen. Theoretisch dienten sie auch zu Reparaturarbeiten an Booten, doch in Wahrheit handelte es sich oft um private Villen mit Blick auf die Lagune.

      Das Bootshaus von Familie Riggins war ein stattliches Tropenparadies. Dort genoss man eine sagenhafte Aussicht, und der Schatten sowohl an der Nordseite als auch im Süden wegen der in Reihe stehenden Palmen schützte nachmittags in gebührender Weise vor der brennenden Sonne. Das Hauptgebäude belief sich auf einen alten, weißen Wohncontainer, doch diesen konnte man nach zahlreichen Anbauten im Laufe der Jahre kaum wiedererkennen. Zur Lagune hin hatte Jeff eine Sitzterrasse aus Treibholz gezimmert und üppig im Tropenstil dekoriert. Ein Paar Flipflops – die Schuhe schlechthin auf den Marshallinseln – hing mit Nägeln befestigt über dem Eingang. Eine Kette mit Ananas-Lichtchen, die sich über den Sitzbereich zog, spendete nachts gerade so viel Licht, dass man einander sah, jedoch ohne die Sterne am Himmel auszublenden. Ein Deckenventilator, dessen Blätter Palmwedeln nachempfunden waren, rotierte kontinuierlich, und das vermutlich schon seit seiner Installation. In einem Klima wie diesem, wo Metall so schnell rostete, schaltete niemand irgendetwas aus, denn andernfalls ruinierte die feuchte, salzige Luft die Geräte im Nu. Die Werkstatt des Bootshauses lag windwärts, sodass man beim Arbeiten den zusätzlichen

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