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erstaunlich.

      Als ich sah, wie viel Uhr es war, beschloss ich, bis zum Mittag zu warten, weil ich genau wusste, wo sich Bill zu dieser Zeit immer aufhielt. Bis dahin packte ich für die Reise. Nachdem ich die wichtigsten Punkte auf meiner Liste abgehakt hatte, stöberte ich in den Schubladen und Schränken nach Sachen, die wir bei unseren Überlegungen vergessen hatten. Man konnte zum Beispiel nie genug Taschenlampen beziehungsweise Batterien dabeihaben, und ob sich dieses kleine Klappmesser, das mir in der Küche in die Hände fiel, nicht vielleicht eines Tages als nützlich erweisen würde? Wie ein Einbrecher kippte ich den Inhalt der Schubladen auf den Boden und riss mit einem Zug auch alles aus den Schrankfächern heraus.

      Als ich nahezu all meinen Besitz durchsucht hatte, lag eine ganze Menge Zeug verstreut auf dem Boden. Plötzlich dämmerte es mir, wie unnütz unser Besitz größtenteils war. Wir horteten so viele teure Sachen, deren Gesamtwert wahrscheinlich den Betrag überstieg, den die meisten Menschen auf der Welt in ihrem ganzen Arbeitsleben verdienten. Doch wenn es ums Ganze ging, war fast nichts davon von Belang.

      Schließlich ging ich zum letzten Schrank und zog eine Kiste heraus. Als ich den Deckel öffnete, musste ich kurz innehalten. Ich setzte mich mitten in das Durcheinander und klappte ein Fotoalbum auf. Ein Bild von Kate war auf der ersten Seite eingeklebt. Sie hielt Elaine im Arm, die gerade auf die Welt gekommen war, und strahlte bis über beide Ohren. Auch nach vierundzwanzig Stunden mit qualvollen Wehen hatte sie einfach nur umwerfend ausgesehen. Im Laufe der Jahre war sie in meinen Augen nur noch hübscher geworden. Die nächste Seite galt Charlie auf dem Fahrrad, das er zu seinem vierten Geburtstag bekommen hatte. Es war seine Erlösung von dem »Babyanhänger« gewesen, in dem Kate ihn immer hinter ihrem Rad mitgenommen hatte, und Jahre später hatte er sich dann geweigert, es für ein »Rad für große Jungs« aufzugeben, obwohl es im bedenklichen Zustand und viel zu klein gewesen war – aber eben sein Allererstes und darum auch sein liebstes.

      Ich spürte plötzlich einen Kloß in meinem Hals, als ich das Album zuklappte, und legte es behutsam zurück in die Kiste. Dann stand ich auf und wollte gerade hinausgehen, als ich stehen blieb. Kurze Zeit später setzte ich mich wieder in Bewegung, stockte aber dann doch noch einmal. Schließlich stürzte ich zurück zu der Kiste und öffnete sie. Nachdem ich alle Fotos von Kate, den Mädchen und Charlie auf seinem Rad aus dem Buch herausgerissen hatte, steckte ich sie ein.

      Als ich wieder auf die Uhr schaute, war es höchste Zeit. Ich trat zur Tür, drehte mich um und warf einen letzten Blick auf unsere Habseligkeiten. Ich hatte eine riesige Unordnung verursacht, aber alles, was ich wirklich brauchte, befand sich jetzt in einer einzigen Sporttasche, die mitten im Raum auf dem Boden stand, außerdem in meiner Hose und ganze fünftausend Meilen weit weg. Als ich hinten rausging, stieß ich auf Charlies altes Rad, das einsam an einer Stange vor sich hin rostete, als erwarte es seine Rückkehr. Falls wir nicht wiederkommen sollten, war mir klar, was mit dem kleinen Drahtesel geschehen würde, den Charlie so sehr liebte. Die Feuchtigkeit und der hohe Salzgehalt der Luft würden es bald vollkommen zersetzen. Ich reckte meinen Hals, um die Tränen zu unterdrücken, die mir unwillkürlich kamen, und machte mich auf den Weg zur Kantine.

      ***

      Vom Aussehen her entsprach Bezirkspolizeileiter Bill Callaway kein bisschen dem Bild, das man von jemandem in seiner Position hatte. Seine schulterlangen Haare und der Bart passten überhaupt nicht zu einem Cop, noch dazu auf einem Militärstützpunkt. Sein stämmiger Körperbau zusammen mit seiner Marke und Pistole schüchterte die meisten Fremden ein, doch nachdem ich vier Jahre lang mit ihm in einer Basketballmannschaft zu Ligaspielen angetreten und sein Freund geworden war, kannte ich ihn als freundlichen, gutherzigen Mann – abseits des Feldes wohlgemerkt. Beim Spielen war er hingegen ein richtiges Tier, das mit ausgestreckten Ellbogen herumwirbelte und auch gerne mal seine Knie einsetzte. Für mich stand felsenfest, dass er einen Sherman-Panzer einfach aus dem Weg geschoben hätte, um einen Abpraller zu fangen.

      Ich wusste, ich würde ihm um Punkt elf Uhr unterwegs zum Mittagessen in der Kantine begegnen. Er fand sich gerne früh dort ein, schon kurz nachdem sie geöffnet hatte, um nicht Schlange stehen zu müssen. Dabei entging ihm aber anscheinend, dass er auch genauso gut einfach durch jede Menge nach vorn hätte laufen können, ohne von jemandem aufgehalten zu werden. Hoffentlich war sein Partner Tim heute nicht bei ihm wie nahezu immer. Dieser hatte kurz rasierte Haare und makellos gewichste Stiefel, ging stets im Stechschritt wie ein Soldat und stellte in vielerlei Hinsicht einen Gegenentwurf zu Bill dar. Dass Tim bereit war, meiner Bitte nachzukommen, erwartete ich nicht, weshalb ich ihm unseren Plan auch unbedingt vorenthalten wollte.

      Als ich vor dem Polizeiamt ankam, war es 10:58 Uhr, und Bill trat gerade heraus – leider mit seinem Kollegen gleich hinter ihm. Ich fluchte leise. Ich hätte zwar abwarten können bis später, um mir den Sheriff allein zu krallen, doch nach meinem Empfinden standen wir ziemlich unter Zeitdruck. Also musste ich mir rasch etwas einfallen lassen.

      Als sich unsere Blicke begegneten, nickte ich leicht, und Bill erwiderte meine Geste. Die beiden blieben stehen, bis ich mein Rad abgestellt und mich ihnen angeschlossen hatte. Dann gingen wir die hundert Yards gemeinsam zur Kantine.

      »Hallo Kumpel!«, rief Bill und klopfte mir wie so oft auf den Rücken – es war offenbar seine Art des Händeschüttelns. Tim nickte nur.

      »Warum erweist du uns heute die Ehre?«

      »Ich dachte, ich sollte euch zweien mal ein Mittagessen ausgeben.«

      Die beiden lachten über meinen Witz, denn für Bewohner der Insel kostete das Futter nichts. Dies war eine unserer Annehmlichkeiten vor Ort.

      Ich grübelte nach, wie ich eine Möglichkeit finden konnte, Tim loszuwerden, und legte mich dann schnell auf die einzige Sache fest, die mir einfiel. Der Typ arbeitete nämlich nicht nur als Bezirkssheriff im Polizeibüro, sondern war auch der einzige Schlosser auf Kwaj.

      »Tim, seit dem Taifun haben wir Schwierigkeiten mit dem Ziffernschloss am Osteingang der Wetterstation. Könntest du vielleicht mal nachsehen gehen, was damit nicht stimmt?«

      »Klar, mache ich gleich nach dem Essen.«

      »Jetzt sofort wäre wirklich super. Wir dürfen diese Tür nicht einfach offenlassen, und das Problem besteht jetzt schon seit mehreren Tagen. Das ist zwar keine große Sache, aber so lauten eben die Bestimmungen.« Ich hätte mir selbst in den Hintern treten können, weil ich ihm mit dem letzten Satz einen Anlass gegeben hatte, meine Bitte auszuschlagen.

      »Dann reicht’s ja auch, wenn ich mich nach dem Lunch darum kümmere«, sagte er. »Außer uns würde dich ja schließlich sowieso niemand verpfeifen und das würden wir nicht tun.«

      Ich verharrte, während ich fieberhaft nach einem anderen Einfall suchte, und wurde zusehends nervöser. Wenn mich nicht alles täuschte, schöpfte er bereits Verdacht. Polizisten lassen sich schließlich nicht so ohne Weiteres hinters Licht führen. Ich hätte einfach rundheraus darum bitten sollen, unter vier Augen mit meinem Freund zu sprechen, doch Tim wäre dann bestimmt neugierig auf den Grund dafür gewesen, und es wäre gut möglich gewesen, dass Bill mich hinterher in die Pfanne hauen würde. Ein Geheimnis für sich zu behalten ist schließlich wesentlich schwieriger, wenn jemand anderes weiß, dass man eines hat. Darum gab ich nach und zwang mich zu einem Lunch mit beiden.

      Nachdem wir uns als Ansässige ausgewiesen hatten – Auswärtige, die Kwaj besuchten, mussten für das Essen bezahlen –, reihten wir uns hinter den Wartenden am Buffet ein wie Rinder vor einer Schlachterei. Das einzig beständig Positive am Futter in der Kantine war die Auswahl. Selbst wenn dies oder das mal weniger gut schmeckte, fand man meistens mehrere genießbare Alternativen.

      Bill und Tim zog es wie die meisten Feuerwehr- und Polizeibeamten zu einem Tisch in der Nähe des Eingangs. Wir hielten während des Essens fast nur seichten Small Talk. Ich wäre Bill gegenüber gerne schnell zur Sache gekommen, hatte aber noch so viel Verstand, dass ich mein Glück nicht weiter herausforderte, solange Tim zugegen war.

      Während ich mich in Belanglosigkeiten erging, schaute er plötzlich nach links auf etwas hinter mir.

      »Oh Gott, seht mal, wer da kommt«, sagte er.

      Beide Polizisten senkten sofort ihre

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