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einen Moment, dann trat er ein. Nala sass im vorderen Raum am Tisch, tief über einen Teller gebeugt. Als sie ihn eintreten sah, lächelte sie ihn an. „Hungrig?“, fragte sie.

      Er nickte.

      Sie stand auf, schöpfte ihm aus dem Topf auf dem Herd eine grosszügige Portion der aufgewärmten Suppe in eine Schüssel und lud ihn mit einer Handbewegung ein, zu ihr an den Tisch zu sitzen. Eine Weile schaute sie ihm zu, wie er die Suppe gierig in sich hineinlöffelte, dann sagte sie: „Du hast dich gut geschlagen heute Nachmittag.“

      Karo errötete. Mit einem Kompliment hätte er nach seiner ungeschickten Vorstellung zuletzt gerechnet.

      „Ich hatte Angst“, gab er schliesslich zu.

      „Ich auch.“

      „Du?“, wunderte er sich. „Du wirktest so gelassen. Du wirkst immer gelassen.“

      Sie lachte freudlos. „Weisst du, wie viele Menschen schon unter meinen Händen gestorben sind? Irgendwann habe ich gelernt, dass es nichts bringt, wenn ich nervös werde. Ich kann nichts tun ausser mein Bestes zu geben, und das kann ich nur geben, wenn ich ruhig bleibe. Der Rest liegt nicht mehr in meiner Macht.“ Ihr Blick verlor sich im flackernden Licht der Kerze, und Karo bemerkte einen feuchten Glanz in ihren Augen. Das erschütterte ihn mehr als alles andere, was er heute erlebt hatte. Nala, die starke, gütige Nala weinte? Er suchte nach tröstenden Worten, doch ihm fielen nur Banalitäten ein. „Du bist die beste Heilerin, die das Dorf je hatte. Das sagen alle, sogar die Ältesten der Alten“, sagte er schliesslich

      „Und ihr seid das beste Dorf, das eine Heilerin sich wünschen kann. Ich habe auch keine Angst davor, dass ihr mir einen Vorwurf macht. Sieh nur dich an. Vor zwei Monden starb dein kleiner Bruder unter meiner Hand, und du sitzt mit mir an einem Tisch und versuchst mich zu trösten.“

      Karo bekam einen Kloss im Hals. Keinen Augenblick hatte er daran gedacht, Nala die Schuld am Tod seines Bruders zu geben. Er wollte ihr das erklären, doch Nala winkte ab. „Ich bin es selbst, die sich Vorwürfe macht. Jedes Mal, wenn meine Heilkunst versagt und im Ahnenwald ein neues Grab ausgehoben wird, liege ich nächtelang wach und frage mich, ob ich wirklich das Menschenmögliche gemacht habe.“ Sie wischte sich mit dem Handrücken über die Augen, setzte eine gezwungen fröhliche Miene auf und sagte: „Weisst du was? Bei Walda hat unsere Heilkunst nicht versagt. Kurz bevor du kamst, ist er für einen Moment aufgewacht. Er hat tüchtig getrunken und gegessen. Er wird es schaffen.“

      Sie stand auf. „Ich sollte mich wohl noch auf der Versammlung zeigen. Kannst du hier die Nachtwache übernehmen?“ Dann ging sie zur Tür. Kurz bevor sie ins Freie trat, drehte sie sich noch einmal um und sagte. „Wehe, du erzählst jemandem, dass ich geweint habe. Das ist ein Geheimnis, das nur uns etwas angeht.“

      5

      Als Karo früh am nächsten Morgen erwachte, lag er neben Walda auf dem Boden des Krankenzimmers. Jemand, vermutlich Nala, hatte ihn zugedeckt. Er sah nach Walda. Erstmals seit er ihn gefunden hatte, sah sein Gesicht völlig entspannt aus. Frisch gewaschen wirkte er jünger, als Karo gestern angenommen hatte. Vielleicht 18 Winter, schätzte er, eher noch jünger.

      Die beiden Teekrüge an seinem Bett waren halb leer. Offenbar war er in der Nacht aufgewacht und hatte getrunken. Karo wertete es als gutes Zeichen, dass er dies bereits ohne fremde Hilfe tun konnte. Leise erhob er sich und ging in den Hauptraum. Nala lag in ihrem Bett und schlief tief. Er öffnete die Ofenklappe, sah, dass vom Feuer der vergangenen Nacht noch immer ein Glutrest übrig war und legte Holz nach. Dann schlich er nach draussen.

      Auch in der Hütte seiner Familie schliefen noch alle. Also nahm er den Feuereimer und ging damit zur Nachtweide, auf der ihre Ziegen, Schafe, Kühe und Pferde durch einen Zaun aus Brombeerranken gegen Räuber geschützt waren. Der schlimme Winter vor vier Jahren hatte ihre Herde massiv dezimiert. Von ursprünglich 40 Kühen und Kälbern hatten nur gerade 10 den Winter überlebt; den Rest mussten sie schlachten, damit das Futter für die anderen reichte. Und von den Ziegen und Schafen waren ihnen von einer einst stolzen Herde von gegen 300 Tieren gerade 50 geblieben. Immerhin hatten sie fast alle Pferde durchgebracht. Es waren schwere, gutmütige Tiere, und ohne sie wäre die Arbeit auf den Feldern und im Wald zu einer mühseligen Plackerei ohne Aussicht auf anständige Erträge geworden. Doch jetzt schienen die Tiere alle bei guter Gesundheit zu sein. Eine so grosse Herde wie vor dem schlimmen Winter würden sie im Dorf aber wohl nie mehr haben, die Weiden an den Hängen der umliegenden Hügel gaben einfach nicht mehr genug Futter her.

      Die Feuerhaufen, welche die Nachtwachen zur Abwehr von Wölfen und Luchsen angezündet hatten, waren niedergebrannt, aber tief unter der Asche gab es noch viel Glut. Mit einer kleinen Metallschaufel lud Karo ein paar Brocken in den Eimer und ging wieder nach Hause. Überall kamen nun Menschen aus den Hütten, um demselben Morgenritual zu folgen.

      Daheim legte er die Glut in den Steinofen und gab Tannenspäne und getrocknete Fichtenzapfen dazu. Er blies das Feuer an, und als es lichterloh brannte, legte er drei schwere Scheite auf, die neben dem Herd gestapelt waren. Während das Feuer begann, den Raum und die Kochplatte aus Eisen zu wärmen, nahm er den Milchkrug und machte sich auf den Weg zu Aru.

      Aru war einer der Alten des Dorfes. Seit einem Jagdunfall hinkte er stark, und auch sonst hatte das Alter bei ihm Spuren hinterlassen. Aber zum Melken der Tiere reichte es noch gut, und mit den Jahren hatte er einige Meisterschaft in der Bereitung von Käse entwickelt.

      An diesem Morgen war Aru nicht wie sonst üblich vor dem Haus anzutreffen, wo er normalerweise keine Gelegenheit ausliess, um mit allen, die ihre Milch holten, einen ausgiebigen Schwatz zu halten. Karo wollte sich schon Sorgen machen, doch dann sah er durch die Tür, deren obere Hälfte offen war, dass der alte Mann mit der Familie seines einzigen Sohnes beim Frühstück sass. Karo beschloss, sie nicht zu stören und schöpfte mit einer hölzernen Kelle Milch aus dem Fass in seinen Krug.

      Er wollte gerade wieder heimgehen, als er den Alten nach ihm rufen hörte. Er drehte sich um und trat an die halb geöffnete Tür. Aru musterte ihn lang und ernst. „Heute geht ihr nicht fischen“, sagte er dann. „Sag das den andern.“

      Nachdenklich ging Karo heim. Was das wohl zu bedeuten hatte?

      Als er das Haus betrat, war seine Mutter schon dabei, Teigfladen zu bereiten. Dazu wallte sie eine Knetmasse aus Wasser, Mehl und ein wenig Salz dünn aus und legte sie anschliessend auf das eingefettete Ofenblech. Kiri, Karos jüngster Bruder, ging ihr dabei zur Hand, aber so wie er mit Mehl eingestäubt war, bezweifelte Karo, dass er eine grosse Hilfe war.

      „Aru meinte, wir sollen heute nicht zum Fluss gehen“, sagte Karo.

      Seine Mutter schaute ihn nur an und zeigte dieses verschmitzte Lächeln, das sie immer aufsetzte, wenn sie ein gutes Geheimnis kannte.

      Karo stellte die Milch auf den Ofen und sagte nichts mehr. Er wusste, dass seine Mutter den Mund nur dann aufmachen würde, wenn ihr danach zumute war. Während sie die fertigen Fladen in ein Tuch einschlug und die zweite Ladung auf die Platte legte, betrachtete sie ihn immer wieder schmunzelnd von der Seite. Schliesslich hatte sie ein Einsehen und sagte: „Ihr seid heute bei der Versammlung dabei. Das haben wir gestern Nacht entschieden. Euch Junge betrifft diese Sache mehr als alle anderen.“

      Karo wurde ganz aufgeregt und wollte aus dem Haus stürmen, um den andern Bescheid zu sagen, doch seine Mutter hielt ihn zurück.

      „Ich muss es den anderen sagen. Aru hat gesagt ....“.

      Seine Mutter lachte. „Du solltest Aru und seine Scherze langsam kennen. Sicher hat er allen, die die Milch holten, genau das gleiche erzählt und freut sich nun diebisch, dass die Jungen im Dorf durcheinanderrennen wie die Hühner, wenn der Fuchs im Stall ist.“

      Also blieb Karo zu Hause, auch wenn es ihn innerlich fast zerriss. Er stellte den Honig und die Trinkschalen auf den Tisch und versuchte dabei, einen möglichst gelassenen Eindruck zu machen.

      Nun wachten auch die letzten Familienmitglieder nach und nach auf. Zuerst seine nur ein Jahr jüngere Schwester Vira, die sich wie jeden Morgen mürrisch nach draussen verzog,

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