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eine Krähe. Dann, wieder ernst, fragte er. “Und bei euch? Was denken deine Leute?”

      “Sie wollen eine Veränderung. Die meisten wollen zwar nicht aus dem Tal weg, aber die Tage des Unterdorfes sind wohl gezählt. Am liebsten würden wir zu euch ziehen. Platz genug habt ihr ja.”

      Matu spielte auf das schlechte Jahr vor vier Wintern an, als jeder vierte in ihrem Dorf gestorben war. Begonnen hatten ihre Probleme schon im Sommer zuvor, der feucht und kalt gewesen war wie kein anderer seit Menschengedenken. Das Getreide und Gemüse war auf den Feldern verfault, und mehr als einmal war der Bach über die Ufer getreten und hatte wertvollen Ackerboden mit sich gerissen. Das Wild hatte sich tief in die Wälder zurückgezogen, und noch nie waren die Jäger so oft mit leeren Händen zurückgekommen. Der darauf folgende Winter war der härteste, an den sich Karo erinnern konnte. Noch heute schauderte ihn, wenn er an die endlosen Tage zurückdachte, an denen er vor Kälte zitternd und hungrig im tiefen Schnee nach essbaren Wurzeln gegraben hatte. Nach fünf langen und eisigen Monden hatte die Sonne zwar wieder an Kraft gewonnen und ihnen einen guten Sommer gebracht, doch bis dahin waren Hunger, Krankheit und Tod stete Begleiter gewesen. Die Häuser der Toten waren seit da unbewohnt, und im Langhaus, wo sie sich für ihre Feste und die Versammlungen trafen und an den dunkelsten Wintertagen beieinander sassen, um sich gegenseitig warm zu geben, blieben viele Stühle leer.

      Matu stiess ihn an. Karo schreckte aus seinen Gedanken hoch. “Und du? Willst du gehen oder bleiben?”, fragte er.

      Zum Glück gerieten sich genau in diesem Moment zwei der Kleinen in die Haare, und er konnte davoneilen, um den Streit zu schlichten und sich so vor der Antwort zu drücken. Das Problem war: Er wusste es selber nicht, und er wollte vor seinem Freund nicht als Zauderer dastehen.

      Kurze Zeit später erreichten sie den Fluss, der an dieser Stelle sein Bett tief in die Felsen gegraben hatte. Dort, wo der Weg ans Ufer stiess, ragte ein kühn geschwungener Bogen aus einem steinähnlichen Material, hoch wie zehn und ausladend wie fünfzehn ausgewachsene Männer, weit über das Wasser. Dieses Material hiess bei ihnen Gussstein, denn es sah aus, als sei flüssiger Stein in eine Form gegossen worden und dann erstarrt. In seiner Position gehalten wurde der Bogen durch eine feine, aus dem gleichen Material bestehende Strebe, die von seiner Mitte aus schräg nach oben verlief und mit einem Felsvorsprung im oberen Teil des Steilabsatzes verwachsen schien.

      Die Talmenschen konnten sich keine Vorstellung darüber machen, wie man so eine kühne Form gestalten konnte. Aber sie wussten, wer die Erbauer gewesen waren: Die Vormenschen. Diesen Namen sprachen alle, selbst der vorlaute Matu, mit tiefer Ehrfurcht aus. Die Alten meinten, dass der Bogen einst Teil einer gewaltigen Brücke war, die den ganzen Fluss überspannte, aber Karo konnte das schlicht nicht glauben. Der Fluss war an dieser Stelle so breit, dass selbst gute Schwimmer viel Mut brauchten, ihn zu überqueren, und ein Bauwerk dieser monumentalen Grösse überstieg seine Vorstellungskraft bei weitem.

      Sie gingen noch ein Stück flussaufwärts und machten dann dort Rast. Hier stürzte der Fluss über eine Steilstufe, die viel zu regelmässig geformt war, um von der Natur geschaffen zu sein. Auch dabei, meinten die Alten, hatten die Vormenschen ihre Hände im Spiel gehabt. Darüber staute sich der Fluss zu einem schmalen, lang gezogenen See, in dem sich meist viele Forellen und Saiblinge tummelten und wo fast keine Strömung herrschte.

      Die älteren Kinder liessen sich auf einer flachen Steinplatte nieder. Sie hatten es nicht eilig, mit der Fischerei zu beginnen. Sie wussten, dass sie nur fortgeschickt worden waren, damit die Erwachsenen ungestört sprechen konnten. Die Jäger waren von ihrem letzten Streifzug mit fetter Beute heimgekehrt, und die Räucherkammern hingen noch voller Fische.

      Die Kleinsten, die normalerweise zum Beeren- und Holzsammeln geschickt wurden, realisierten, dass sich ihnen heute eine Chance bot, und sie bestürmten Karo, endlich auch einmal fischen zu dürfen.

      Dieser überlegte kurz, dann nickte er. Verfolgt von einer aufgeregt schnatternden Horde ging er zum Holzunterstand, in dem ihre Ausrüstung lagerte, und gab ihnen die Fischspeere heraus. Eine Weile schaute er den Kleinen lächelnd zu, wie sie von der Wehrmauer aus versuchten, die Forellen zu erwischen. Wenn sie etwas zum Mittagessen haben wollten, dann müsste er später wohl ein paar erfahrenere Kinder zum Fischfang schicken. Die Kleinen waren zwar mit Hingabe bei der Sache, aber mit ihrem aufgeregten Gequietsche und Herumgestochere erreichten sie nur, dass die Fische eilends das Weite suchten

      Dann entnahm er einem geschützten Fach im Unterstand eine Handvoll Reisig und trug es zur Feuerstelle. Dort lag immer noch ein grosser Holzhaufen, den sie in den letzten Tagen aufgeschichtet hatten. Er öffnete das mit kleinen Löchern versehene Metallbehältnis, das er von zu Hause mitgebracht hatte, liess das grosse Stück glühender Holzkohle darin behutsam auf einen flachen Stein gleiten, legte das Reisig auf und blies die Kohle vorsichtig an, bis das Reisig Feuer fing. Danach legte er Holz auf, und es dauerte nicht lange, bis ein munteres Feuer loderte. Wie alle Talmenschen kannte Karo zwar ein halbes Dutzend Methoden, um ein Feuer zu entfachen, aber es von Daheim mitzubringen war mit Abstand die einfachste.

      Einen Moment überlegte Karo, ob er sich zu den Grösseren gesellen sollte, dann entschied er sich anders. Er ging ein Stück flussaufwärts bis zu einem Felsblock, der von der Sonne schon ein wenig erwärmt worden war, rollte die mit Hasenfell gefütterte Kapuze an seiner Jacke so zusammen, dass sie ihm als Kissen diente und legte sich auf den Rücken. Eine Weile schaute er in den Himmel und beobachtete die ersten Wildgänse des Jahres auf ihrem Zug nach Norden. Dann schloss er die Augen und hing seinen Gedanken nach.

      2

      Etwas kitzelte ihn an der Nase.

      Er schlug die Augen auf und blickte direkt ins Gesicht von Nara. Sie hatte wieder einen dünnen Zweig in der Hand und schaute ihn mit einer Mischung aus Vorwitz und Misstrauen an. Ihr dünner Körper war angespannt, bereit zur Flucht, falls er wieder wütend werden sollte. Doch er lächelte sie beruhigend an.

      „Du hast geschlafen“, sagte sie.

      Er wandte den Blick zur Sonne. Tatsächlich. Nur noch ein kurzes Stück Zeit, und sie würde ihren Zenit erreicht haben. Er wollte schon aufspringen, um die Grösseren zum Fischfang zu schicken, da stach ihm der Duft von gebratener Forelle mit wildem Thymian in die Nase.

      Verlegen ging er zum Feuer. Da war er doch zum Aufpassen abkommandiert worden, und jetzt lief alles ohne ihn bestens. Beim Näherkommen sah er, dass mindestens 25 Fische auf dicke Stecken aufgespiesst waren und über dem Feuer garten. Auf erhitzten Steinen rund um das Feuer buken ausserdem mehrere Teigfladen. Brot würde es aber für jeden nur ein kleines Stück geben, gerade genug, um damit den Saft in den Bäuchen der Fische aufzusaugen und sich den Mund abzuwischen. Die Kornspeicher im Dorf waren schon zu drei Vierteln leer, und bis zur nächsten Getreideernte würde noch fast ein halbes Jahr vergehen - oder anderthalb Jahre, wenn ihnen wieder ein schlechter Sommer bevorstand. Oder, dachte Karo und seine Stirn umwölkte sich, sie würden nie wieder Getreide anpflanzen, mindestens nicht an diesem Ort.

      Karo ass seine Forelle schweigend und ein wenig abseits der anderen. Dann übergab er die Aufsicht Matu, machte ein Kanu klar, paddelte auf den zum See gestauten Fluss hinaus und hielt auf die schmale, langgezogene Insel zu. Da er nicht in Stimmung zum Reden war, konnte er sich ebenso gut absetzen und etwas Sinnvolles tun.

      Als er die Insel erreicht hatte, fuhr er mit viel Schwung auf einen kleinen Sandstrand auf und gelangte so ans Land, ohne ins kalte Wasser springen zu müssen. Die Insel hiess bei ihnen im Dorf Kanincheninsel, denn hier wimmelte es von den Tieren und sie zu erlegen war fast so einfach wie ein Kornfeld abzuernten. Das Wasser hielt Raubtiere wie Wölfe, Füchse und Luchse fern, und der dichte Weidenbestand bot einen guten Schutz gegen Räuber aus der Luft. Hätten die Talmenschen hier nicht regelmässig gejagt, dann hätten die Kaninchen die Insel wohl schon längst kahlgefressen. So aber hielt sich ihr Bestand in Grenzen.

      Karo nahm den Bogen aus dem Kanu, krümmte ihn und schob das zuvor lose Ende der Sehne in die dafür vorgesehene Kerbe. Es war der beste Bogen, den er je besessen hatte. Unter Anleitung von Wawa hatte er ihn an vielen kalten Wintertagen im Langhaus gefertigt. Zuerst hatte er im Holzlager mit Wawas Hilfe einen mannslangen, gerade gewachsenen und in

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