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lächelte. „Gegen den Durst. Den wird er sicher haben, wenn er alles überstanden hat.“

      Dann trug sie ihm auf, getrocknete Sanddornbeeren zu zerstossen und mit ein wenig kaltem Wasser anzusetzen. Hier brauchte er keine Erklärung. Sanddorn war Nalas Lieblingsarznei, denn die Beeren halfen, nach einer Erkrankung oder Verletzung, schnell wieder zu Kräften zu kommen.

      Er war gerade fertig damit, als Nalas ältere Tochter als erste einen Topf kochendes Wasser brachte. Sie übergossen die Beinwellmischung und warteten, bis sie gezogen hatte. Dann schöpfte Nala mit einem Sieb sorgfältig sämtliche Kräuter und Holzschnitzel ab, tränkte ein sauberes Tuch im Sud, wartete, bis es nicht mehr ganz so heiss war und reinigte damit das Bein rund um die Wunde. Aus einem weiteren Tuch drehte sie einen dicken Knebel. „Steck ihm den zwischen die Zähne. Er wird ihn brauchen, damit er sich nicht die Zunge abbeisst“, sagte sie.

      Langsam wurde Karo nervös. So ernst und konzentriert hatte er Nala noch nie erlebt. „Wird es gefährlich?“, fragte er.

      Sie lächelte gezwungen. „Ich kann es dir nicht sagen. Wenn wir beim Herausziehen des Pfeils keine wichtige Blutbahn verletzen, wird es keine grosse Sache sein. Sonst…“

      „Sonst?“

      „Es wird schon gut gehen. Halt sein Bein.“

      Karo gehorchte und fixierte das Bein beidseits der Wunde mit den Händen.

      „Nicht so, du musst es richtig fest halten.“

      Er überlegte, dann schob er das gesunde Bein auf die Seite und setzte sich rittlings auf den Unterschenkel des verletzten. Mit seinem ganzen Gewicht drückte er Waldas Knie nach unten.

      „Gut so. Halt fest.“ Sie packte den Pfeil. Zuerst zog sie nur vorsichtig daran, doch dann riss sie ihn mit ganzer Kraft aus der Wunde. Die Widerhaken rissen Fleisch und Haut mit. Waldas Oberkörper bäumte sich auf. Seine Augen waren weit aufgerissen, und trotz des Knebels hallte ein entsetzlicher Schmerzenslaut durch das kleine Krankenzimmer. Auf seiner Stirn standen Schweisstropfen, und sein Atem ging stossweise. Sein Bein zuckte spastisch und Karo wäre um ein Haar abgeworfen worden.

      Dann sackte er kraftlos in sich zusammen. Karo glaubte schon, er sei tot, doch Nala beruhigte ihn. „Er ist nur wieder besinnungslos.“

      Karo spürte etwas Feuchtes an den Händen und schaute nach unten. Aus der Wunde quoll das Blut über den Oberschenkel. Die Tücher unter dem Bein waren schon ganz rot. Seltsamerweise lächelte Nala zufrieden. „Keine Sorge“, sagte sie. „Wenn die Verletzung schlimm wäre, dann würde das Blut nicht fliessen, sondern spritzen. Es ist sogar gut, wenn es blutet. So wird der Dreck aus der Wunde gespült.“

      Nach einigen Augenblicken legte Nala aber doch eine kleine Stoffkompresse auf die Wunde und hielt Karo an, diese festzudrücken. Sie selbst begann, die Wundränder mit der Beinwelltinktur gründlich zu reinigen. Anschliessend entfernte sie vorsichtig den Schorf, was Walda immer wieder ein Stöhnen entlockte. Sein Bein zuckte, und Karo versuchte, es mit der freien Hand zu fixieren. Schliesslich sagte ihm Nala, er solle die Kompresse von der Wunde nehmen. Die Blutung war noch nicht restlos gestillt, aber schon stark verlangsamt.

      Nala setzte ihre Reinigungsarbeit fort. Sie stiess auf eine eitrige Beule, die sie mit einem spitzen, scharf geschliffenen Messer aufschnitt. Den Ausfluss tupfte sie vorsichtig ab, dann kratzte sie das entzündete Gewebe mit dem Messer weg. Zuletzt tröpfelte sie Johanniskraut-Öl auf die Wundränder, legte eine frische Kompresse auf und verband das Bein. „Fertig“, sagte sie und lächelte breit. „Es war einfacher als ich dachte.“

      Karo erhob sich. Ihm zitterten die Beine, und wenn Nala ihn nicht gestützt hätte, wäre er hingefallen. Er atmete tief durch. Als er sich wieder einigermassen im Griff hatte, ging er in den vorderen Raum. Dort standen inzwischen zahlreiche Krüge mit heissem Wasser, und jemand hatte unbemerkt ein Feuer im Ofen entfacht. Er goss die Tees an und fragte dann: „Gibt es noch etwas zu tun?“ Er brauchte dringend frische Luft.

      „Geh nur, ich komme jetzt gut alleine klar.“, sagte Nala. Sie wusste genau, wie ihm zumute war, und er wusste, dass sie es wusste.

      Als er vor die Tür trat, war dort keine Menschenseele zu sehen. Die Sonne stand nur noch zwei Fingerbreit über dem Horizont. Ohne dass ihm das bewusst geworden wäre, hatten er und Nala den halben Nachmittag gebraucht, um Walda zu verarzten. Er ging über den Hof zur Hütte seiner Familie, doch auch dort war niemand.

      Langsam ging er zum Südtor und schaute in jede Hütte, ob er jemanden fand. Dafür musste er nur quer über den Platz gehen und links und rechts durch die offenen Türen in die Hütten schauen, denn ihr Dorf hatte einen seltsamen, strengen Aufbau. Rundherum war eine hohe Mauer aus Gusssteinen gezogen, über 200 Schritte lang, 50 Schritte breit und hoch wie zwei Männer. Sämtliche Hütten waren von innen an diese Mauer angebaut. Die Mauer war ein Erbe der Vormenschen, und auch in diesem Fall mochte Karo die Erklärung der Alten, es handle sich dabei um die Fundamentmauern einer riesigen Halle, nicht recht glauben.

      Im Norden und im Süden waren breite Durchlässe in die Mauer gelassen, und in weniger friedvollen Zeiten hatten die Ahnen dort Tore angebracht, die aber seit bald einem Leben nicht mehr geschlossen worden waren.

      Als Karo das Tor erreicht hatte, hörte er Stimmen aus dem Langhaus dringen, das dort ausserhalb des Dorfes stand. Er näherte sich, und Leo erhob sich von der Treppe, die zum Eingang führte. Neben ihm hatte sich auch sein Hund erhoben, ein riesiges Tier mit zottigem, grauschwarz geflecktem Fell. Das heisst: eigentlich war es nicht Leos Hund. Wie alle Tiere gehörte er der Gemeinschaft. Aber die beiden waren unzertrennlich, und niemand wollte ihm den Hund streitig machen, zumal er trotz seiner Grösse zu nichts nütze war. Er konnte keine Spuren lesen, und für die Arbeit als Hütehund war er viel zu zutraulich und verspielt. Auch jetzt wedelte er mit dem Schwanz und trabte zu Karo, um sich streicheln zu lassen. Einen Namen hatte er nicht. Für alle im Dorf war er schlicht Leos Hund.

      Irgendwie passten die beiden perfekt zusammen. Auch Leo war ein Hüne. Stark wie ein Bär und den Alten treu ergeben. Aber seit einem Unfall beim Bäumefällen klappte es mit dem Denken nicht mehr so richtig.

      „Du musst gehen“, sagte Leo. „Nur die Erwachsenen dürfen hier sein.“

      „Aber ich habe etwas Wichtiges mitzuteilen. Der Fremde wird wieder gesund“, widersprach Karo. Er bezweifelte allerdings, dass er Leo damit umstimmen konnte, und so war es denn auch.

      „Geh jetzt. Die Alten haben gesagt, dass ich keine Jungen reinlassen darf. Geh.“

      „Kannst du mir wenigstens sagen, wo ich die anderen Jungen finde?“

      Leo richtete sich bedrohlich auf. „Geh, hab ich gesagt!“ Sein Hund blickte ratlos von einem zum andern und entschied dann, dass es das Beste sei, sich am Boden zusammenzurollen.

      Karo zuckte resigniert die Schultern. Mit Leo zu diskutieren war sinnlos. Unschlüssig blieb er vor dem Tor stehen. Dann setzte er sich wieder in Bewegung. Er hatte da so eine Ahnung, wo er die anderen Jungen finden würde.

      Er wandte sich nach links. Hier an der Ostmauer hatte der Wald einst fast bis ans Dorf herangereicht, doch jetzt standen hier nur noch kleine Bäume. Birken und Ebereschen zumeist, vereinzelt Föhren. Der richtige Wald begann erst viele hundert Schritte vom Dorf entfernt. Es war schon verrückt: Obwohl sie immer weniger wurden, mussten sie jedes Jahr weiter gehen, um Holz zu schlagen. Vor allem die hoch gewachsenen Eichen und Weisstannen, die das beste Bauholz lieferten, wurden immer rarer und waren immer weiter entfernt. Schuld daran, sagten die Alten, waren die immer längeren Winter und die immer kühleren Sommer. Das Holz wuchs ganz einfach langsamer, als sie es verbrauchten.

      Jetzt sah er die anderen Jungen auf der flachen Wiese nahe beim Bach. Sie spielten ein albernes Spiel, das „Wolf und Reh“ hiess und das ihm schon seit Jahren zu kindisch war. Plötzlich verging ihm die Lust, sich zu ihnen zu gesellen, und er schlich unbemerkt zurück ins Dorf.

      Aus der Hütte von Nala stieg ihm ein verführerischer Duft in die Nase. Zwar nur nach Lauchsuppe mit ein wenig Gerste, dem Gericht, das die Dorfbewohner während der langen Wintermonde

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