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Seine Mutter sagte immer, er öffne am Morgen den Mund, noch bevor er die Augen aufkriege. Das war zwar ein bisschen übertrieben, aber wirklich nur ein bisschen.

      Dann stand auch Karos Vater auf. Er war nicht besonders gross und auch nicht besonders kräftig gebaut, aber seine Arme und Beine schienen nur aus Sehnen zu bestehen. Er war der geborene Jäger: geschmeidig, zäh und unendlich ausdauernd. Worte waren nicht seine Sache. So umarmte er seine Frau, die noch immer am Herd stand, nur von hinten und drückte ihr einen Kuss in den Nacken, und den Kindern fuhr er mit seiner schwieligen Hand durchs Haar. Vor Karo blieb er stehen, legte ihm die Hand auf die Schulter und schaute ihn lang mit einer Mischung aus Verwunderung und Stolz an. Karo wusste, dass diese Szene auf die meisten nichtssagend gewirkt hätte, aber ihm bedeutete sie sehr viel. So viel, dass er sich verlegen abwandte. Sein Vater war auch in seinen Gesten sparsam und effizient. Was er ihm jetzt zu verstehen gegeben hatte, war, dass er den Mann in Karo erwachen sah und dass ihm gefiel, was er sah.

      Später, als sie alle am Tisch sassen und die dick mit Honig beschmierten, gerollten Teigfladen assen, verteilte Karos Vater die Arbeiten für den Vormittag, denn die Versammlung würde erst nach dem Mittagessen beginnen. Vira und Hako sollten mit ein paar anderen Kindern aus dem Dorf das Vieh auf die Ostweide treiben, und Karo sollte in der Sägegrube arbeiten.

      Karo stöhnte auf. Die Sägegrube war das, was er von allen Arbeiten im Dorf am meisten hasste. Ausserdem wollte er brennend wissen, wie es Walda ging.

      „Ich würde aber lieber nach dem Fremden schauen“, sagte er deshalb.

      Schlagartig verstummten alle Geräusche am Tisch, und Karos Geschwister liessen den Blick nervös zwischen ihm und ihrem Vater hin- und hergleiten. Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass er einen Fehler gemacht hatte. Über zugeteilte Arbeiten, lernten alle im Dorf schon früh, wurde nicht diskutiert. Wenn nicht alle ihren Beitrag leisteten, hatte ihre kleine Gemeinschaft keine Überlebenschance.

      Doch die erwartete Zurechtweisung blieb zur Überraschung aller am Tisch aus. Stattdessen sagte sein Vater nur: „Mach vorher die Kaninchen. Eins der Tiere kannst du dann Nala bringen.“ Karo nickte wortlos. Das war ja besser gegangen, als er erhofft hatte.

      Nach dem Essen ging Karo nach draussen. Die drei Tiere, die er gestern erlegt hatte, waren bereits mit den Hinterläufen an eine Stange vor der Hütte gebunden. Jemand hatte an allen Kehlen einen tiefen Schnitt angesetzt, und die Körper waren schon vollständig ausgeblutet. Er zog die Klinge seines Messers über den Wetzstein, der immer auf einem kleinen Sims neben dem Eingang lag, und machte sich an die Arbeit. Zuerst schnitt er das Fell um die Hinterläufe auf, dann verlängerte er die Schnitte bis zur Afteröffnung. Mit Kraft begann er nun, das Fell vom Fleisch zu lösen. Als dies geschafft war, hielt er einen umgedrehten, innenseitig behaarten Schlauch in den Händen, von dem er die mit dem Messer die gröbsten Geweberückstände kratzte, bevor er ihn zum Trocknen aufspannte.

      Jetzt öffnete er mit einem Schnitt die Bauchdecke des Kadavers und entnahm ihm die Innereien. Herz, Leber und Niere gab er in eine Schale, damit seine Mutter sie später kochen konnte, die Reste warf er neben die Hütte, wo die Hunde sie bald finden würden.

      Als er alle drei Tiere ausgeweidet hatte, nahm er sie von der Stange und hackte ihnen mit dem Beil den Kopf ab. Jetzt musste er nur noch am nahen Brunnen die Bauchhöhlen auswaschen, und er war fertig.

      Er trug zwei der Tiere und die Schale mit den Innereien nach drinnen und machte sich dann mit dem anderen auf den Weg zu Nala.

      Der vordere Raum war leer. Also legte er das Kaninchen auf die hölzerne Anrichte neben dem Ofen und ging nach hinten durch. Walda sass, von Kissen gestützt, aufrecht im Bett. Es gelang ihm sogar ein Lächeln, als Karo das Zimmer betrat. Er war abgedeckt, und Nala war gerade dabei, die Wunde mit einer Tinktur abzutupfen. Walda verzog das Gesicht in stillem Schmerz, denn die Tinktur brannte höllisch. Karo sah, dass der entzündete Kreis um das Einschussloch schon merklich kleiner geworden war.

      Als Nala ihn bemerkte, strahlte sie ihn an. „Hast du gewusst, dass Walda die gleiche Sprache spricht wie wir? Sie tönt nur anders.“

      „Aha“, sagte er verständnislos. Dann, nach einem Moment des Nachdenkens: „Was ist denn daran gleich, wenn sie anders tönt?“

      Nala lachte leise in sich hinein und beendete ihre Arbeit. Dann setzte sie zu einer Erklärung an: „Die Worte, die er benutzt, sind nicht völlig anders als unsere. Die meisten erinnern an unsere Sprache, verstehst du? Bein heisst Ben, Blut Blad und so weiter. Wenn wir uns anstrengen, können wir bald miteinander sprechen.“

      Karo dachte an seine erste Begegnung mit Walda zurück und wurde ganz aufgeregt. Auch da hatte er einige Worte verstanden, auch wenn Walda kurz vor der Bewusstlosigkeit gestanden hatte und er selbst vor lauter Anspannung nicht mehr klar hatte denken können. Er wandte sich Walda zu, der ihre Unterhaltung aufmerksam mitverfolgt hatte.

      „Stimmt das? Kannst du verstehen, was wir sprechen?“ Dann, als er Waldas ratlosen Blick bemerkte, doppelte er nach: „Du verstehen?“ Dabei zeigte er auf seinen Mund und ahmte Sprechbewegungen nach. Jetzt erhellte sich Waldas Gesicht: „Noi, nit vaschtah vell. Aba i wull lena.“

      Karos Stirn legte sich in Falten, dann strahlte er. “Du verstehst nicht viel, aber du willst lernen”, sagte er.

      Nala ging nach nebenan und überliess die beiden sich selbst. Schon bald erfüllte der verführerische Duft von Kaninchen mit Schmorgemüse die Hütte.

      Karo setzte sich auf den Rand des Bettes und begann, auf Dinge im Raum und vor dem Fenster zu zeigen und sie beim Namen zu nennen. Walda stieg auf das Spiel ein, benannte die Gegenstände in seiner eigenen Sprache und versuchte, die Aussprache Karos nachzuahmen. Mit jedem Begriff, den sie entschlüsselten, wurde klarer, dass ihre Sprachen verwandt waren. Nicht wie Brüder, dafür waren die Unterschiede doch zu gross, aber wie Cousins. Wenn man sich anstrengte, dann waren die gemeinsamen Vorfahren klar zu erkennen.

      Doch Walda war nur halb bei der Sache. Zunächst schob Karo dies auf die Erschöpfung oder mangelndes Interesse. Dann realisierte er, dass eine tiefe Traurigkeit Waldas Gemüt überschattete.

      Schuldbewusst hielt er inne. Sein Gegenüber musste Schreckliches erlebt haben und hatte wohl andere Sorgen, als alberne Sprachspielchen zu spielen.

      In diesem Moment kam Nala zurück. Ihr Gesicht war ernst, als sie sich neben dem Bett niederliess. „Du musst uns erzählen, was passiert ist“, sagte sie. „Wir müssen wissen, ob auch unser Dorf gefährdet ist.“

      Walda sah sie verständnislos an. Sie deutete auf sein verletztes Bein und fragte: „Wer hat das gemacht?“

      „Mann“, antwortete er und suchte nach Worten. „Nicht Freund.“

      „Ein Feind? Jemand aus deinem Stamm?“ Und dann, als er sie ratlos ansah: „Jemand aus deinem Dorf?“

      „Nein.“ Seine Stirn legte sich in Falten, und er dachte angestrengt nach. „Min Dorf … äh …“ Er deutete mit den Fingern auf dem Bett einen gehenden Menschen an.

      „Gehen. Es ging weg?“

      „Ja, ja! Kalt, Hunger. Gehen viele Monde. Zu Sonne.“

      Karo blickte zu Nala, die grimmig nickte. Es kam ihm vor, als sei Walda ein Gesandter aus ihrer eigenen Zukunft.

      „Und dann?“, drängte Nala, „was geschah dann?“

      „Männer mit …“ Ihm fehlten die Worte, aber seine Gebärden waren unmissverständlich. Sie waren mit Pferden gekommen und wie ein Sturm aus dem Nichts über Waldas Leute hergefallen.

      „Wer waren die Leute? Ein benachbarter Stamm? Lagt ihr mit ihnen im Krieg?“

      Walda blickte sie verständnislos an. Ein feuchter Glanz überzog seine Augen.

      „Krieg? Anderes Dorf?“

      „Noi, i ha net kannt det Leit. Se san kumm us de Forst. Horrible Gselln … Enfach us de nüt, met Gäul, hond net gret, nüt wulln, nur tedä, tedä, tedä! …“ Die letzten Worte schrie er regelrecht

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