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hatte er diesem Viertel in mühseliger Kleinarbeit mit dem Ziehmesser seine Form gegeben. Das Geheimnis eines guten Bogens bestand darin, dass man genau dem Faserverlauf folgte und ihn um die Verwachsungen herum aus dem Holz arbeitete. Er musste nicht unbedingt gerade sein, aber man musste das Holz lesen können. Ausserdem durfte an der Aussenseite kein Jahrring verletzt werden, denn genau an dieser Stelle würde der Bogen sonst früher oder später aufsplittern.

      Der Rest der Formgebung war in Karos Augen reine Magie. Er war ganz einfach Wawas Anweisungen gefolgt, hatte die Enden verjüngt, die Pfeilauflage an der angezeichneten Stelle eingekerbt, hier noch ein wenig Material abgenommen und dort etwas abgeschliffen, hatte den Bogen unter dem kritischen Blick von Wawa vorsichtig gespannt, die gedrehte Sehne aus den Sprungsehnen eines Hirsches wieder entfernt und wieder von vorne mit dem Nachbessern begonnen. Am Schluss hatte er auf der Aussenseite des Bogens mit Knochenleim einen Streifen ungegerbter Ziegenhaut aufgezogen, um ihm zusätzliche Spannkraft zu geben und ihn gegen Beschädigungen zu schützen. Manches Mal wäre er seinem pedantischen Lehrer am liebsten an die Kehle gesprungen, doch jetzt hielt er eine Waffe in der Hand, die auf der Jagd mit ihm eins wurde.

      Er zog das Kanu noch ein Stück höher auf den Strand und entnahm dem Köcher seinen Kaninchenpfeil. Im Gegensatz zu den Pfeilen für die Rotwildjagd, die weit fliegen mussten und deshalb aus den leichten Ruten des Hartriegelstrauches gefertigt waren, bestand dieser aus einem fingerdicken Haselast. Die Holzkugel, die an seinem vorderen Ende aufgesteckt war, gab ihm zusätzlich ein plumpes Aussehen.

      Er musste nur ein paar Schritte gehen, bis er den ersten Kaninchenbau erreicht hatte. Er kontrollierte den Sonnenstand und die Windrichtung und entschied sich dann für einen noch lichten Schwarzdornstrauch fünf Schritte vom Eingang als Deckung. Dort liess er sich auf die Knie nieder, legte den Pfeil auf, spannte den Bogen und verharrte dann regungslos in dieser Position. Sämtliche Gedanken fielen von ihm ab, und es gab nur noch ihn, den Eingang des Baus und die Geräusche und Düfte der Natur, die der leise Wind an ihn herantrug.

      Er hätte ewig so verharren können, konzentriert und völlig eins mit der Umgebung, doch er musste nicht lange warten. Schon bald streckte ein Kaninchen den Kopf aus dem Bau, hielt schnuppernd die Nase in den Wind und verschwand wieder im Loch. Kurz darauf kam es wieder heraus, drei Jungtiere in seinem Gefolge. Karo liess sie davon hoppeln. Nicht aus Mitleid, diese Regung konnten sich die Talmenschen auf der Jagd nicht leisten, sondern weil er wusste, dass die Jungtiere ohne Mutter noch verloren waren. Und Verschwendung konnten sich die Talmenschen noch weniger leisten als Mitleid.

      Kurz darauf erschienen wieder zwei Tiere im Eingang des Baus. Männchen, vermutete Karo aufgrund ihrer Grösse, aber das liess sich bei Kaninchen auf diese Entfernung nur schwer sagen. Er fixierte den Kopf des linken Tieres, zielte und gab die Sehne frei. Der Pfeil traf das Tier exakt zwischen den Augen, und es sank benommen zu Boden. Karo packte es und schlug ihm mit einem Knüppel wuchtig ins Genick. Diese Form der Jagd, hatte sich bei ihnen durchgesetzt, weil die Tiere nicht nur wegen ihres Fleisches geschätzt wurden, sondern auch wegen ihres Felles, das nach dem Gerben geschmeidig und weich blieb.

      Aus diesem Bau, wusste er, würde sich so schnell kein Tier mehr trauen. Also band er das erlegte Tier an seinen Gürtel und ging zum nächsten Loch. Auch dort winkte ihm das Jagdglück, und die Sonne war erst eine gute Handbreit gewandert, bis er an allen drei Bauten auf diesem Teil der Insel seine Beute eingefahren hatte.

      Dann ging er zurück zum Kanu. Er legte Pfeil und Bogen und die erlegten Kaninchen hinein und schob es zu drei Vierteln ins Wasser. Er kletterte ins Boot, balancierte zur Sitzbank im Heck und lehnte sich weit zurück. Dadurch hob sich der Bug leicht an, und mit einem einzigen kräftigen Schlag mit dem Paddel kam er von der Sandbank frei.

      Gemächlich fuhr er flussaufwärts. Vereinzelt trieben noch Eisschollen auf der weiten Wasserfläche, aber diese waren klein und stellten keine Gefahr für das Kanu dar. Hier am Südufer der Insel machte sich langsam der Frühling breit. Haseln, Pfaffenhütchen und Silberweiden trieben schon aus. Das Seggengras zeigte die ersten grünen Spitzen, und im Halbschatten bildete der junge Bärlauch sattgrüne Matten. Am schmalen Uferstreifen, wo die Sonne ihre volle Kraft entfalten konnte, standen gelbe Schlüsselblumen, und die Gänseblümchen bildeten auf dem noch kurzen Gras dichte Teppiche.

      Je mehr er sich der Westspitze der Insel näherte, desto kräftiger wurden seine Paddelschläge, denn hier oben wurde der See wieder zu einem Fluss, und er musste gegen die Strömung halten. Dann umrundete er die mächtige Bruchsteinmauer, die noch von den Vormenschen gebaut worden war und die sich wie ein Keil in die Strömung stemmte.

      Auf der anderen Seite der Insel präsentierte sich ihm ein völlig anderes Bild: Die Bäume und Sträucher hatten noch kaum Triebe, der Waldgrund war braun, und vereinzelt lagen noch immer letzte Schneereste. Lediglich die ersten Blausterne streckten schon zaghaft ihre Köpfe in die Höhe.

      Weil der nördliche Flussarm viel schmaler war, kaum breiter als der Steinwurf eines Kindes, zog hier die Strömung stärker an seinem Kanu. Aus dem gleichen Grund gab es hier auch keine flachen Uferstellen, an denen er hätte aufsetzen können. Karo hielt sich deshalb nahe am Ufer und fixierte den dicken Ast einer ausladenden Weide, der weit über das Wasser ragte. Als er ihn erreichte, packte er ihn und zog sich daran ans Ufer, wo er das Kanu festmachte.

      Gerade als er ausgestiegen war, hörte er vom anderen Ufer her ein leises Winseln. Aufgeregt spähte er übers Wasser. Auf Streifzügen kam es immer wieder vor, dass man auf ein verletztes Reh oder Wildschwein stiess, und das war ein Geschenk, das kein Talmensch leichtfertig ausschlug.

      Doch jetzt war nichts mehr zu sehen oder zu hören. Er wollte seine Wahrnehmung gerade als Sinnestäuschung abtun und sich wieder der Kaninchenjagd zuwenden, als es im niedrigen Weidengebüsch auf der anderen Seite raschelte. Jetzt war er ganz sicher: Da war etwas.

      Er sprang zurück ins Kanu und setzte über. Wegen der Strömung wurde er weit abgetrieben. An der erstbesten etwas flacheren Stelle sprang er ungeduldig ins eiskalte Wasser und watete, das Kanu hinter sich herziehend, auf die Uferböschung zu. Mühsam kletterte er durch dichte Brombeerranken und Schwarzdorngeäst, in dem sich viel Schwemmholz verfangen hatte, auf den Damm. Auf diesem bewegte er sich, sorgsam darauf achtend, auf keinen trockenen Ast zu treten, leise flussaufwärts, bis er fast gegenüber der ausladenden Weide stand. Das letzte Stück legte er auf allen Vieren zurück.

      Einen Moment lang zögerte er. Was, wenn dort unten kein wundes Reh lag, sondern ein Bär, der eben erst hungrig aus seiner Winterhöhle gekrochen war? Dann fasste er sich ein Herz, nahm einen Jagdpfeil mit schwerer eiserner Spitze aus dem Köcher, spannte den Bogen und stand auf.

      Doch was er jetzt zu sehen bekam, erschreckte ihn mehr, als der grösste Bär es vermocht hätte: Unten am Ufer lag ein Mann.

      3

      Der Fremde starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an und tastete mit der rechten Hand hektisch nach seinem Wurfspeer, der aber ausserhalb seiner Reichweite lag. Karo merkte, dass er den Bogen noch im Anschlag hielt und liess ihn langsam sinken. Allerdings hielt er die Sehne nach wie vor unter leichter Spannung.

      Er besah sich den Mann, der sich nun erschöpft zurücksinken liess, etwas genauer: Irgendwie hatte er sich immer vorgestellt, dass Fremde auch fremdartig aussahen, doch das traf nicht zu. Mit seinem langen, braunen Haar und der hellbraunen, wettergegerbten Haut wäre er in ihrem Dorf nicht aufgefallen. Auch seine Kleidung aus Leder und grober Wolle unterschied sich nicht von der ihren. Allerdings musste der Mann eine schwere Zeit hinter sich haben. Seine Gesichtshaut spannte über die Wangenknochen, und die geöffnete Jacke gab den Blick auf einen dreckigen und ausgemergelten Oberkörper frei. Am linken Oberschenkel war seine Hose zerrissen, und Karo sah eine tiefe, schlecht verschorfte Wunde. Was er dann bemerkte, liess ihm den Atem stocken: In der Wunde steckte noch der abgebrochene Schaft eines Pfeils.

      Karo kannte die Geschichten von verfeindeten Stämmen, die mit Waffen aufeinander losgingen. Aber seit er sich erinnern konnte, war noch nie ein Mensch im Tal durch die Hand eines anderen gestorben oder auch nur schwer verletzt worden. Kämpfe auf Leben und Tod waren für ihn nur Schauergeschichten, die die Alten an langen Winterabenden erzählten.

      Bis

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