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schnallte seinen Dolch ab und ging, die Handflächen nach aussen gedreht, langsam zum Verletzten hinab. Er kniete sich hin, tippte an seine Brust und sagte: „Ich heisse Karo.“

      „Dast“, stöhnte der Fremde, der sich nun merklich beruhigt hatte.

      „Du heisst Dast?“, fragte Karo und zeigte auf ihn.

      „Dast“, wiederholte dieser, blickte aufs Wasser und wedelte nachdrücklich mit der linken Hand.

      Karo folgte dem Blick und verstand. Zwei Schritte neben dem Mann lag sein Bündel, daneben ein leerer Wasserbeutel. Er füllte ihn am nahen Fluss und reichte ihn dem Fremden, der mit gierigen Schlucken trank.

      Karo wühlte in den Taschen seiner Jacke und förderte zwei getrocknete Apfelringe und einen Streifen geräuchertes Ziegenfleisch zutage. Beides bot er dem Fremden an. Zum ersten Mal zeigte dieser den Anflug eines Lächelns, als er das Essen annahm.

      „Dank.“

      „Bitte.“

      Ermutigt durch diesen Erfolg versuchte Karo erneut, mit dem Fremden zu reden. Dabei erfuhr er, dass dieser Walda hiess, aber das war es dann auch. Zu gerne hätte er erfahren, ob er allein war, ob er Freunde in der Nähe hatte oder - davor fürchtete sich Karo am meisten - ob seine Feinde noch auf ihn lauerten. Doch weder seine Worte noch seine Gesten wurden von diesem verstanden.

      Schliesslich versuchte er, ihm mit Worten und Handzeichen klar zu machen, dass er das Kanu holen und ihn in sein Dorf bringen wollte, doch auch das verstand der Fremde nicht. Also begnügte er sich damit, ihm beruhigend auf die Schulter zu klopfen. Dann ergriff er seine Waffen und ging zu seinem Kanu.

      Der Weg flussaufwärts war eine mühselige Plackerei. Paddelnd kam er gegen die Strömung nicht an, deshalb hangelte er sich durch das Unterholz am Ufer und zog das Kanu hinter sich her. Einmal brach ein Ast, und er fiel in den Fluss und trieb fast den gesamten Weg zurück, den er sich schon erkämpft hatte.

      Doch schliesslich hatte er es geschafft. Wenige Schritte oberhalb des Verletzten fand er eine junge Weide, an der er sein Boot anbinden konnte. Er gab gerade so viel Leine, dass es direkt neben diesem zu liegen kam.

      Er kletterte die Böschung hoch. Der Fremde lag noch am gleichen Ort. Er hatte die Augen geschlossen. Sein Atem ging flach und rasselnd, und er reagierte auch nicht auf Karos Rütteln. Also warf Karo sein Bündel ins Boot. Dann zog er den Fremden an den Schultern ans Wasser. Jedesmal, wenn sich sein Bein bewegte, entrang sich seiner Kehle ein Stöhnen, doch er kam nicht mehr zu Bewusstsein. Als es Karo endlich gelungen war, den Fremden ins Kanu zu hieven, waren seine Beine taub wegen der Kälte des Wassers. Am Oberkörper hingegen triefte ihm der Schweiss aus allen Poren. Er machte die Leine los und paddelte so schnell er konnte zurück zu seinen Freunden.

      4

      Als sie das Dorf endlich erreicht hatten, war es früher Nachmittag, und die Versammlung noch immer in vollem Gang. Boro, der Dorfälteste, stand sofort auf, als sie das Nordtor passierten, und wollte sie wieder wegschicken, denn abgemacht war, dass sie erst kurz vor dem Eindunkeln heimkehren sollten. Doch dann bemerkte er, dass die Jungen eine improvisierte Bahre aus den Stämmchen junger Tannen zwischen sich trugen, und hielt inne.

      Neugierig trat er näher. Karo, Matu und die beiden anderen Jungen, die den Verletzten das letzte Wegstück geschleppt hatten, setzten die Bahre entkräftet ab. Boro beugte sich tief über den verletzten Mann und musterte ihn von oben bis unten.

      „Ein Fremder“, sagte er, mehr zu sich als zu den anderen Erwachsenen, die inzwischen ebenfalls näher gekommen waren. „Wo habt ihr ihn gefunden?“

      Karo erzählte seine ganze Geschichte: Die Kaninchenjagd, die Geräusche vom anderen Flussufer, seine vergeblichen Versuche, mit dem Fremden zu reden, der anstrengende Weg zurück. Als er geendet hatte, blickte er Boro erwartungsvoll an. Dieser schwieg lange. Dann sagte er so laut, dass alle es hören konnten: „Du hast richtig gehandelt.“

      Jetzt drängte sich Nala durch die dicht stehende Menge und kniete sich neben dem immer noch Bewusstlosen nieder. Nala war die Heilerin des Dorfes. Sie war weder jung noch alt und lebte seit dem Tod ihres Mannes allein in ihrer Hütte. Die beiden Töchter die ihr geblieben waren, hatten schon längst eigene Familien gegründet. Solange sie den Blick abgewendet hielt, war sie keine eindrucksvolle Erscheinung. Eher kleingewachsen, die Schultern schmal und hängend, die Haare meist zu einem langen Zopf geflochten. Doch wenn sie einen ansah, schlug sie jeden sofort in ihren Bann. Ihre Augen waren reine Güte und reines Verstehen.

      Sie legte die Hand auf die Stirn des Fremden, um seine Temperatur zu fühlen. Danach suchte sie an seinem Hals nach dem Puls und legte ihr Ohr an seinen Mund, um die Atmung abzuhören. Schliesslich wandte sie sich dem verletzten Bein zu. Ganz lange besah sie sich die Wunde nur. Dann roch sie daran, drückte vorsichtig auf die aufgeschwollenen Ränder und zog schliesslich ganz leicht am abgebrochenen Pfeil, was dem Fremden sofort ein leises Stöhnen entlockte. Offenbar befriedigt erhob sie sich und sagte: „Bringt ihn in meine Hütte.“ Dann, als sie bemerkte, dass alle Dorfbewohner sie neugierig musterten, fügte sie hinzu: „Ich glaube, er wird überleben.“

      Sie nahmen die Bahre wieder auf und trugen sie zu Nalas Hütte. Da Nala allein lebte, hatte sie die Trennwände, die bei Familien normalerweise die Schlafkojen abtrennten, herausgenommen, was die Hütte grösser wirken liess. Ihre Bettstatt stand nahe beim Ofen. Direkt daneben, im dämmrigen Zwielicht kaum zu erkennen, gab es einen Durchbruch, der in einen Anbau führte. Dort befand sich das Krankenlager. Das Bett war direkt an die Rückwand des Steinofens gestellt, so dass Kranke und Verletzte auch im tiefen Winter nicht frieren mussten. Eine Ecke des Raumes war durch eine Holzwand abgetrennt. Dahinter, wusste Karo, befanden sich die Heilmittel: lange Regalreihen, voll mit getrockneten Kräutern, Salben, Ölen und Tinkturen. Schon oft hatte er hier gestanden und gewartet, bis ihm Nala ein Mittel gegen Fieber, Prellungen, Schnittwunden oder was immer ihn plagte zusammengestellt hatte.

      Vorsichtig legten sie Walda aufs Bett. Er stöhnte leise, wachte aber noch immer nicht auf. „So, und jetzt raus hier“, sagte Nala.

      Karo warf noch einen letzten Blick auf den Verletzten und wandte sich ab, da spürte er Nalas Hand auf seiner Schulter. „Du nicht“, sagte sie. „Du hast ihn zu uns gebracht, also kannst du mir auch helfen.“

      Nala holte eine Schere und schnitt damit vorsichtig die Hose rund um die Beinwunde auf. Dann betrachtete sie die Verletzung eingehend. „Wir brauchen Wasser“, sagte sie. „Viel heisses Wasser.“

      Karo ging in den vorderen Raum und öffnete die Ofenklappe. Die Glut war vollständig heruntergebrannt. Bis wieder ein Feuer brannte und genügend Wasser kochte, würde viel Zeit vergehen. Also trat er vor die Hütte. Die Versammlung hatte sich inzwischen aufgelöst, aber noch immer standen viele Dorfbewohner in Gruppen beieinander und diskutierten die Ereignisse dieses aufregenden Tages. Karo sprach mit ihnen. Sofort gingen einige Leute los mit dem Versprechen, ihm so viel kochendes Wasser zu bringen, wie er brauchte.

      Als er zurück in die Hütte kam, war Nala nirgends zu sehen. Dann hörte er sie hinter der Bretterwand hantieren, und kurz darauf kam sie mit Töpfchen und Büscheln getrockneter Kräuter zurück. Er nahm ihr die Sachen ab, legte sie auf einen kleinen Tisch und kniete dann neben ihr am Bett nieder.

      „Was machen wir nun?“, fragte er. Er glaubte schon, sie habe ihn nicht gehört, denn sie konzentrierte sich wieder ganz auf die Beinwunde, doch dann sagte sie: „Zuerst einmal muss der Pfeil raus. Wo bleibt das Wasser?“

      „Kommt gleich“

      „Gut.“ Sie holte im Nebenraum verschiedene Krüge und Becken. In ein breites Becken gab sie feine Holzschnitzel und grosszügig bemessene Mengen verschiedener Kräuter. „Beinwell, Taubnessel, Wundklee und Thymian“, erklärte sie dazu. „Mit dem Sud werden wir die Wunde auswaschen.“ In einen hohen Krug gab sie Brennnessel, Hauhechel und ein wenig Johanniskraut. „Das hilft ihm, das Gift aus dem Blut zu spülen“, sagte sie. Karo hörte nur halb hin. Wenn die Jungen unter sich waren, lachten sie oft über Nalas Schrulle, jede ihrer Handlungen mit einem Vortrag zu begleiten.

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