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die sie einst beherrschten?“

      Weil es Geheimnisse gibt, die im Strudel der Zeit untergegangen sind, dachte der Älteste. Weil es Dinge gibt, die zu begreifen wir zu dumm sind. Aber er behielt seine Antwort für sich, denn er wusste genau, dass sich Karo damit nicht zufrieden geben würde. Stattdessen sagte er: „Geh jetzt. Der Winter ist noch lang, und wir werden noch viele Gelegenheiten haben, um darüber zu sprechen.“

      Zögernd ging Karo auf den Ausgang zu. Dort drehte er sich noch einmal zum Ältesten um und sagte: „Wenn ich gross bin, werde ich das Geheimnis der Vormenschen lüften. Und dann werde ich es dir verraten. Versprochen.“

      Teil I: Altes Land

      1

       Neun Jahre später…

      Normalerweise war es für die Jungen das Schönste, wenn sie zum Angeln und Jagen an den Fluss geschickt wurden, aber heute machten sie sich nur zögernd auf den Weg. Sie wussten, dass die Erwachsenen und die Alten zusammensitzen und über die Zukunft ihres Dorfes entscheiden würden, sobald sie um die erste Wegbiegung gegangen waren. Nur die Kleinsten, die sich noch nicht in die Diskussion einmischten, waren bei den Erwachsenen im Dorf geblieben.

      Karo liess sich zurückfallen, um die Hintersten der knapp dreissigköpfigen Gruppe zur Eile zu ermahnen. Die Jüngsten waren noch keine sieben Winter alt und liessen sich von jedem bunten Stein auf dem Weg, von jeder blühenden Primel, die den Beginn des Frühlings ankündigte, ablenken. Mit seinen 15 Wintern war Karo der Älteste der Gruppe. Nur ein Jahr älter, und er wäre jetzt nicht als Kindermädchen eingeteilt, sondern würde mit den Grossen darüber debattieren, ob sie ihr Tal verlassen sollten oder nicht.

      Etwas kitzelte ihn im Nacken. Er drehte sich unwirsch um und blickte in die Augen von Nara, einer vorwitzigen Neunjährigen mit Sommersprossen und blonden, zerzausten Haaren. In der Hand hielt sie einen Grashalm, und sie lächelte ihn frech an.

      „Du sollst vorwärts machen“, knurrte er sie an und schlug nach ihr, so dass sie erschrocken davonrannte und zu den anderen Kindern aufschloss.

      Karo tat seine Reaktion sofort leid, doch er war nicht in der Stimmung, sich zu entschuldigen. Wütend kickte er einen Stein ins Gebüsch. Seit geraumer Zeit bekam er schon zu hören, er sei so gross geworden. Wenn es darum ging, bei klirrender Kälte in den Wald zu gehen und einen Baum zu schlagen, oder bei gefrorenem Boden einen Latrinengraben auszuheben – ja, dann war er in den Augen der Erwachsenen ein Mann. Doch heute, wo sein Dorf die wohl wichtigste Entscheidung seit Anbeginn seiner Existenz fällte, sollte er plötzlich wieder ein Kind sein.

      Nach kurzer Zeit erreichten sie eine Weggabelung. Hier wollten sie sich mit den Kindern aus dem Unterdorf treffen. Noch vor wenig mehr als einem Leben, sagten die Alten, gab es im Tal sieben Dörfer, doch seit Karo sich zurückerinnern konnte, gab es nur noch das Unterdorf und sie im Hauptdorf. Manchmal, wenn er mit den Männern auf Jagdstreifzüge durch die Wälder ging, sah er noch die Überreste dieser Dörfer. Früher, sagten die Alten, gab es auch in der weiteren Umgebung noch andere Stämme, zwischen denen der Handel florierte, doch in seinem ganzen Leben hatte Karo noch nie einen Menschen gesehen, der nicht hier im Tal lebte.

      Karo nutzte die Wartezeit und trat auf einen schmalen Pfad, der in den Ahnenwald hineinführte. Der Zauber dieses merkwürdigen Ortes wirkte sich fast augenblicklich auf seine Stimmung aus. Sein Zorn auf die Grossen verrauchte, und seine Gedanken schweiften ab zu den Menschen, die hier unter seinen Füssen lagen.

      Der Ahnenwald war der Friedhof der Talmenschen, und unter den Wurzeln der Bäume ruhten ihre Toten. Wie ein Wald im herkömmlichen Sinn sah er deshalb nicht aus. Dort, wo mehrere ältere Bäume in Gruppen beieinander standen, schlossen sich ihre Kronen zwar zu einem Dach zusammen, doch die meisten Bäume waren noch jung und mussten sich ohne den Schutz des Verbundes gegen Sommerhitze und Winterstürme behaupten. Buchen, Eichen, Föhren, Eschen, Ahorn, dicke Weisstannen, Weiden, ausladende Linden und viele andere Bäume standen wild durcheinander. Statt wie in Wäldern hoch aufgeschossen zu sein, hatten die meisten tiefe Kronen und knorrige Äste. Kaum ein Baum war älter als ein Menschenleben, doch vereinzelt erhoben sich mächtige Kronen, die schon vor drei Leben alles andere überragt hatten. Unter ihren Wurzeln ruhten die Anführer vergangener Jahre, von denen man heute noch sprach im Dorf.

      Jeden Herbst, wenn die Ernte eingefahren war und die Zeit des Feierns und der Besinnlichkeit anbrach, gingen die Menschen in den Wald und ehrten ihre Ahnen mit kleinen Gaben an Getreide oder Blumenschmuck. Wurde einem Baum während mehrerer Jahre keine Gabe dargebracht, dann wusste die Gemeinschaft, dass der Mensch, dem er gepflanzt worden war, aus der Erinnerung verschwunden war. Dann wurde der Baum gefällt, um neuen Gräbern Platz zu machen, und sein Holz diente den Lebenden zum Schnitzen von Werkzeugen oder zum Heizen in den langen Wintern.

      Karo trat auf eine kleine Lichtung. Drei frisch aufgeworfene Erdhaufen markierten die Beute, die der Tod letzten Winter geschlagen hatte. Im ersten lag Lura, eine alte, zahnlose Frau, deren Lebenszeit aufgebraucht war, im zweiten der unglückselige Tamu aus dem Unterdorf. Er war beim Eisfischen auf dem Fluss eingebrochen. Er konnte sich zwar noch ans Ufer retten, doch dann war er im schlimmsten Sturm des vergangenen Winters erfroren, bevor er die wärmenden Feuer seines Dorfes erreicht hatte.

      Vor dem dritten Grabhügel blieb Karo stehen. Hier lag sein Bruder Saro, der gerade zehn Winter alt geworden war. Wie bei den meisten, die so viel vor ihrer Zeit gehen mussten, hatte es auch bei ihm mit einem schweren Husten angefangen, der von tief innen kam. Trotz Tee und Kräutersalben und Anflehungen der Ahnen hatte sich der Husten verschlimmert, und als sich immer mehr Blut in den Auswurf gemischt hatte, mussten sie ihre Hoffnungen auf eine Genesung aufgeben. 15 Tage hatte er sich tapfer gegen das Fieber und den Husten gewehrt, aber dann, an einem frostig klaren Morgen vor zwei Monden, hatte er den Kampf verloren.

      Eine Esche, dachte Karo. Wir werden ihm eine Esche pflanzen. Das ist ein stolzer, hoch aufstrebender Baum, und wenn seine Zeit gekommen ist, wird man aus seinem zähen Holz Bogen schnitzen.

      Doch dann legte sich ein Schatten auf seine Gedanken. Vermutlich würde nie jemand etwas schnitzen aus dem Holz seines Bruders. Vielleicht würden sie noch wegziehen, bevor die erste Ahnenehrung kam.

      Gesenkten Hauptes machte er sich auf den Rückweg. Als er auf den Hauptweg trat, waren die Jungen des Unterdorfes schon zu ihrer Gruppe gestossen. Die Alten und Erwachsenen verabschiedeten sich gerade von ihren Kindern und machten sich auf den Weg zum Hauptdorf. Auch sie würden an der Versammlung teilnehmen, denn das Schicksal der beiden Dörfer war untrennbar miteinander verknüpft.

      Es war ein jämmerlicher Haufen, nur gerade vierzig Menschen lebten noch im Unterdorf. Die Winter hatten ihnen noch schwerer zugesetzt als den Menschen im Hauptdorf. Karo trat ein paar Schritte zurück und wartete, bis die Eltern ihre Kleinsten auf den Rücken gepackt oder bei der Hand genommen hatten und Richtung Hauptdorf weiter gegangen waren. Wenn sie ihn aus dem Wald hätten treten sehen, dann wäre das Wehklagen über die schlimmen Winter und die viel zu vielen jungen Bäume im Ahnenwald wieder angebrochen, und er wollte mit seiner Trauer lieber alleine sein.

      Aus der Distanz nickte er den Vorbeiziehenden zu und ging dann zu den Jungen. Matu, sein bester Freund, betrachtete ihn nachdenklich Da er aber sah, dass Karo mit seinen Gedanken weit weg war, schwieg er. Matu war nur ein halbes Jahr jünger als er, hatte aber im Gegensatz zu ihm noch die glatte Haut und die hohe Stimme eines Kindes.

      Sie riefen die Kleinen zusammen und gingen ein langes Stück Weg schweigend hinter ihnen her. Dann fragte Matu: “Was meinst du, wie werden sie entscheiden?”

      “Ich weiss es nicht”, antwortete Karo. “Die Meinungen im Dorf sind geteilt. Es sind vor allem die Alten, die darauf drängen, dass wir wegziehen. Sie sagen, unsere Gemeinschaft sei sonst dem Untergang geweiht.”

      “Die Alten sind ängstliche Hasen”, sagte Matu verächtlich. Gleichzeitig vergewisserte er sich, dass sie keine Zuhörer hatten, denn man liess sich besser nicht dabei erwischen, über die Alten zu spotten. “Ein paar kalte Winter bedeuten noch lange nicht, dass der Sommer für immer verschwindet.”

      Karo

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