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Stunden zu Hause gewesen“, erwiderte Barbara in einem Ton unverhohlenen Unmuts.

      „Das war etwas anderes; das war geschäftlich. Aber Barbara, ich finde, Ihre Mutter sieht ungewöhnlich krank aus.“

      „Sie wissen, dass sie leidet und dass schon Kleinigkeiten sie aufregen. Gestern Abend hatte sie einen ihrer Träume, wie sie es nennt“, antwortete Barbara. „Sie sagt, es sei eine Warnung, dass etwas Schlimmes geschehen wird, und dann war sie den ganzen Tag in dem unglücklichsten Fieberzustand, den man sich vorstellen kann. Papa war sehr verärgert darüber, dass sie so schwach und nervös ist, und erklärte, sie müsse sich mit ihren ‚Nerven‘ zusammennehmen. Natürlich wagen wir es nicht, ihm von dem Traum zu erzählen.“

      „Er handelte von … dem …“

      Mr. Carlyle hielt inne. Barbara blickte sich mit einem Schaudern um und rückte näher zu ihm, während sie flüsterte. Dieses Mal hatte er ihr nicht seinen Arm angeboten.

      „Ja, von dem Mord. Wissen Sie, Mama hat immer behauptet, Bethel hätte etwas damit zu tun; sie sagt, auch wenn es sonst nichts gäbe, hätten ihre Träume sie davon überzeugt; und sie hat geträumt, sie hätte ihn gesehen, und zwar mit … mit … Sie wissen schon.“

      „Hallijohn?“, flüsterte Mr. Carlyle.

      „Mit Hallijohn“, bestätigte Barbara mit einem Schaudern. „Er stand über ihm, als er auf dem Boden lag; genau wie er wirklich dort lag. Und diese elende Afy stand hinten in der Küche und sah zu.“

      „Aber Mrs. Hare sollte nicht zulassen, dass Träume tagsüber ihren Frieden stören“, mahnte Mr. Carlyle. „Dass sie von dem Mord träumt, ist nicht verwunderlich, denn sie grübelt ständig darüber nach; aber sie sollte sich bemühen, das Gefühl zusammen mit der Nacht hinter sich zu lassen.“

      „Sie wissen doch, wie Mama ist. Natürlich sollte sie das tun, aber das macht sie nicht. Papa wundert sich, warum sie morgens so krank und zitternd aufwacht; dann muss Mama alle möglichen Ausflüchte erfinden; denn wie Sie wissen, darf ihm nicht die geringste Anspielung auf den Mord zu Ohren kommen.“

      Mr. Carlyle nickte bedächtig.

      „Wenn es um Bethel geht, spielt Mama immer die gleiche Leier. Und ich weiß, dass der Traum auf nichts anderem in der Welt beruht als dass sie ihn gestern am Tor hat vorübergehen sehen. Sie glaubt nicht, dass er es getan hat; dazu besteht leider kein Spielraum; aber sie behauptet steif und fest, er habe irgendwie seine Hand im Spiel gehabt, und er verfolgt sie in ihren Träumen.“

      Mr. Carlyle ging schweigend weiter; tatsächlich hatte er darauf keine Antwort. Ein Schatten war auf das Haus von Mr. Hare gefallen, und es war ein unglückseliges Thema. Barbara fuhr fort:

      „Aber Mama hat es sich in den Kopf gesetzt, dass ‚etwas Schlimmes geschehen wird‘, weil sie diesen Traum hatte, und darüber macht sie sich selbst unglücklich. Das ist so absurd, dass ich mich den ganzen Tag ziemlich über sie geärgert habe. Wissen Sie, Archibald, es ist ein solcher Unsinn – zu glauben, Träume wären ein Zeichen dafür, was geschehen wird. Es ist so rückständig in unserer aufgeklärten Zeit!“

      „Ihre Mutter hatte großen Kummer, Barbara; und sie ist keine starke Frau.“

      „Ich finde, unser Kummer war immer groß seit … seit jenem düsteren Abend“, erwiderte Barbara.

      „Haben Sie etwas von Anne gehört?“ erkundigte sich Mr. Carlyle. Er war gewillt, das Thema zu wechseln.

      „Ja, es geht ihr sehr gut. Was glauben Sie, welchen Namen sie dem Baby gegeben haben? Anne, nach ihrer Mutter. So ein hässlicher Name! Anne!“

      „Das finde ich nicht“, sagte Mr. Carlyle. „Er ist einfach und unprätentiös. Mir gefällt er sehr. Sehen Sie sich nur die langen, gezierten Namen in unserer Familie an – Archibald! Cornelia! Und auch Ihrer – Barbara! Was für große Worte sind das alles!“

      Barbara zog die Augenbrauen zusammen. Es war das Gleiche, als hätte er gesagt, dass ihm ihr Name nicht gefiel.

      Sie kamen zum Gartentor. Mr. Carlyle stand im Begriff, auf die Straße zu treten, da legte Barbara ihm die Hand auf den Arm, hielt ihn zurück und sagte mit furchtsamer Stimme:

      „Archibald!“

      „Was ist?“

      „Ich habe Ihnen dafür noch kein Wort des Dankes gesagt“, sagte sie, wobei sie die Kette und das Medaillon berührte; „Mir war, als wäre meine Zunge festgebunden. Bitte halten Sie mich nicht für undankbar.“

      „Sie dummes Mädchen! Das ist doch nicht der Rede wert. Da! Jetzt bin ich bezahlt. Gute Nacht, Barbara.“

      Er hatte sich hinuntergebeugt und sie auf die Wange geküsst, bevor er das Tor öffnete, lachte und sich mit langen Schritten entfernte. „Sagen Sie nicht, ich hätte ihnen nie etwas gegeben“, sagte er, während er sich noch einmal umdrehte. „Gute Nacht.“

      In ihr pochten alle Adern, und ihr Puls schlug heftig; ihr Herz bebte in diesem Gefühl der Glückseligkeit. Soweit sie sich erinnern konnte, hatte er sie nie geküsst, seit sie ein Kind war. Als sie ins Haus zurückkehrte, war ihre Stimmung so außergewöhnlich gut, dass Mrs. Hare sich wunderte.

      „Läute und lassʼ die Lampe bringen, Barbara, dann kannst du an deine Arbeit gehen. Aber lassʼ die Fensterläden nicht schließen; ich blicke in solchen hellen Nächten gern nach draußen.“

      Barbara ging nicht an ihre Arbeit; vielleicht blickte auch sie „in hellen Nächten gern nach draußen“, denn sie setzte sich ans Fenster. Sie durchlebte die letzte halbe Stunde noch einmal. „‚Sagen Sie nicht, ich hätte ihnen nie etwas gegeben‘“, murmelte sie. „Hat er damit die Kette gemeint oder – den Kuss? Ach, Archibald, warum sagst du nicht, dass du mich liebst?“

      Mr. Carlyle hatte während seines ganzen Lebens mit der Familie Hare auf vertrautem Fuß gestanden. Die erste Ehefrau seines Vaters – der verstorbene Anwalt Carlyle war zweimal verheiratet gewesen – war eine Cousine des Richters Hare, und das hatte dazu geführt, dass sie oft zusammen waren. Archibald, der Sohn der zweiten Mrs. Carlyle, hatte Anne und Barbara Hare abwechselnd gehänselt und gehätschelt, wie Jungen es tun. Manchmal hatte er sich mit den hübschen kleinen Mädchen gestritten, manchmal hatte er sie liebkost, wie er es auch getan hätte, wenn sie seine Schwestern gewesen wären; und er hatte keine Bedenken, den beiden in aller Offenheit zu sagen, dass Anne ihm die Liebere war. Sie war wie ihre Mutter ein sanftes, nachgiebiges Mädchen; Barbara dagegen hatte stets ihren eigenen Willen und war manchmal mit dem jungen Carlyle aneinandergeraten.

      Die Uhr schlug zehn. Mrs. Hare nahm ihren üblichen Schlummertrunk aus Brandy und Wasser zu sich, ein kleines, zu drei Vierteln gefülltes Glas. Ohne ihn, so glaubte sie, würde sie niemals schlafen können; sie sagte, es halte unglückselige Gedanken fern. Nachdem Barbara das Getränk zubereitet hatte, wandte sie sich wieder zum Fenster, nahm aber ihren Sitzplatz nicht ein. Sie stand unmittelbar davor, ihre Stirn beugte sich gegen die mittlere Glasscheibe. Die Lampe stand hinter ihr und warf helles Licht, sodass ihre Gestalt vom Rasen aus eindeutig zu erkennen gewesen wäre, hätte dort jemand gestanden und sie gesehen.

      So stand sie dort mitten im Traumland und ließ allen seinen bezaubernden, höchst trügerischen Reizen ihren Lauf. Sie sah sich selbst in der Vorausschau als Ehefrau von Mr. Carlyle, beneidet, dreifach beneidet von ganz West Lynne; denn er war ihrem Herzen nicht nur das Liebste auf Erden, sondern auch die beste Partie in der ganzen Nachbarschaft. Da gab es keine Mutter, die sich ihn nicht für ihr Kind gewünscht hätte, und keine Tochter, die auf einen Antrag des attraktiven Archibald Carlyle nicht gesagt hätte: „Ja, und vielen Dank.“ „Bis heute Abend war ich mir nie sicher, ganz sicher“, murmelte Barbara, wobei sie das Medaillon liebkoste und an ihrer Wange hielt. „Ich habe immer gedacht, er meint vielleicht etwas, oder er meint nichts: Aber mir dies zu geben – mich zu küssen – ach, Archibald!“

      Eine Pause trat ein. Barbaras Blicke hefteten sich an das Mondlicht.

      „Wenn er doch nur sagen würde, dass er mich liebt! Wenn er mich vor der Unsicherheit meines schmerzenden Herzens bewahren würde!

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