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mit zehn Jahren war sie eine Frau; sie beglückwünschte Isabel dazu, dass die kaum besser sei als eine Schwachsinnige. „In mein Röckchen gesteckt!“, stieß sie mit beißendem Spott hervor. „Und du willst achtzehn Jahre alt sein! Ich hatte mir vorgestellt, du hättest die ‚Röckchen‘ im Kinderzimmer gelassen. Schämʼ dich, Isabel!“

      „Ich wollte sagen, in mein Kleid“, korrigierte sich Isabel.

      „Du wolltest sagen, du bist ein dummes Baby!“, lautete der unausgesprochene Kommentar von Mrs. Vane.

      Einige Minuten später hatte Isabel ihren Kummer vergessen. Die prächtigen Räumlichkeiten waren für sie wie eine verzauberte Szene aus einem Traumland; ihr Herz befand sich im Frühling der ersten Frische, und die Sättigung mit Erfahrungen hatte sich noch nicht eingestellt. Wie konnte sie an Schwierigkeiten oder sogar an das zerbrochene Kreuz denken, als sie sich den Huldigungen zuneigte, die ihr entgegengebracht wurden, und die honigsüßen Worte in sich aufsaugte, die man ihr in die Ohren träufelte?

      „Hallooo!“, rief ein Student aus Oxford mit Aussicht auf eine lange Einkünfteliste, der sich an die Wand drückte, um den Tänzern nicht im Wege zu sein. „Ich dachte, Sie hätten es aufgegeben, an solche Orte zu kommen?“

      „Das hatte ich auch“, erwiderte der angesprochene flotte Adlige, der Sohn eines Marquis. „Aber ich bin auf der Suche, und deshalb muss ich wieder herkommen. Für mich ist ein Ballsaal das Langweiligste auf der Welt.“

      „Auf der Suche wonach?“

      „Nach einer Ehefrau. Mein alter Herr hat mir die Unterstützung gestrichen und bei seinem Bart geschworen, keinen Schilling mehr herauszurücken und keine Schulden zu bezahlen, bis ich mich gebessert habe. Als ersten Schritt in diese Richtung besteht er auf einer Ehefrau, und ich versuche, mich für eine zu entscheiden, denn ich stecke tiefer in den Schulden, als Sie sich vorstellen können.“

      „Dann nehmen Sie doch die neue Schönheit.“

      „Wer ist sie?“

      „Lady Isabel Vane.“

      „Verbindlichsten Dank für den Vorschlag“, erwiderte der Earl. „Aber man möchte doch gern einen respektablen Schwiegervater haben, und Mount Severn wird vor die Hunde gehen. Er und ich, wir sind zu sehr auf der gleichen Linie und könnten auf lange Sicht zusammenrasseln.“

      „Man kann nicht alles haben; die Schönheit des Mädchens geht über das Übliche hinaus. Ich habe gesehen, wie dieser Wüstling Levison sich an sie herangemacht hat. Er bildet sich ein, er könnte alle anderen ausstechen, wenn es um Frauen geht.“

      „Das schafft er oft“, war die leise Antwort.

      „Ich mag den Burschen nicht! Er ist so von sich eingenommen mit den gelockten Haaren und den blitzenden Zähnen und der weißen Haut; und er ist herzlos wie eine Eule. Was war das für eine vertuschte Angelegenheit mit Miss Charteris?“

      „Wer weiß das schon? Levison hat sich aus der Affäre gezogen wie ein Aal, und die Frau hat sich beklagt, andere würden sich an ihm mehr versündigen als er sich an anderen. Drei Viertel von allen haben ihr geglaubt.“

      „Und sie ist ins Ausland gegangen und gestorben; da kommt Levison ja schon! Und die Tochter von Mount Severn mit ihm.“

      Im gleichen Augenblick kamen Francis Levison und Lady Isabel näher. Zum zehnten Mal an diesem Abend brachte er sein Bedauern über das unangenehme Missgeschick mit dem Kreuz zum Ausdruck. „Ich habe das Gefühl, als könne ich das nie wieder gutmachen“, flüsterte er. „Mir ist, als würde die aus tiefsten Herzen kommende Huldigung meines ganzen Lebens als Ausgleich nicht ausreichen.“

      Er sprach in einem Tonfall der mitreißenden Herzlichkeit – angenehm für das Ohr, aber gefährlich für das Herz. Lady Isabel blickte auf und begegnete seinen Augen, die sie voller tiefster Zärtlichkeit anblickten – in einer Sprache, die ihr noch nie begegnet war. Wieder breitete sich auf ihren Wangen eine lebhafte Röte aus, ihre Augenlider senkten sich, und ihre angstvollen Worte starben im Schweigen dahin.

      „Vorsicht, Vorsicht, meine junge Lady Isabel“, murmelte der Oxforder halblaut, als sie an ihm vorübergingen. „Dieser Mann ist so falsch, wie er hübsch ist.“

      „Ich glaube, er ist ein Schuft“, bemerkte der Earl.

      „Das ist mir bekannt; ich weiß ein paar Dinge über ihn. Er würde ihr Herz um der Eroberung willen ruinieren, einfach weil sie eine Schönheit ist, und dann würde er es gebrochen wegwerfen. Er hat nichts, was er für das Geschenk zurückgeben könnte.“

      „Ebenso viel wie mein neues Rennpferd“, schloss der Earl. „Sie ist wirklich sehr schön.“

      West Lynne war ein Ort von einer gewissen Bedeutung, insbesondere nach seiner eigenen Einschätzung, denn da es weder eine Industriestadt noch Bischofssitz war, ja noch nicht einmal die Hauptstadt der Grafschaft, war es, was Sitten und Gebräuche anging, ein wenig primitiv. Außerhalb der Stadt, in östlicher Richtung, kam man an mehreren freistehenden Landhäusern vorüber. In deren Nachbarschaft stand die Kirche St. Jude, die, was ihre Gemeinde anging, aristokratischer war als die anderen Kirchen von West Lynne. Die Häuser verteilten sich über ungefähr eine Meile, und die Kirche lag am Anfang der Reihe nicht weit vom belebten Teil des Ortes. Nochmals eine Meile weiter gelangte man zu dem wunderschönen Anwesen, das East Lynne genannt wurde.

      Zwischen den erwähnten Herrenhäusern und East Lynne war die Straße auf einer Meile sehr einsam und größtenteils von Bäumen überschattet. Ein Haus stand dort ganz allein ungefähr eine dreiviertel Meile bevor man nach East Lynne gelangte. Es lag auf der linken Seite, ein klobiges, hässliches rotes Backsteinhaus mit einem Wetterhahn auf dem First, das in einer gewissen Entfernung von der Straße erbaut war. Davor erstreckte sich ein flacher Rasen, und in der Nähe des Lattenzaunes, der ihn von der Straße trennte, wuchs ein eine Baumgruppe von einigen Yards Tiefe. Der Rasen wurde in der Mitte von einem schmalen Kiesweg unterteilt, über den man Zugang zur Eingangsveranda des Hauses erhielt. Von dort trat man in eine große, geflieste Diele mit je einem Empfangszimmer rechts und links und dem breiten Treppenhaus auf der Rückseite; neben dem Treppenhaus gelangte man zu den Wohnungen und Arbeitsräumen der Dienstboten. Das Haus wurde The Grove genannt; es war Eigentum und Wohnsitz von Richard Hare, Esq., der allgemein Richter Hare genannt wurde.

      Der Raum, der beim Eintreten zur Linken lag, war das allgemeine Wohnzimmer; der andere war größtenteils mit lavendelfarbenen und braunen Leinentapeten geschmückt und wurde nur bei besonderen Gelegenheiten geöffnet. Der Richter und Mrs. Hare hatten drei Kinder, einen Sohn und zwei Töchter. Anne, das Ältere der Mädchen, hatte frühzeitig geheiratet; Barbara, die Jüngere, war jetzt neunzehn; und Richard, der Älteste – auf ihn werden wir später zu sprechen kommen.

      An einem frostigen Abend Anfang Mai, wenige Tage nach dem Besuch von Mr. Carlyle bei dem Earl of Mount Severn, saß Mrs. Hare in diesem Wohnzimmer. Die blasse, kränkliche Frau war zwischen Decken und Kissen begraben – aber tagsüber war es warm gewesen. Am Fenster saß ein hübsches Mädchen, sehr liebreizend mit blauen Augen, blonden Haaren, einem blühenden Teint und kleinen, scharf geschnittenen Gesichtszügen. Sie blätterte lustlos in einem Buch.

      „Barbara, jetzt ist doch sicher schon Zeit für den Tee.“

      „Die Zeit vergeht dir anscheinend sehr langsam, Mama. Erst vor knapp einer Viertelstunde habe ich dir gesagt, dass es zehn Minuten nach sechs ist.“

      „Ich habe solchen Durst!“, verkündete die arme Kranke. „Sieh doch noch einmal auf die Uhr, Barbara.“

      Barbara Hare erhob sich mit einer Geste unverhohlener Ungeduld, öffnete die Türe und warf einen Blick auf die große Uhr in der Diele. „Es fehlen noch neunundzwanzig Minuten bis sieben Uhr, Mama. Du könntest eigentlich tagsüber deine Armbanduhr anlegen; seit dem Essen hast du mich schon viermal weggeschickt, damit ich auf die Uhr sehe.“

      „Ich habe solchen Durst!“, wiederholte Mrs. Hare mit einer Art Schluchzen. „Wenn es doch bloß sieben Uhr schlagen würde! Ich komme um ohne meinen Tee!“

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