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hat. Nicht so Mrs. Hare. Seit ihr Ehemann sie vor vierundzwanzig Jahren zum ersten Mal in dieses Haus gebracht hatte, hatte sie es nie gewagt, ihren eigenen Willen zum Ausdruck zu bringen; kaum einmal hatte sie aus eigener Verantwortung eine Anweisung gegeben. Der Richter Hare war streng, gebieterisch, halsstarrig und selbstgefällig; sie war furchtsam, sanftmütig und unterwürfig. Sie hatte ihn von ganzem Herzen geliebt, und ihr Leben war eine einzige lange Unterwerfung ihres Willens unter den Seinen gewesen; eigentlich hatte sie keinen eigenen Willen; immer galt der Seine. Dennoch war sie weit davon entfernt, die Knechtschaft als Joch zu empfinden – manche Charaktere haben solche Gefühle nicht. Und um Mr. Hare Gerechtigkeit widerfahren zu lassen: Sein machtvoller Wille, wonach alles sich ihm beugen musste, war ein Fehler, aber seine Freundlichkeit stand außer Frage. Er wollte zu seiner Frau nie unfreundlich sein. Von seinen drei Kindern hatte allein Barbara seine Willensstärke geerbt.

      „Barbara“, setzte Mrs. Hare noch einmal an, als sie glaubte, es müsse mindestens eine Viertelstunde verstrichen sein.

      „Ja, Mama?“

      „Läute und sage ihnen, sie sollen alles in Bereitschaft halten, damit keine Verzögerung eintritt, wenn es sieben schlägt.“

      „Du liebe Güte, Mama! Du weißt doch, dass immer alles bereitsteht. Und wir haben keine Eile, denn Papa ist wahrscheinlich nicht zu Hause.“ Dennoch erhob sie sich, betätigte mit einer verdrießlichen Bewegung die Glocke, und als der Dienstbote eintrat, sagte sie ihm, er solle pünktlich den Tee servieren.

      „Wenn du wüsstest, mein Liebes, was ich für einen trockenen Hals habe und wie ausgedörrt mein Mund ist, hättest du mehr Geduld mit mir.“

      Barbara schlug mit einem Ausdruck der Lustlosigkeit ihr Buch zu und wandte sich lustlos zum Fenster. Sie wirkte müde, aber nicht vor Erschöpfung, sondern wegen des Zustandes, den die Franzosen mit dem Wort ennui ausdrücken. „Da kommt Papa“, sagte sie kurz darauf.

      „Ach, da bin ich aber froh“, rief die arme Mrs. Hare. „Vielleicht macht es ihm nichts aus, sofort Tee zu trinken, wenn ich ihm sage, welchen Durst ich habe.“

      Der Richter trat ein. Er war ein mittelgroßer Mann mit wichtigtuerischen Gesichtszügen, wichtigtuerischem Gang und einer flachsblonden Perücke. In seiner Adlernase, den zusammengepressten Lippen und dem spitzen Kinn mochte man vielleicht eine Ähnlichkeit mit seiner Tochter erkennen; allerdings hatte er nie auch nur halb so gut ausgesehen wie die hübsche Barbara.

      „Richard“, ergriff Mrs. Hare in dem Augenblick, in dem er die Tür öffnete, zwischen ihren Decken das Wort.

      „Ja?“

      „Darf ich jetzt bitte den Tee bringen lassen? Würde es dir sehr viel ausmachen, ihn heute Abend ein wenig früher zu trinken? Ich habe wieder Fieber, und meine Zunge ist so trocken, dass ich nicht mehr weiß, wie ich sprechen soll.“

      „Ach, es ist ja kurz vor sieben; du musst nicht mehr lange warten.“

      Mit dieser überaus liebreizenden Antwort auf die Bitte einer Kranken verließ Mr. Hare das Zimmer und knallte die Tür zu. Er hatte nicht unfreundlich oder grob gesprochen, sondern einfach nur voller Gleichgültigkeit. Aber noch bevor Mrs. Hares schwacher Seufzer der Enttäuschung vorüber war, öffnete sich die Tür erneut, und die flachsblonde Perücke wurde wieder hereingestreckt.

      „Es macht mir nichts aus, ihn jetzt zu trinken. Es wird eine schöne Mondnacht, und ich werde mit Pinner zu Beauchamp gehen und dort eine Pfeife rauchen. Lassʼ ihn kommen, Barbara.“

      Der Tee wurde zubereitet und eingenommen, und nachdem Squire Pinner am Tor vorgesprochen hatte, machte der Richter sich auf den Weg zu Mr. Beauchamp. Dieser Gentleman bewirtschaftete große Ländereien und war auch der Agent oder Verwalter des Lord Mount Severn für East Lynne. Er wohnte ein Stück weiter die Straße entlang in kurzer Entfernung hinter East Lynne.

      „Mir ist so kalt, Barbara“, schauderte Mrs. Hare, während sie zusah, wie der Richter den Kiesweg hinunterging. „Ob dein Papa es wohl töricht finden würde, wenn ich ihnen sage, sie sollten ein wenig Feuer machen?“

      „Lassʼ es anzünden, wenn du magst“, erwiderte Barbara und läutete. „Papa wird ohnehin nichts davon erfahren, denn er wird erst nach der Zubettgehzeit nach Hause kommen. Jasper, Mama friert und möchte, dass ein Feuer angezündet wird.“

      „Viele dünne Stöcke, Jasper, damit es schnell brennt“, sagte Mrs. Hare mit bettelnder Stimme, als seien es nicht ihre Stöcke, sondern die von Jasper.

      Mrs. Hare bekam ihr Feuer, zog ihren Stuhl davor und legte die Füße auf das Kamingitter, um die Wärme aufzufangen. Barbara begab sich, immer noch lustlos, in die Diele, nahm dort einen Wollschal vom Ständer, warf ihn sich über die Schulter und ging hinaus. Sie schlenderte den geraden, herrschaftlichen Weg hinunter, blieb an dem eisernen Tor stehen und blickte darüber hinweg auf die öffentliche Straße, die allerdings an dieser Stelle und zu dieser Stunde nicht sehr öffentlich war, sondern so einsam, wie man es sich nur wünschen konnte. Es war eine stille, angenehme Nacht, wenn auch etwas kalt für Anfang Mai, und der Mond stieg am Himmel in die Höhe.

      „Wann kommt er wohl nach Hause?“, murmelte sie, während sie den Kopf an das Gitter lehnte. „Ach, was wäre das Leben ohne ihn? Wie elend waren diese paar Tage! Was hat ihn wohl dorthin geführt? Was hält ihn ab? Corny sagt, er sei nur für einen Tag weggegangen.“

      Aus der Ferne drang das schwache Echo von Schritten an ihre Ohren. Barbara zog sich ein wenig zurück und versteckte sich unter den Bäumen – von einem zufälligen Passanten wollte sie nicht gesehen werden. Als die Schritte aber näher kamen, ging plötzlich eine Wandlung mit ihr vor; ihre Augen leuchteten auf, ihre Wangen färbten sich dunkelrot, und ihre Adern pulsierten in einem Übermaß von Begeisterung: Sie kannte diese Schritte nur allzu gut und liebte sie.

      Vorsichtig spähte sie wieder über das Tor und blickte die Straße hinunter. Eine stattliche Gestalt, deren Größe und Kraft eine Anmut in sich trugen, ohne dass sich ihr Besitzer dessen bewusst gewesen wäre, kam aus der Richtung von West Lynne schnell auf sie zu. Wieder schreckte sie zurück; wahre Liebe ist stets furchtsam; und welche Qualitäten Barbara Hare sonst auch besitzen mochte, ihre Liebe zumindest war wahrhaftig und tief. Aber das Tor öffnete sich nicht mit der energischen, schnellen Bewegung, die für die sie ausführende Hand charakteristisch war, sondern die Schritte schienen vorüberzugehen und sich nicht in ihre Richtung zu wenden. Barbaras Herz sank. Wieder stahl sie sich an das Tor und sah mit sehnsuchtsvollem Blick nach draußen.

      Ja, natürlich ging er weiter. Er dachte nicht an sie, kam nicht zu ihr; in der Enttäuschung und aus dem Impuls des Augenblicks rief sie ihn:

      „Archibald!“

      Mr. Carlyle – denn kein anderer war es – wandte sich auf dem Absatz um und kam zum Tor.

      „Sie sind es, Barbara! Halten Sie Ausschau nach Dieben und Wilderern? Wie geht es Ihnen?“

      „Wie geht es Ihnen?“, gab sie zurück und hielt das Tor auf, damit er eintreten konnte. Während sie sich die Hand gaben, bemühte sie sich, ihre Aufregung zu zügeln. „Wann sind Sie zurückgekommen?“

      „Gerade erst, mit dem Achtuhrzug. Er hatte Verspätung, weil er an den Bahnhöfen unverzeihlich lange getrödelt hat. Sie hatten nicht daran gedacht, dass ich darin saß, das verrieten mir ihre Blicke, als ich ausgestiegen bin. Ich war noch nicht zu Hause.“

      „Nein! Was wird Cornelia sagen?“

      „Ich war für fünf Minuten in der Kanzlei. Aber ich habe ein paar Worte mit Beauchamp zu reden und gehe sofort hin. Danke, ich kann jetzt nicht hereinkommen; ich habe vor, es auf dem Rückweg zu tun.“

      „Papa ist zu Mr. Beauchamp gegangen.“

      „Mr. Hare! Wirklich?“

      „Er und Squire Pinner“, fuhr Barbara fort. „Sie sind hingegangen, um eine Runde zu rauchen. Wenn Sie dort auf Papa warten, wird es zu spät, um noch hereinzukommen, denn er wird sicher nicht vor elf oder zwölf zurück sein.“

      Mr. Carlyle senkte nachdenklich den Kopf. „Ich glaube, dann

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