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gestorben als Mr. Carlyle, und sein Vermögen – geheiratet hatte er nie – wurde zu gleichen Teilen unter Cornelia und Archibald geteilt. Archibald war für ihn kein Blutsverwandter, aber er liebte den aufgeschlossenen Jungen mehr als seine Nichte. Von Mr. Carlyles großem Besitz ging ein kleiner Teil an seine Tochter, der Rest an seinen Sohn; darin lag vielleicht eine gewisse Gerechtigkeit, denn die zwanzigtausend Pfund, die Mr. Carlyles zweite Frau mit in die Ehe gebracht hatte, waren der wesentliche Grundstock für die Anhäufung seines großen Vermögens gewesen.

      Miss Carlyle oder Miss Corny, wie sie im Ort genannt wurde, hatte nie geheiratet; es war ziemlich sicher, dass sie auch nie heiraten würde; man glaubte, die innige Liebe zu ihrem jüngeren Bruder habe dazu geführt, dass sie allein geblieben war, aber dass es der Tochter des reichen Mr. Carlyle an Angeboten gemangelt hätte, war unwahrscheinlich. Andere junge Frauen bekennen sich zu weichen, zärtlichen Gefühlen. Nicht so Miss Carlyle. Alle, die sich ihr mit liebeskranken Worten genähert hatten, waren schnell zur Kehrtwende veranlasst worden.

      An dem Morgen, nachdem Mr. Carlyle aus London zurückgekehrt war, saß er in seinem privaten Zimmer der Kanzlei. Neben ihm stand sein vertrauter Bürovorsteher und Verwalter. Mr. Dill war ein kleiner, bescheiden wirkender Mann mit kahlem Kopf. Er hatte schon vor vielen Jahren die Zulassung als Anwalt erhalten, aber nie selbst eine Kanzlei gegründet; vielleicht war der Posten des Vorstehers im Büro von Carlyle & Davidson mit seinem beträchtlichen Gehalt für seinen Ehrgeiz ausreichend; und Vorsteher war er schon, als der jetzige Mr. Carlyle noch Babykleidchen trug. Mr. Dill war unverheiratet und bewohnte in der Nähe eine hübsche Wohnung.

      Zwischen Mr. Carlyles Zimmer und den Räumen der Angestellten lag ein kleiner, quadratischer Raum, eine Art Diele, die ebenfalls von der Haustür aus zugänglich war; von ihr ging ein weiteres schmales Zimmer ab, das Allerheiligste von Mr. Dill. Hier empfing er die Mandanten, wenn Mr. Carlyle außer Haus oder beschäftigt war, und von hier aus gab er private Anweisungen. Ein kleines Fenster, nicht größer als eine Glasscheibe, ging vom Büro des Vorstehers nach draußen; die Leute nannten es das Guckloch des alten Dill und wünschten es wer weiß wohin, denn seine Brille war dort häufiger zu erkennen als es angenehm war. Der alte Gentleman hatte in seinem Büro ebenfalls einen Schreibtisch, und dort saß er häufig. Hier hielt er sich auch würdevoll an eben jenem Morgen auf und sah sich mit scharfem Blick um, als sich plötzlich schüchtern die Tür öffnete und das hübsche Gesicht von Barbara Hare erschien. Es war rosa mit roten Flecken.

      „Kann ich Mr. Carlyle sprechen?“

      Mr. Dill erhob sich von seinem Platz und gab ihr die Hand. Sie zog ihn in den Eingang, und er schloss die Tür. Vielleicht war er überrascht, denn eigentlich war es nicht die Sitte junger, alleinstehender Damen, hierher zu kommen und nach Mr. Carlyle zu fragen.

      „In Kürze, Miss Barbara. Er ist gerade beschäftigt. Die Richter sind bei ihm.“

      „Die Richter!“, stieß Barbara beunruhigt hervor. „Und einer davon ist Papa? Was soll ich nur tun? Er darf mich nicht sehen. Ich möchte um nichts in der Welt, dass er mich hier sieht.“

      Man hörte unheilvolle Geräusche; offensichtlich kamen die Richter näher. Mr. Dill hielt Barbara fest, schob sie durch das Zimmer der Angestellten – sie in die andere Richtung zu ziehen, wagte er nicht, damit sie ihnen nicht begegnete – und schloss sie in seinem Büro ein. „Was zum Teufel hat Papa ausgerechnet in diesem Augenblick hierhergeführt?“, dachte Barbara. Ihr Gesicht war puterrot.

      Einige Minuten später öffnete Mr. Dill die Tür erneut. „Sie sind jetzt weg, die Luft ist rein, Miss Barbara.“

      „Ich weiß nicht, was Sie sich für eine Meinung über mich bilden müssen, Mr. Dill“, flüsterte sie, „aber ich will Ihnen im Vertrauen sagen, dass ich in einer privaten Angelegenheit für Mama hier bin, weil sie sich nicht so wohl fühlt, dass sie selbst kommen könnte. Es ist eine kleine private Sache, und sie möchte nicht, dass Papa davon etwas weiß.“

      „Mein Kind“, erwiderte der Bürovorsteher, „ein Anwalt bekommt viel Besuch; zu ‚denken‘ ist für die Menschen in seiner Umgebung nicht angebracht.“

      Während er noch sprach, öffnete er die Tür, führte sie zu Mr. Carlyle und verließ sie. Der Anwalt erhob sich voller Erstaunen.

      „Sie müssen mich als Mandantin betrachten, und entschuldigen Sie, dass ich hier eingedrungen bin“, sagte Barbara mit einem gezwungenen Lachen, mit dem sie ihre Aufregung verbergen wollte. „Ich bin im Auftrag von Mama hier – und fast hätte ich Papa in Ihrem Eingang getroffen, was mir vor Angst fast den Verstand geraubt hat. Mr. Dill hat mich in seinem Zimmer versteckt.“

      Mr. Carlye bedeutete Barbara mit einer Bewegung, sich zu setzen, und nahm dann selbst seinen Platz am Tisch wieder ein. Barbara konnte sich nicht der Feststellung erwehren, dass er sich hier im Büro ganz anders benahm als an dem Abend, als er „außer Dienst“ war. Hier war er der seriöse, ruhige Geschäftsmann.

      „Ich muss Ihnen etwas Seltsames erzählen“, begann sie im Flüsterton, „aber … kann uns hier wirklich niemand hören?“ Mit angstvollem Blick hielt sie inne. „Es würde … es könnte … den Tod bedeuten!“

      „Das ist vollkommen unmöglich“, erwiderte Mr. Carlyle in aller Ruhe. „Die Türen sind Doppeltüren; ist Ihnen das nicht aufgefallen?“

      Dennoch stand sie von ihrem Stuhl auf, stellte sich nahe zu Mr. Carlyle und legte ihre Hand auf den Tisch. Natürlich erhob er sich ebenfalls.

      „Richard ist hier!“

      „Richard!“, wiederholte Mr. Carlyle. „In West Lynne!“

      „Er ist gestern Abend verkleidet beim Haus aufgetaucht und hat mir von dem Gehölz aus Zeichen gegeben. Sie können sich vorstellen, wie beunruhigt ich war. Er hat die ganze Zeit halb verhungert in London gewohnt und – ich schäme mich fast, es Ihnen zu sagen – in einem Pferdestall gearbeitet. Und ach, Archibald! Er sagt, er sei unschuldig.“

      Mr. Carlyle gab keine Antwort. Vermutlich schenkte er der Behauptung keinen Glauben. „Setzen Sie sich, Barbara“, sagte er und zog ihren Stuhl näher zu sich.

      Barbara nahm wieder Pltz, aber ihr Betragen war hektisch und nervös. „Ist ganz sicher, dass kein Fremder hereinkommt? Es wäre seltsam, wenn jemand mich hier sehen würde; aber Mama ging es so schlecht, dass sie nicht selbst kommen konnte – oder eigentlich hat sie Papas Fragen gefürchtet, wenn er herausgefunden hätte, dass sie gekommen ist.“

      „Seien Sie unbesorgt“, erwiderte Mr. Carlyle. „Dieses Zimmer ist vor eindringenden Fremden sicher. Wie steht es mit Richard?“

      „Er sagt, er sei zu der Zeit, als der Mord begangen wurde, nicht in dem Häuschen gewesen; die Person, die es wirklich getan hätte, sei ein Mann namens Thorn gewesen.“

      „Was für ein Thorn?“, fragte Mr. Carlyle, wobei er alle Anzeichen der Skepsis unterdrückte.

      „Das weiß ich nicht; ein Freund von Afy, hat er gesagt. Archi­­bald, er hat es höchst feierlich beschworen; und ich glaube, so wahr ich es hier Ihnen gegenüber wiederhole, dass er die Wahrheit gesagt hat. Ich möchte, dass Sie sich mit Richard treffen, wenn es möglich ist; er kommt heute Abend wieder an die gleiche Stelle. Wenn er Ihnen selbst seine Geschichte erzählen kann, finden Sie vielleicht einen Weg, wie seine Unschuld offenbar gemacht werden kann. Sie sind so schlau, Sie können alles.“

      Mr. Carlyle lächelte. „Alles nicht gerade, Barbara. War das der Zweck von Richards Besuch – Ihnen das zu sagen?“

      „Oh nein! Er glaubt, es zu sagen, sei zu nichts nütze, weil ihm niemand entgegen den Indizien glauben würde. Er ist gekommen, weil er um hundert Pfund bitten wollte; er sagt, er hat eine Möglichkeit, wie es ihm besser gehen könne, wenn er diese Summe hat. Mama hat mich zu Ihnen geschickt; sie selbst hat das Geld nicht, und sie wagt auch nicht, Papa darum zu bitten, denn es ist ja für Richard. Ich soll Ihnen sagen, wenn Sie ihr das Geld heute freundlicherweise vorstrecken würden, wird sie sich mit Ihnen über die Rückzahlung einigen.“

      „Wollen Sie es jetzt haben?“, fragte Mr. Carlyle. „Dann muss ich jemanden zur Bank schicken. Dill

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