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abgelenkt. Das Meer ist nicht zu sehen, etwa fünfhundert bis tausend Meter entfernt. Autos sind hier weiterhin nicht zu hören, auch nicht aus weiter Ferne, welch eine Seltenheit! In dieser Stille laufe ich meinen viertausendsten Kilometer, nicht mal zum Jubiläum ist eine Pause drin. Da ich außer Laufen nichts weiter zu tun habe, entwickle ich nebenbei eine neue Mordtechnik: Ich schlag auf das Vieh, roll es anschließend zwischen Daumen und Zeigefinger wie einen Popel zusammen, schnipse die Kugel nach unten, trete drauf und schiebe Sand über das noch immer zuckende Etwas drüber. So sollte man mit allen Schmarotzern umgehen, mich eingeschlossen. Immerhin verlange ich meinem Körper heute einiges ab, denn ab Hourtin-Plage geht es barfuß auf Sand weiter, da der Radweg nun drei Kilometer von der Küste entfernt verläuft. Direkt am Strand sind nur vereinzelt Blutsauger unterwegs, den starken Wind vertragen sie anscheinend nicht, weshalb sie den Schutz des Waldes suchen. Zwanzig Kilometer auf Sand sind wie vierzig Kilometer auf Asphalt, bei einem vollkommen blauen Himmel lässt sich dabei die Einsamkeit aber leichter ertragen. Dafür fehlt der Schatten des Waldes, die pausenlose Sonne kostet zusätzliche Körner. Nach einigen Kilometern tauchen endlich wieder viele Bunker auf, die meisten davon stehen jedoch unter Wasser. Der Strand hier trägt den Namen Le Pin Sec. An einem Bunker, der trocken liegt, überdacht ist und einen schmalen offenen Eingang hat, lungern ein paar Jugendliche und sonnen sich. Ich setze mich etwas abseits von ihnen hin, rauche und verfolge wie die Sonne dem Horizont immer näherkommt – das Stück Sky and Sand von den Kalkbrenners passt ganz gut dazu, hat eine euphorisierende Wirkung auf mich. Die Jugendlichen verschwinden währenddessen, so kann ich unbemerkt den Bunker in Augenschein nehmen. Ich kann mich nicht dazu bringen, in den Bunker richtig hineinzukriechen, einschließlich mich hinter die halb geöffnete Stahltüre zu trauen, denn der modrige Geruch ist doch sehr unangenehm, außerdem ist es stockduster und man sieht wirklich rein gar nichts, da bringt auch mein Handy-Display als Taschenlampe nichts. Also bleibe ich im schmalen, überdachten Eingangsbereich an der frischen Luft, wie maßgeschneidert für meine Matte, jedoch leider mit Aussicht zur Düne und nicht zum Meer. Als perfekter Windschutz ist dieser Schlafplatz aber nicht zu unterschätzen. Außerdem kann ich beruhigt hier liegen und muss nicht – jedes Mal wenn ich aufwache – zum Himmel schauen, um nach Sternen zu suchen. Wer weiß wie viele Kilometer der nächste überdachte Schlafplatz entfernt wäre. Den Sonnenuntergang verbringe ich natürlich mit Blick aufs Meer, es ist mild, Musik läuft noch immer, eine weitere Zigarette, irgendwie schön, ich fühle mich gut. Wahrscheinlich kann ich den Moment auch mehr genießen, weil ich bereits für die Nacht meinen Schlafplatz, der mir eine trockene und warme Nacht verspricht, gefunden habe. Wenig später liege ich in meinem Schlafsack, blicke der Nacht ins Maul, während sie gerade die Düne verschluckt. Dass es hinter mir noch tiefer in den Bunker geht und ich keine Ahnung habe, was genau dort ist, bringt etwas Nervenkitzel – also genau für mich gemacht!

      Am Morgen am Strand zu laufen bringt trotz aller Anstrengung Freude. Nur du und der Ozean, die Luft ist fantastisch, die Sonne scheint. Aller paar hundert Meter sind bis zu einhundert Zentimeter lange Fischkadaver zu begutachten, irgendwie spannend. Im kleinen Badeort Montalivet-les-Bains laufen mir nackte Menschen entgegen, FKK, ich grüße alle Leute mit einem lockeren „Bonjour“. Die Bunker hier werden immer mehr vom Atlantik verschluckt. Meine Ernährung an diesem Tag setzt sich nur aus Bonbons zusammen, weil mir die Preise in den kleinen Supermärkten zu teuer sind, genauer: dreimal so hoch wie üblich. Ein paar Läden öffnen für die Touristen, aus einem Laden ist eine Endlosschleife Somebody That I Used to Know zu hören, während ich gerade in meinem Tagebuch schreibe. Ich brauche Wasser und frage bei einem Kellner nach, der gerade Gäste im Freisitz bedient. Das kalte Wasser ist an diesem heißen Tag eine Wonne. Schließlich geht es auf Radwegen abseits des Meeres weiter; zwei holländische Radler halten neben mir an. Kurzer Plausch, die beiden umrunden einmal Frankreich … mir wird ein Stück Baguette spendiert, dass ich – als ich wieder allein bin – sofort beim Laufen verputze, ich habe Mordshunger. Im Wald und überhaupt bleibe ich der einzige Wanderer, klar, die Entfernungen zwischen den Orten sind auch gewaltig. Auch nach Soulac-sur-Mer sind es weitere 17 Kilometer.

       In diesem kleinen Ort muss ich leider Abschied vom Jakobsweg nehmen, dieser Jakobsweg war wahrscheinlich mein Letzter. Ich gönne mir eine Tagebuchpause hinter der Wallfahrtskirche Notre-Dame-de-la-Fin-des-Terres (was für ein Name!). Es ist schon später Nachmittag und ich brauche nun doch wenigstens ein paar Kekse … ab in den Supermarkt, wo Lana del Rey zum ersten Mal seit Rota wieder Video Games „für mich“ singt. Draußen gibt ein Mann seinem Baby einen Schmatzer, mir kommen die Tränen. Von Soulac Richtung Norden ist der Radweg auch deutlich befahrener, es ist Freitagnachmittag, viele Familien sind unterwegs. Je weiter der Tag voranschreitet, desto ruhiger wird es wieder. Einer der letzten Radfahrer des Tages kommt mir entgegen, hält neben mir und fragt mich, ob ich einen guten Schlafplatz während der letzten Kilometer gesehen habe. Schwierig. Philipp (25) aus Erfurt campt eigentlich nicht wild, aber auch nicht auf Campingplätzen. Stattdessen sucht er sich meistens einheimische Familien, die ihm für eine Nacht Obdach gewähren, entweder im Haus oder in ihrem Garten, wo er sein Zelt aufbauen darf. Das klappe bisher in Frankreich prima, was mich sehr überrascht. Die Franzosen seien sehr gastfreundlich, berichtet Philipp, meist wird er sogar zu den Mahlzeiten eingeladen. In Frankreich ist es wichtig, dass man auf die Leute zugeht und es dabei immer in ihrer Sprache versucht. Offensichtlich hat Philipp vom Schulfranzösisch noch nicht soviel vergessen wie ich. Da ist er ganz klar im Vorteil, bisher kann ich jedoch auch nicht klagen, schließlich lebe ich noch. Philipp empfiehlt mir, es demnächst auch mal zu versuchen, nur Mut, man hat ja dabei nichts zu verlieren. Vor allem bei Bauern sind die Erfolgschancen groß. Von seiner Offenheit Menschen gegenüber kann ich noch viel lernen, nicht umsonst war er es, der neben mir stehen blieb und dadurch erst diese interessante Begegnung ermöglichte. Mitten auf dem Radweg plaudern wir über dies und das, erfahren dabei, dass der andere genauso am Tag zuvor die Viertausend-Kilometer-Marke geknackt hat, Philipp auf dem Rad, ich zu Fuß. Einhundert Kilometer am Tag radeln, dass ich nicht ohne, möglicherweise würde ich das nicht so gut meistern, wie vierzig Kilometer am Tag zu laufen. Seine Rundreise startete er in der thüringischen Heimat, fuhr weiter über Nordrhein-Westfalen nach Belgien, anschließend bis nach Brest (Bretagne) und immer in der Nähe zur Küste hier runter. In Bordeaux war er schon, ihm hat es dort sehr gefallen … schade drum. Als nächstes soll mit der Freundin, die bald zu ihm stößt, nach Spanien und Portugal geradelt werden. Gutes Stichwort, ich werde endlich mein Kartenmaterial los, jetzt habe ich ein reines Gewissen und ein Kilogramm weniger Gepäck. Selbst solch ein Fakt, dass das Gepäck nun dauerhaft etwas leichter ist, bringt neue Zuversicht. Es war verdammt schlau, die Reise mit 25 Kilogramm Gepäck zu beginnen, denn dadurch werde ich nicht vergessen, was ich imstande bin zu leisten, es gibt also keinen Grund, bei 20 Kilogramm zu jammern. Spontan hat Philipp die Idee, dass wir die kommende Nacht gemeinsam im Zelt verbringen könnten, er hat ein paar hundert Meter zuvor einen Picknickplatz gesehen, hinter dem man im Wald das Zelt aufbauen könnte. Wir laufen gemeinsam dorthin, setzen uns als erstes an einen Tisch, wo mich Philipp zum Abendessen einlädt, denn mein Proviant ist mal wieder aufgebraucht. Wir sind allein, von den unzähligen Mücken mal abgesehen. Wir vertilgen einen ganzen Laib Brot; Philipp schmiert sich Avocado auf die Brotscheiben, streut Salz drauf … ich probiere, interessanter Geschmack … Wir essen vegetarisch, zum Brot gibt es außerdem Banane, Gurke und Honig. Als Dessert gibt es ein Kuchengebäck, von dem wir auch kein Stück übriglassen. Was für eine Mahlzeit! Dazu die tolle Stimmung, das angenehme Gespräch. Philipp hat sein Lehramtsstudium weitestgehend hinter sich gebracht und ist nun zu dieser beeindruckenden Fahrradtour aufgebrochen. Er erzählt von einer Frau, die einen Fahrradschaden hatte, er ihr schließlich half und sie ihn unbedingt dafür bezahlen wollte. Er lehnte immer wieder ab, aber sie steckte das Geld ihm heimlich zu. Als er es bemerkte, wäre er ihr am liebsten hinterher gerast, um es ihr zurückzugeben. Widerwillig nahm er den Zehner mit und will nun das Geld so schnell wie möglich loswerden … und da hat er auch schon den Einfall, dass es ja eine gute Sache wäre, wenn er mich mit den zehn Euro sponsert. Im Gegensatz zu Philipp ist es mir nicht möglich, das Angebot abzulehnen … im Gegenteil, ich freue mich riesig über dieses Blutgeld … wieder etwas Aufschub. Jedoch stimme ich mit ihm überein, dass es irgendwie übel ist, in einer Gesellschaft zu leben, wo Dankbarkeit anscheinend ganz automatisch mit Geld ausgedrückt wird. Als gäbe es nichts anderes …

      30 Meter in den Wald hinein finden wir einen recht ebenen Platz für das Zelt. Philipp baut das

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