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musste dafür nur einen Testbericht schreiben. Warum komme ich nicht auf solche Ideen? Wahrscheinlich weil mich selbst diese kleine Verantwortung überfordern würde! Wir packen unsere Rucksäcke ins Zelt und laufen die 500 Meter zum langen Strand. Wir sind allein, schmeißen uns die Sachen vom Leib und gehen ins Wasser – also ich schleiche, Philipp stürmt hinein und wirft sich todesmutig in die erste größere Welle. So hart bin ich nicht, mir ist das Wasser eindeutig zu kalt, selbst die Fußknöchel schmerzen vor Kälte. Nur langsam laufe ich hinein, nicht mehr als eine Katzenwäsche, denn zu allem Überfluss habe ich auch noch vergessen, die Brille abzunehmen. Geschwommen und getaucht wird also nicht, aber immerhin war ich nun endlich seit meiner Gambia-Reise mal wieder im Atlantik. Dort war das Wasser aber auch viel wärmer, selbst im Januar. Danach hocke ich mich im Schneidersitz auf den Sand, schreibe im Tagebuch, während Philipp Fotos vom Sonnenuntergang über dem Meer knipst … es müssen über hundert Bilder sein, die er liegend und stehend zu einem einzigen Fotomotiv macht, auch von mir, wie ich schreibe und die Sonne gerade vor mir am Horizont untergeht. Draußen in der Gironde-Mündung kann man in einigen Kilometern Entfernung den 400 Jahre alten Leuchtturm von Cordouan sehen, der da ganz allein auf einer kleinen Insel steht … hat was. Die Spitze der Halbinsel Médoc, zwischen Atlantik und dem Mündungsarm der Gironde gelegen, ist nicht mehr fern. Dort (Pointe de Grave) wird mich die Fähre auf die andere Seite der Gironde übersetzen. Die Stimmung ist toll, Philipp setzt sich zu mir, wir genießen leise den Moment. Wenn man mit einem anderen Menschen einen Sonnenuntergang gemeinsam erlebt, nur diesen einen einzigen, so bleibt dieser Moment unvergesslich.

      Mit Philipps Stirnlampe ist es mir im Zelt möglich, noch meinem Tagebuch von diesem Treffen zu berichten. Eine französische Familie rastet 40 Meter weiter, jedoch durch die Bäume kaum zu sehen, und die Erwachsenen fluchen lautstark über die ungeheuerlich vielen Mücken … was sind wir froh, hier drinnen geschützt zu sein. Und müssen etwas lachen, wie schrecklich laut die beiden schimpfen, das hat etwas von einem Comedy-Sketch. Schließlich geben sie es auf und fahren ab … nun haben wir unsere Ruhe, keine Autos zu hören, ich knipse das Licht aus. Philipp fragt mich, ob meine Reise religiöse Gründe hat. Für ihn ist der katholische Glauben ein Teil seiner Identität. Bei mir ist das anders, keine Religion, aber ohne „Glauben“ würde es nicht gehen. Ich berichte von meinen Beobachtungen, die ich an mir selber während dieser Reise bereits gemacht habe. Dass ich Trost darin finde, in Kirchen zu gehen, wo ich in meinem „normalen“ Leben nie etwas mit Kirchen anfangen konnte, allein der Drang in eine Kirche hineinzugehen ist völlig neu für mich. Philipp hört mir gespannt zu … es vergehen ein bis zwei Stunden, ehe die Vernunft siegt und wir beschließen, endlich unseren wichtigen Schlaf zu holen, schließlich steht ein weiterer anstrengender Tag bevor, für Philipp, für mich … das ist meine erste Zeltnacht auf dieser Reise. Und es wird mit Sicherheit auch die bisher heißeste Nacht werden! Also was die Temperaturen betrifft …

      Halb sieben stehen wir auf. Die vielen Mücken nerven beim Zusammenpacken. Philipp gibt mir sein letztes Geld (30 Euro), er kann sich im Laufe des Tages an einem Bankautomaten Geld holen, sagt er. Ich notiere seine Kontodaten und versichere, dass Geld so schnell wie möglich zu überweisen. Philipp ist deswegen nicht nervös, zweifelt nicht an meiner Ehrlichkeit. Ich bin richtig erleichtert, für die nächsten Wochen bin ich also abgesichert, die Vorfreude auf die kommenden Etappen ist wieder deutlich gestiegen. Bevor wir in entgegengesetzte Richtungen aufbrechen, gönnen wir uns noch ein Frühstück unterhalb der Düne, wo sich die Mückenbiester nicht blicken lassen. Philipp schmeißt den Gaskocher an, ich spendiere das Wasser zum Kaffee, den wir gemeinsam aus seinem Pfadfinder-Becher trinken. Aus einer Schüssel löffeln wir warmen Haferbrei, den wir mit zwei Bananen und einem Apfel noch aufgepeppt haben. Eines dieser seltenen Frühstücke dieser Reise, das diesen Namen auch verdient hat. Philipp ist auf dem Land groß geworden, wurde katholisch erzogen, besaß nie einen TV, ist in keinen sozialen Netzwerken im Internet zu finden. Das ist weise. Er schreibt lieber Postkarten an die Familie und an Freunde. Eine tägliche SMS an die Freundin darf auch nicht fehlen, damit sie sich keine Sorgen macht. Gegen halb neun stehen wir schließlich an einer Pistengabelung, der Zeitpunkt des Abschieds ist gekommen. Ich werde melancholisch, gestehe Philipp, dass ich gern manchmal jemand hätte, der auf mich wartet oder der zusammen mit mir die Welt erobern möchte. Er hat da seine Freundin, ist vielleicht dadurch sogar motivierter als ich. Aber da ist nun mal nichts zu ändern: Ich habe niemand, niemand steht hinter mir, ich bin allein … es ist okay. Wir umarmen uns, wünschen dem anderen eine gute Reise und schon bin ich wieder allein unterwegs. So ist das Leben, Alleinsein gehört dazu.

       Zum Fähranleger sind es noch zwei Kilometer. Eine lange Fahrzeugschlange hat sich gebildet. Ich habe es einfacher, laufe einfach durch, kaufe mir mein Ticket und springe an Bord. Suche mir einen Sitzplatz im Freien, es wird viel Deutsch gesprochen. Gutes Timing, die Fähre fährt wenig später ab. Es geht bei schlechter Sicht über den fünfzehn Kilometer breiten Mündungstrichter der Gironde ins vierte Département, Charente-Maritime, mit seiner Hauptstadt La Rochelle. Der erste Ort ist jedoch Royan (18.000 Einwohner), das 1945 bei britischen Luftangriffen zerstört und modern neu aufgebaut wurde. Keine schöne Stadt, viel Beton, selbst die große Kirche Notre-Dame wurde aus Beton gebaut. Ich laufe am großen Jachthafen vorbei und bin insgesamt knapp zwei Stunden in der Stadt unterwegs. Es ist Samstag, an den Marktbuden reihen sich die Menschen, mir etwas zu stressig. Bummeln kann ich nur außerhalb von Ortschaften. Auffallend ist aber, dass sehr viele Franzosen Beutel mit langen, unverpackten Baguettes durch die Gegend tragen … meist sind nur eins, zwei Baguettes im Beutel, nichts anderes. Es ist also ein absolut zutreffendes Klischee. Mir sind die Dinger aber zu teuer, ich muss mich von einer Packung Chips ernähren. Ich komme an einem Kiosk vorbei, erfahre dabei erst jetzt, nach knapp zwei Wochen in Frankreich, dass Sarkozy als Staatspräsident durch Hollande abgelöst wurde, das geschah in den Tagen, als ich vom spanischen ins französische Baskenland gelaufen bin. Unterwegs interessiert dich so etwas aber auch nicht, was spielt das schon für eine Rolle, wer französischer Präsident ist? Klar, ohne Sarkozy wird es nun noch etwas öder in der europäischen Politik. Das ist dann aber auch schon alles.

      Zur Mittagszeit verlasse ich Royan, laufe dabei auf den Fußwegen entlang der flachen Felsenküste. Viele Strände hier, der starke Wind bläst mir meinen Hut vom Kopf. Die nächsten Orte reihen sich übergangslos aneinander. In Frankreich muss ich in der Regel Umwege in Kauf nehmen, wenn ich eine der großen Supermarktketten suche, um günstig einzukaufen … das geht in Frankreich nur bei Super U und Co. In Saint-Palais-sur-Mer habe ich Glück, ein Super U ist ausgeschildert, das ist meine erste günstige Einkaufsmöglichkeit seit Tagen. Problem in Frankreich: es gibt selten Entfernungsangaben, da kann der Supermarkt 500 Meter oder auch 5 Kilometer entfernt sein. So laufe ich also immer den Schildern nach, einmal links, dann wieder rechts, immer weiter, ich komme immer mehr aus dem Ort raus … „première à gauche“ steht schließlich geschrieben … okay, also die nächste Querstraße nach links, Sackgasse, nervig … irgendwann habe ich es dann doch geschafft, schnappe mir einen Korb (Anfängerfehler!) und zahle den in mir schlummernden Heißhunger Tribut. Der Korb ist voll, das mir übergebene „Blutgeld“ von Philipp ist schon wieder weg. Solche Heißhunger-Attacken sind jedoch auch entschuldbar, Philipp konnte meinen Hang zu Naschkram (vor allem in Form von Pausenbelohnungen) gut nachvollziehen. Auch er hat schon mal eine Packung mit acht Hörncheneis gekauft und alle hintereinander verdrückt. Dachte schon, dass außer mir sonst niemand auf so eine Idee kommt. Mit vier Kilogramm zusätzlichem Gewicht geht es weiter, da ich nicht alles im Rucksack verstaut bekomme, muss ich eine Plastiktüte mit diversen Keksverpackungen an den Rucksack hängen, das sieht vielleicht mal bescheuert aus! Ich muss mal wieder über mich selbst den Kopf schütteln. Ich lebe nach derselben Devise wie die meisten Menschen: „Was man hat, das hat man.“ Selbst ein Vagabund denkt in dieser Hinsicht nicht anders. Auf einem Picknickplatz lange ich kräftig zu: 500 Gramm Selleriesalat zum langen Baguette (in den großen Supermärkten finanzierbar), außerdem Wurst und Käse und 1,5 Liter billige Cola. Völlig vollgefressen schleiche ich weiter, immerhin ist das Wetter perfekt (Sonne-Wolken-Mix, 17 Grad Celsius). Man merkt jedoch sofort, ob man ein paar Kilo mehr im Rucksack hat. Nach zwei Kilometern zurück zum Meer brauche ich die nächste Pause. Ich studiere mein Kartenmaterial, damit in der Zwischenzeit mein Magen wieder mit sich und seinem schweren Leben klarkommt. Die große Übelkeit ist schließlich weg und ich kann auf einem küstennahen Radweg durch den Pinienwald in den Erholungsort La Palmyre laufen. Am Straßenrand

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