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nicht zu sehen, zu allem Überfluss spaltet sich der Fluss auch noch in zwei mäanderförmige Flüsse auf und schließlich versperrt mir ein Zaun den Weg, Privatgelände. Frustriert setze ich mich ans Flussufer, vertilge eine Packung Kekse, versuche mich durch Rauchen zu beruhigen und muss schließlich konsterniert einsehen, dass ich den Weg ganz genauso wieder zurückgehen muss, wie ich gekommen bin. Damit ich es mir nicht anders überlege, lässt der weitestgehend blaue Himmel noch einmal für einen kurzen Moment seine Schleusen öffnen … „ist ja gut“, schimpfe ich und begebe mich auf den Rückweg; bedeutet erst einmal fünf Kilometer zurück, um dann den regulären Weg durchs Landesinnere (fünfzehn Kilometer) zu laufen: Um also auf die andere Uferseite zu gelangen, stehen zwanzig Kilometer Wegstrecke an, wo mir hier gerade nur fünf bekloppte Meter fehlen, um den Fluss zu überqueren. Ich komme mir vor wie in der tiefsten Wildnis. Und genauso akzeptiere ich schließlich auch die Bestimmungen der Natur. Trotzdem bin ich froh, als ich zurück in der Zivilisation bin, genauer: im Ort Talmont-Saint-Hilaire. Eine reizende kleine Stadt, mit einer Burg und ansehnlichen Kirche. Ich frage mich, warum ich nicht gleich diesen Weg eingeschlagen habe. Ein Plakat erinnert mich daran, was ich in diesem Jahr nicht haben werde: die Spiele eines großen Fußballturniers (in dem Fall die EM) auf meiner Couch zu schauen, mit Bier, viel Bier, Chips, vielen Chips, und der Ruhe, die ein Mann beim Fußballschauen braucht. Nein, das wird es in diesem Jahr nicht geben. Für einen Moment bekomme ich Heimweh, denke mir schließlich aber, dass jeder Fußball schauen kann; durch Europa zu laufen gelingt nicht so vielen Leuten, und denen es gelingt, gelingt es nicht allzu oft.

       In Bourgenay, mit Jachthafen, kann ich endlich wieder am Meer weiter, in zwei Kilometer Entfernung sehe ich den Fluss, der mir pro Meter vier Kilometer, pro Sekunde eine Stunde abgeknöpft hat. Sein Name: Le Payré. Verurteilt ihn! Diesen Schuft! Wütend wegen der verlorenen Zeit ziehe ich voll durch, neben dem Radweg verläuft nun eine Département-Straße. Nach zwei Stunden komme ich in Les Sables-d’Olonne an … im Vergleich zu den anderen Orten seit La Rochelle eine gefühlte Großstadt, eine Großstadt mit 14.000 Einwohnern. Auf einer Bank neben dem kilometerlangen Stadtstrand gönne ich mir endlich mal wieder ein Bierchen. Es gibt nichts Besseres nach einem anstrengenden Tag! Danach geht es zum Hafen (Sport und Industrie), was einige Zeit dauert, um diesen zu umlaufen. Die Abenddämmerung setzt ein und ich laufe und laufe, nehme mir keine Zeit für die Stadt, noch immer auf Schadensbegrenzung aus. Außerdem will ich außerhalb des Ortes übernachten, ja nicht wieder eine halbe Nacht lang den Geruch von Pisse inhalieren! 22 Uhr bin ich bereits am Ortsrand, die Laternen bringen genügend Licht, laufe weitere vier Kilometer zum Strand La Paracou … es tut gut, endlich mal wieder nach Anbruch der Nacht zu laufen. Ich bin voller Adrenalin, meine Beine sind in einer herausragenden Form. Die Belohnung ist eine neue Bestmarke (53 Kilometer) und ein toller Schlafplatz. Windgeschützt liege ich in einer Senke auf der Düne, umgeben von Gebüsch und mit Stroh unter der Matte. Perfekter Blick auf den Atlantik und sogar das Licht des Leuchtturms auf der 30 Kilometer entfernten Île d’Yeu ist zu sehen, dazu Halbmond und viele Sterne am Himmel. Sollte es doch regnen, könnte ich in den kleinen, offenen Sanitärtrakt nur zehn Meter hinter mir. Dank des Grünzeugs um mich herum kann man mich nicht einmal sehen, aber hier scheint jetzt sowieso niemand mehr vorbeizukommen. Ich habe mir mal die Mühe gemacht, meine Kalorienzunahme zu überprüfen … am Tagesende: 6.000 kcal. Da verwundert es nicht, dass mein Bauch einfach nicht flacher wird, im Gegenteil. Gut schlafen kann man aber auch mit einem runden Bäuchlein.

      Der Schlafplatz ist so bequem, dass ich erst halb acht aus den „Federn“ komme. Ich gehe aufs Klo und komme mir richtig vornehm vor, ich wasch mir sogar die Hände. Die 18. Wanderwoche kann beginnen, mit meiner bisherigen Laufleistung kann ich zufrieden sein. Ich hätte es selbst nicht für möglich gehalten, dass ich mal an 120 Tagen hintereinander im Schnitt 36 Kilometer laufen werde – was man nicht alles imstande ist zu leisten! Faszinierend. Es geht in den küstennahen Wald, der Radweg führt mitten durch, ehe ich zur Mittagszeit Bretignolles-sur-Mer erreiche, und nach einem kurzen Snack bin ich auch schon auf dem Weg nach Saint-Gilles-Croix-de-Vie. Die letzten Kilometer geht es dabei neben dem Fluss Jaunay entlang; dieser verläuft für fünf Kilometer parallel zur nahen Küstenlinie, bis er im Stadtzentrum in die Vie fließt, ehe das Wasser beider Flüsse wenig später den Atlantik erreicht. Das Stadtpanorama macht nicht zuletzt deswegen ordentlich etwas her. Für eine Stunde spaziere ich durch die Straßen, bin als Einziger in der Kirche Saint-Gilles, trage mich als „Lars Nimmersatt“ ins Gästebuch ein, ehe ich es mir auf dem Sockel des Leuchtturms bequem mache und ein wenig verschnaufe. Ich esse Kekse, obwohl ich keinen Hunger habe; ich tue es damit mir nicht langweilig wird. Das ist furchtbar – wann habe ich aufgehört mir selbst zu genügen? Reicht es nicht, an einem schönen Ort zu sein? Muss man denn immer etwas machen? Essen, trinken, rauchen … werde ich mir selbst gegenüber unausstehlich, wenn ich nichts davon bei mir habe? Ertrage ich mich selbst nicht? Von was versuche ich mich abzulenken? Wieso kann ich nicht mehr den Moment genießen? Nun, ich will nicht zu hart mit mir ins Gericht gehen, aber hin und wieder gibt es Auffälligkeiten, die ich an mir entdecke und die mir einfach nicht gefallen.

      Auf Sand geht es weiter, bis ich die letzten Häuser passiert habe und nur zweihundert Meter weiter an einem Bunker Halt mache. Kein Eingang, dafür aber ein guter Windschutz. Eine noch frische Rose liegt auf dem Boden, ich hebe sie auf und stecke sie in den Sand neben meinem Nachtquartier und muss daran denken, dass ich ihr kein einziges Mal Blumen geschenkt habe. Eine Frau, die nie Blumen geschenkt bekommt, sucht sich irgendwann ihren Rosenkavalier. Ich habe Verständnis. Es ist meine letzte Nacht am Atlantik. Ich vermisse das Meer jetzt schon. Wahrscheinlich werde ich es mehr vermissen als sie, vielleicht ist ja das Meer die Liebe meines Lebens. Solang wie man sich nicht mitten drauf, sondern nur an ihrer Seite aufhält, kommt man gut mit ihr, der See, aus. Vielleicht hätte ich es in meinen vorangegangenen Beziehungen genauso halten sollen. Denn alles Aufsteigen läuft nicht ohne ein Bezwingenwollen ab. Das verbirgt immer seine Gefahren: auf dem Meer, bei Frauen, auf dem Weg zum Berggipfel. Mitunter kann es tödlich enden, zuerst muss dabei immer der Verstand dran glauben, nun ja … Ich mache es mir bequem, schau an der roten Rose vorbei zum Atlantik und versuche die vorerst letzte Nacht am Meer zu genießen, es sind auch die letzten Stunden im Mai. Ich schlafe schnell ein, verpasse den Sonnenuntergang, werde viertel elf noch einmal wach und blicke in ein weitgefächertes Abendrot.

      In Saint-Jean-de-Monts laufe ich ein paar Kilometer auf der langen Strandpromenade, ehe es heißt: Abschied nehmen, Abschied vom Atlantik, von der Côte de Lumière, vom Meer. Dafür habe ich mir meine letzte Zigarette aufgehoben, die ich nun rauche und für ein paar Minuten innehalte, mit starrem Blick auf die schönste Farbillusion der Welt, das „Blau“ des Meeres. Die Augen bleiben trocken, so dass ich, ohne kurz abwarten zu müssen, ins Kongressgebäude auf der anderen Straßenseite gehen kann, hinein ins Fremdenbüro, wo mich gleich vier Frauen ungläubig anschauen, als ich sie nach einem Spazierweg nach Nantes frage. Sie sind mit meiner Frage überfordert, geben aber ihr Bestes, überlegen hin und her und finden doch keine Lösung. Es sei nicht ungefährlich, weil es nur eine Straße Richtung Osten, ins Landesinnere gibt, die dementsprechend auch befahren wird. Sie empfehlen mir den Bus, kostet 15 Euro. Ich muss lachen, bekomme noch eine Straßenkarte und bedanke mich. „Be care“, sagt die eine, die noch am ehesten Englisch spricht, mit einem besorgten, mütterlichen Blick (steht jeder Frau gut!). Ich versuche es mit meinem sanftesten Lächeln, versuche Eindruck zu schinden und verschwinde. Auf den nächsten Kilometern bilde ich mir ein, dass die vier Frauen über mich reden, mich ganz großartig finden, nun ja, nach einer Stunde hört es auf in meinem Kopf zu spuken. Stattdessen ärgere ich mich mal wieder über mich selbst, denn ich habe die Chance verpasst, nach zehn Tagen endlich mal wieder ein Bad zu nehmen. Ich Weichei bekam einfach kein Bein in das kalte Wasser des Atlantiks, von der einen Katzenwäsche gemeinsam mit Philipp mal abgesehen.

      Am Anfang habe ich noch Glück, ein Teil des geplanten Fahrradweges nach Challans ist bereits gebaut, so bleiben mir die Autos vorerst noch erspart. Ich denke an nichts, bin frustriert über die 60 bis 70 Kilometer zwischen Meer und Nantes, 60 bis 70 Kilometer auf Asphalt, in einer flachen, wenig erbaulichen Umgebung. Kurz vor Challans endet der Radweg, ich umlaufe die Stadt auf einer zweispurigen Schnellstraße mitten durchs Gewerbegebiet, bei 29 Grad im Schatten, also 40 Grad auf Asphalt. Manchmal ist mir zum Heulen, weil ich hier so einen Stuss veranstalte, auf irgendwelchen Straßen die Zeit verrinnen lasse, anstatt, mit einer kalten Limo in der Hand (muss ja nicht immer Bier

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