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die man sonst praktisch nie zu Gesicht bekommt. Ich überlege kurz, ob ich sie noch etwas näher betrachten soll, finde aber nicht den Mut dazu … vor Schlangen habe ich Respekt, wie man so schön sagt, in Wahrheit habe ich natürlich einfach nur Schiss. Sie sind mir schlichtweg suspekt. Außerdem bilde ich mir ein, dass jede Schlange, der ich begegne, giftig ist. Wahrscheinlich würde ich auch eine Blindschleiche für eine giftige Schlange halten, dabei würde ich sogar gleich doppelt irren. Diese Schlange hier ist aber vielleicht wirklich giftig, denn nebenan befindet sich der Zoo, der angeblich meistbesuchte Zoo Frankreichs … La Palmyre schlägt Paris, das Leben bietet immer wieder große Überraschungen! Mich machen Zoos jedoch traurig. Genauso wie Hochzeitskolonnen.

      So langsam aber sicher lassen die Sohlen meiner Sobrados nach. Ich mache mir Sorgen, obwohl noch zwei weitere Paar Schuhe an meinem Rucksack baumeln. Außerhalb der Ortschaften bleibt es ruhig, kein Straßenlärm, zum Samstag einige Leute auf ihren Fahrrädern unterwegs. Aus „bonjour“ wird nach einigen Stunden „bonsoir“ und schließlich stehe ich am großen, roten Leuchtturm Le Phare de la Coubre, etwas abseits des Fahrradweges. Ein paar wenige Familien sind noch auf der Düne oder am Strand unterwegs. Nur 25 Meter vom Leuchtturm entfernt steht ein zwei mal zwei Meter kleines Häuschen. Keine Fensterscheiben, keine Türen, aber intakte Wände und noch wichtiger: ein intaktes Dach. Es steht völlig verloren auf der Düne, niemand läuft in nächster Nähe daran vorbei. Ich kann gar nicht anders als hier zu bleiben, um die Nacht direkt neben dem Leuchtturm zu verbringen. Ich wollte zwar noch zehn Kilometer laufen, aber ich versuche nach wie vor die Geschenke des Weges anzunehmen und mich an ihnen zu orientieren. Ich ziehe also in das Häuschen ein, werfe den Müll nach draußen, streiche den trockenen Sandboden eben … ist noch nicht kuschelig und weich genug … ich schnappe mir ein in der Nähe liegendes Brett, schaufle noch einen Zentner Sand von draußen durchs Fenster hinein ins Innere. Wieder glattgestrichen, Matte so ausgerollt, dass ich im Liegen durch den schmalen Fensterspalt genau auf das Leuchtfeuer blicke. Perfekt. Auch die Tatsache, dass einmal mehr an einem Schlafplatz kein Zivilisationslärm zu hören ist. Man hört das 100 Meter entfernte Meer, die Vögel und den Wind. Ich bin dankbar für einen weiteren schönen Schlafplatz. Da die Sonne soeben am untergehen ist, verlasse ich meine Hütte für einen Moment und steige die Düne zum höchsten Punkt hinauf. Höre Musik, blicke zum Meer hinaus, die Sonne hinter einer dünnen Wolkenschicht am Horizont, esse zu Abend, trinke ein Bier, rauche eine Che, knipse Fotos, der 26. Mai findet einen triumphalen Ausklang.

      Die Nacht ist fantastisch ruhig und angenehm warm. Immer wieder wache ich auf und sehe dabei das sich im Kreis drehende Leuchtfeuer – es ist einer meiner liebsten Schlafplätze. Halb sieben stehe ich auf, blauer Himmel; keine Menschen, keine Mücken … es gab da eine Zeit, da war für mich beides ein und dasselbe. Die ersten zwei Stunden geht es auf Radweg im Wald Forêt de la Coubre gut voran. Ich blicke rüber zur größten französischen Atlantikinsel Île d’Oléron. Ein Fuchs kreuzt meinen Weg. Die Stimmung ist gut. Erst im Badeort Ronce-les-Bains wird es wieder zivilisiert, mit entsprechenden negativen Begleiterscheinungen, allen voran Lärm. In der Mittagssonne und ohne den Schatten der Bäume ist es zu heiß, um stundenlang durchzulaufen. Eine Pause führt mich in die Touristen-Information, um mich nach dem Weg nach Rochefort und La Rochelle zu erkundigen. Ich erfahre, dass es vorerst nur auf Landstraßen weitergeht, die Stimmung bekommt einen Knacks. Hinter dem Ort nehme ich die einzige Brücke über den breiten Fluss Seudre und laufe auf der Straße zum Schloss Château de la Gataudière. Ich setze mich auf eine Mauer vor dem Eingang, esse Kekse, wobei ich viel mehr Bock auf ein kühles Bier hätte. Manchmal kommt ein PKW oder ein Wohnwagen vorbei, stoppt auf der Straße vor dem Eingang, Fenster wird heruntergelassen, ein Foto geknipst und die Fahrt fortgesetzt. Da ich mitten im Bild sitze und mir meine Kekse reinschlinge, steigt auch der ein oder andere aus, geht an mir vorbei, knipst ein Foto, steigt wieder ein und schon sind sie wieder weg. Es gilt keine Zeit zu verlieren, schon gar nicht im Urlaub. Nach einer Stunde geht es auch für mich weiter. Ich frage einen jungen Kerl, der gerade mit seinem Auto ins Schloss fahren will, ob ich auf dieser Straße richtig bin. Er hat keine Ahnung, ist noch nie die Straße in die Richtung gefahren, in die ich vorhabe zu laufen. Ich soll kurz warten, er geht zu einem Seiteneingang hinein, kommt nach etwa zehn Minuten wieder. Er hat gefragt und die da drinnen meinen, dass ich schon ganz richtig bin. Eine Einladung des Schlossherrn zu einem Festschmaus bekomme ich nicht. Solang ich meine Kekse habe, ist das auch nicht weiter tragisch, wenngleich ich gegen ein großes Stück Fleisch nichts einzuwenden hätte.

      Nach einer weiteren Stunde auf der Landstraße im flachen, öden Binnenland mache ich auf einem Autorastplatz halt. Noch 20 Kilometer abseits der Küste bis nach Rochefort zu laufen ist ein frustrierender Gedanke. Ich setze mich an einen Tisch und picknicke. Außer mir ist noch ein älteres Pärchen aus den Niederlanden mit ihrem Wohnwagen da. Wir kommen ins Gespräch, übers Reisen kann man aber auch immer und überall reden. Die Beiden bieten mir an, mich bis nach Rochefort mitzunehmen. Ich nehme dankend an. Während der Fahrt stellt sich auch heraus, dass das eine gute Entscheidung war. Viel Verkehr auf wieder einmal engsten Straßen. Als wir an der Zitadelle von Brouage vorbeifahren, ärgere ich mich kurz nicht gelaufen zu sein. Hier hätte es vielleicht einen einzigartigen Schlafplatz gegeben. Andererseits ist die Vorfreude groß, mal wieder eine Nacht in einer Stadt zu verbringen. Neben der alten Schwebefähre geht es auf einem Viadukt über den Fluss Charente. Schon sind wir am Ortsrand von Rochefort. Meine niederländischen Chauffeure halten Ausschau nach einem Campingplatz, finden nichts und lassen mich schließlich bei einem Gewerbegebiet aussteigen. Ich danke und großmütig sage ich, dass man sich dann in einigen Wochen vielleicht in Alkmaar, ihrer Heimatstadt, wiedersieht. Sie lachen und düsen ab. Ich schnappe meinen Rucksack und muss mich erst einmal orientieren. Ich könnte auf der Straße weiter nach La Rochelle laufen, aber 40 Kilometer auf der einzigen und damit vielbefahrenen Straße sind wenig verlockend. Ich beschließe erst einmal ins Zentrum von Rochefort hineinzulaufen. Es ist windig und trotz der heißen Temperaturen fröstelt es mich. Ich fühle mich ziemlich schlapp. An einem Bahnhof ankommend, noch ehe ich wirklich das Stadtzentrum erreicht habe, schaue ich etwas mechanisch nach den Fahrpreisen für ein Ticket nach La Rochelle. Vier Euro empfinde ich als das Schnäppchen schlechthin. Ich erwache aus meiner Trägheit, habe mir sofort in den Kopf gesetzt, den anstrengenden Asphaltmarsch nach La Rochelle sausen zu lassen, um dafür schon heute Abend in La Rochelle zu sein. Vor einigen Jahren wäre ich dort schon mal fast gelandet, als ich mir einen Rundflug mit einer Billigflieger-Airline durch Europa zusammengebastelt hatte. Aber anstatt zwei Monate mehrere europäische Länder zu besuchen, fand ich alles Glück der Welt auf einer einzigen Insel: Irland. Dort hätte ich bleiben sollen. Warum ich damals geglaubt habe, dass ich unter dem Rock einer Frau noch mehr Glück finden könnte, erschließt sich mir heute nicht mehr. Ticket am Automaten gekauft, zehn Minuten später sitze ich auf meinem Platz, meine erste Zugfahrt in Frankreich.

      Nach einer halben Stunde erreichen wir den Bahnhof von La Rochelle. Raus, ein Foto vom hübschen Bahnhofsgebäude gemacht, weiter Richtung Stadtzentrum marschiert. Der Alte Hafen (Vieux Port) und die umliegende Altstadt haben es mir angetan. Vor allem das Hafenportal mit dem Tour St.-Nicolas auf der einen und dem Tour de la Chaîne (Kettenturm) auf der anderen Seite. Die Hafeneinfahrt zwischen beiden Türmen ist keine 50 Meter breit. Auf keiner Postkarte von La Rochelle fehlt ein Bild dieses Hafenportals, dessen Anblick sich unwiderruflich ins Gedächtnis einbrennt. Nur selten gibt es Städte, die einem durchgängig positiv begegnen. La Rochelle und ich haben beide einen guten Tag erwischt. Ganz sicher hätte es auch ganz anders kommen können. Die Stadt ist voll, was mich heute aber nicht weiter stört. Auch die vielen Touriboote sind zum Sonntag gut gefüllt und pausenlos unterwegs. Marktstände sind aufgebaut, die Nachfrage scheint groß, auch die Café-Freisitze sind ausnahmslos gut gefüllt. Kinder fahren auf einem Karussell. Viele Kirchtürme sind zu sehen, die Läden in der Altstadt, mit den vielen Arkadengängen, haben geschlossen. Ich laufe durch den langgezogenen Parc Charruyer, der einen großen Teil der Altstadt umschließt und der Stadt zusätzlich Charme verleiht. Wenn man den Park von Nord nach Süd durchläuft, kommt man direkt zum kleinen Strand von La Rochelle. Es ist bereits halb acht, einige baden sogar, viele Familien und Jugendgruppen sitzen hier oder gehen spazieren. Ich setze mich auf eine Bank, rauche ein Che, überlege wo ich pennen könnte, meine Suche hat bisher nichts ergeben. Ich laufe am Tour de la Lanterne (Laternenturm) und der Wehrmauer vorbei zum nahegelegenen, bereits liebgewonnenen Hafenportal. Setze mich

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