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zu sein, ehe ich zum Rathaus lief. Na eins steht zumindest fest: geschadet haben wird es nicht. Eine Frau spricht mich in der Kirche an, fragt mich ob ich auf dem Jakobsweg unterwegs bin und ob ich heute hier übernachte … zweimal ja … sie lächelt … ich ebenso … und der da oben vielleicht auch. Ich steuere schließlich in die Richtung, wo sich die Pilgerherberge befinden soll. Bereits seit dem 11. Jahrhundert ziehen die Pilger durch diese kleine Gemeinde, auf ihrem Weg nach Santiago. Obwohl ich in die andere Richtung laufe, bin ich nun ein Teil dieser Tradition. Ich kann die Herberge nicht finden, laufe verschiedene Straßen lang, aber nichts zu sehen. Also frag ich nach, eine Einheimische weiß zumindest, wo in etwa die Herberge sein müsste, führt mich auf einen Hof mit mehreren freistehenden Häusern und Baracken, die alle der Gemeinde gehören, unter anderem die heute geschlossene Mediathek und eine Judo-Halle. Sie weiß nicht in welchem Haus sich die Herberge befindet, eine andere Frau sieht uns und fragt was wir denn suchen … Herberge? Das ist das einstöckige Gebäude, vor dem sie selbst soeben steht. Sie zeigt mir den Eingang, ich danke den beiden Frauen.

      Ich blicke mich kurz im Inneren um, finde eine Dusche und sogar eine Küche … wie es schon in Spanien so oft der Fall war, diente auch dieses Gebäude früher mal als Schule … zumindest stehen im großen Raum noch immer die ganzen Tische und Stühle, auch eine Tafel hängt an der Wand. Zwei Klappbetten dienen als Betten für bedürftige Pilger. Alles provisorisch, alles gut, eine schöne Geste der Gemeinde. Ich bin zufrieden, muss aber erst mal zum Supermarkt, um mich mit Lebensmitteln einzudecken, schließlich muss ich jede Chance nutzen, wenn ich mir was Warmes zubereiten kann. Als ich zurück bin, atme ich erleichtert auf, denn irgendwie bin ich beruhigt, dass ich allein sein kann. Ich habe gerade einen großen Bedarf nach schweigender Stille. Im Gästebuch gab es bisher in diesem Jahr zwei Einträge, von mir folgt Nummer drei; es könnte mein letzter Eintrag werden, aber das kann es ja immer … Die Fensterläden sind verschlossen, deshalb dringt kein natürliches Licht in den Raum, aber wozu auch, es beginnt ja ohnehin gerade die Nacht. Ich bin einfach nur dankbar, gerade jetzt, wo es seit Tagen durchregnet, werde ich mit Unterkünften beschenkt. Beim Gang aufs Klo bekomme ich noch einen weiteren Grund um dankbar zu sein … dort steht ein altes Paar Turnschuhe, nach der Größe geschaut und die passt sogar aufs Drittel genau (45⅓), mit Verschleißerscheinungen, aber noch längst nicht am Limit, muss hier jemand zurückgelassen haben. Ich probiere sie an … bequem … wenn ich die mitnehmen würde, hätte ich endlich mal ein Paar Schuhe, wo ich mir nicht länger blöd vorkommen muss, wenn ich mich wie bisher mit meinen schweren, schmutzigen Wanderstiefeln und ohne Rucksack (Unterkunft) auf einen Stadtrundgang begebe, vielleicht sogar in Begleitung. Außerdem wären sie eine gute Notfallreserve, falls die Sobrados irgendwann ihren Dienst aufgeben, beziehungsweise kann ich auf Asphalt die Turnschuhe nutzen und die Sobrados etwas schonen. Ach da fällt mir ein, dass ich ja auch noch die Santiagos habe. Mit drei Paar Schuhen unterwegs sein? Na warum nicht, die „Neuen“, die Sanguinets, sind schön leicht und sehen zudem auch noch echt cool aus. Ich habe mir nun doch – trotz des schlechten Gewissens – meinen Zigarettenhaushalt wieder aufgefüllt, will aber sparsam sein; einfach in schönen, entspannten Momenten rauchen oder wenn ich nervlich am Ende bin. Jetzt gerade bin ich zufrieden hier zu sein, also gehe ich raus, stelle mich unter das schmale Vordach und rauche erstmals eine von den Che-Kippen, die ich als Zigarettenpackung noch nirgendwo zuvor gesehen habe. Nun kann mich also Ches Konterfei einige Tage lang begleiten, die beste Gesellschaft, die ich mir vorstellen kann. Noch immer regnet es stark, es will einfach nicht aufhören. Ich rauche, blicke zum Himmel, halte noch ein Glas Sekt in den Händen. Ja, Sekt! Eigentlich wollte ich mir einen billigen Wein-Fusel kaufen, aber da hatte ich mich wohl verlesen. Sekt passt ja irgendwie auch, ich bin noch am Leben, wenn das mal kein Grund zum Feiern ist. In der Bude schaue ich die vielen Broschüren mit Kartenmaterial durch, die in einem Körbchen aufbewahrt werden. Dazu nutze ich die vielen Tische, breite auf jeden Tisch eine Karte aus, an die zehn Stück und laufe von einer zur nächsten, vergleiche, schmiede Pläne … für einen Moment schlüpfe ich in die Rolle von Napoleon, der die nächste Schlacht plant und dabei – seiner Art entsprechend – versucht, den ein oder anderen Geniestreich einzubauen. Mir gelingt das nicht, ich komme zu keiner Lösung, ich will nach Bordeaux marschieren, aber bevor ich die Stadt belagern kann, muss ich rund 60 Kilometer auf schnurgeraden Fernverkehrsstraßen durchs flache Binnenland abspulen … und ich habe echt keine Lust mehr auf diese kilometerlangen Asphaltmärsche im Niemandsland, fern vom Meer, 20 oder 30 Kilometer geht es immer geradeaus, und nicht mal dabei träumen kann (darf!) man, weil man sonst auf der engen Straße totgefahren werden würde. Na ich werde mich spontan entscheiden. Lieber erst einmal kochen. Als Vorspeise soll es eine Kohlsuppe aus der Tüte geben … die schmeckt aber nach nichts, also kommt die Suppe mit in die Ravioli, die für sich allein auch nach nichts schmecken … zusammen ist es ganz lecker. Eins steht jedenfalls für mich fest, sollte ich eines Tages noch einmal als Backpacker unterwegs sein, werde ich nicht nochmal Gewürze vergessen! Als Nachspeise gibt es billigen Rührkuchen, dazu den Sekt. Ich bin von oben bis unten vollgefressen, so dass mir sogar übel wird und ich schon vor 22 Uhr völlig ruiniert in mein Klappbett falle … dabei kommt es zu einem Knall, zwei Latten sind raus ... repariert und der zweite Versuch sitzt dann auch.

      Nachts werde ich immer mal wach, irgendwann sind keine Plätscher-Laute mehr zu hören, ich gewinne an Zuversicht und träume sogar schließlich davon, dass ich am Morgen die Baracke verlasse und die Sonne scheint. Ganz so ist es dann sieben Uhr leider nicht, der Himmel ist grau, jedoch regnet es nicht mehr. Ich mach mir erst einmal den Rest der Ravioli warm, auch der Rest vom Rührkuchen muss vernichtet werden, abgerundet vom letzten Schluck Sekt aus der Flasche, nur keine Eile. Halb neun breche ich dann aber doch auf, werfe den Schlüssel in den Briefkasten am Rathaus, wie abgemacht. Ich spule anschließend knapp 20 Kilometer auf der kurvenlosen und unbesiedelten Landstraße bis nach Mios runter, das ist echt nichts für schwache Nerven, schon gar nicht wenn ein LKW mir entgegenkommt. Da dabei Überfahren nicht ausgeschlossen ist, denke ich an meine Kleine, denn meine letzten Gedanken sollen an einen Engel gerichtet sein. Ich muss daran denken, wie sie mir immer „Kraftküsse“ gegeben hat, damit ich sie noch ein wenig weiter tragen konnte … so einen Kraftkuss könnte ich jetzt auch gut gebrauchen, oder einfach nur eine Umarmung von ihr. Für einen Moment überlege ich sogar, ob ich nicht doch erstmals den Daumen rausstrecke, schließlich hört auch auf dieser Straße die Asphaltierung mit der Fahrbahnmarkierung auf. Aber irgendwie kann ich mich nicht dazu durchringen, schon gar nicht dazu, mich irgendwo hinzustellen und darauf zu warten, dass mal einer anhält. Wer weiß wie lange ich da warten müsste, dann doch lieber marschieren und auf bessere Zeiten zulaufen. Hier in Frankreich würde es auch einem Vierer im Lotto gleichen, dass mal einer für dich anhält und fragt ob du mitkommen möchtest. Immerhin ist es trocken. Und ich bin im nächsten, dem dritten Département meiner Reise; Gironde ist zugleich das von seiner Fläche her größte Département Frankreichs, Französisch-Guyana in Übersee mal ausgeklammert.

      In Mios entscheide ich mich nach einem Besuch der Touri-Info spontan um, anstatt Bordeaux wähle ich nun doch den Weg zurück zur Küste, was mit einem 130 kilometerlangen Jakobsweg durch Gironde verbunden ist. Anstatt also tiefer ins Landesinnere vorzudringen, kann ich meiner ewigen Sehnsucht nach dem Meer mal wieder nicht widerstehen. Somit bleiben mir 50 weitere Kilometer auf der Landstraße erspart. Mit meiner Entscheidung pro Atlantik taucht beinah im selben Moment auch die Sonne wieder auf. Im vier Kilometer entfernten Biganos ist meine Neugierde dann doch zu groß, um am Bahnhof nicht wenigstens mal zu schauen, was der Zug nach Bordeaux kostet … für 7,70 Euro könnte ich mir die Stadt anschauen … und dann? Ich gehe in den Park, setze mich auf eine Bank, breite mein Kartenmaterial auf dem Tisch vor mir aus und überlege. Bordeaux wäre toll! Aber danach hunderte Kilometer auf Asphalt nach Paris? Und von Bordeaux zurück ans Meer kann ich mir weder zeitlich noch finanziell leisten. Nein, die Vorfreude auf den Atlantik ist ohnehin schon zu groß, außerdem brauch ich das Geld für Lebensmittel. Meine Entscheidung steht also endgültig. Vorerst geht es noch auf einer vielbefahrenen Straße weiter, ehe mich endlich ein Radweg rettet. Auf diesen werde ich nun die nächsten Tage verbringen.

      Ich erreiche Lanton an der Bucht von Arcachon, die durch eine schmale Halbinsel fast komplett vom Atlantik abgetrennt ist … einen Blick aufs offene Meer bekommt man hier also nicht … aber Wasser und die typischen Gerüche des Meeres (vor allem in den Fischerdörfern!) sind schon mal da. In Lanton statte ich der abseitsgelegenen Kirche einen Besuch ab, ich empfinde das als sehr angenehm, also

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