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bekomme ich eine Karte vom Département Landes, welches auf der anderen Uferseite des Adours beginnt … kann ich gut gebrauchen, da ich noch keine Ahnung habe, wie ich weiterlaufen soll. Auch die Frau kann mir nichts empfehlen, ihr kommt es etwas seltsam vor, dass ich meine Beine gebrauchen möchte um voranzukommen. In der Bibliothek darf ich 45 Minuten kostenfrei das Internet nutzen, eine gute Möglichkeit, um mir Informationen zum Weg einzuholen.

      Vom Stadtzentrum aus laufe ich auf Fußwegen nach Norden, komme dabei durch Industriegebiet, das sich vor allem an der Norduferseite des Adours konzentriert. Obwohl ich in der Nähe des Flusses bleibe, diesen sozusagen zur Mündung in den Atlantik begleite, bekomme ich vom Adour nichts weiter zu sehen, da Kräne, Container, Mauern oder Gebäude im Weg stehen. Das einzig Gute für einen Wanderer in einem Industriegebiet ist, dass er versucht keine Zeit zu vertrödeln, um zügig voran- und aus dem ganzen Lärm wieder herauszukommen. Kurz bevor ich zurück am Atlantik bin, kommt mir ein älterer Pilger entgegen, hochdekoriert, zumindest hat er massig Anstecknadeln an seiner Kleidung. Wir kommen ins Gespräch, ich kann dabei etwas mein Französisch üben. Er kommt aus Straßburg, ist seit Paris zu Fuß unterwegs, 880 Kilometer in 36 Tagen, wie er mir stolz berichtet. Er lief dabei auch ein Teilstück an der Loire, von Orléans nach Tours, ehe er auf einem eher unbekannten Jakobsweg hier runter lief. Da ich noch länger an der Küste bleiben möchte, dürften es für mich zweihundert zusätzliche Kilometer Wegestrecke werden. Meine Entscheidung scheint zu stehen, zumal der Mann mir verrät, dass der Jakobsweg von / nach Paris nicht wirklich markiert ist. Und günstige Herbergen gibt es in Frankreich schon gar nicht. Immerhin kann er mich trösten, dass es nun in den nächsten Tagen auf Radwegen entlang der Dünen gut vorangeht.

      In der Tat, hundert Meter weiter beginnt dieser Radweg, durch einen Naturpark, neben der Düne, ein Waldgürtel rechts von mir, keine Straßen mehr, einige wenige Radfahrer sind unterwegs. Erstmals in Frankreich tauchen sogar Jakobsmuscheln auf, das tut irgendwie gut, man fühlt sich weniger alleingelassen. Die Küste ist von nun an durchweg flach, ein Problem dabei wird sein, immer einen gegen Regen geschützten Schlafplatz zu finden, denn es gibt keine Klippen mehr, die mir als Unterschlupf dienen könnten. Passend zu meiner Befürchtung fallen ein paar Tropfen, jedoch ohne dass es stark zu regnen anfängt. Am Strand ist es nicht einfach zu laufen, man versinkt allzu oft, wie es an Dünenstränden üblich ist. Neue Zuversicht bringen mir die vielen Bunker, die hier aller paar hundert Meter oder Kilometer am Strand stehen und irgendwie von der Zeit vergessen wurden. Der erste Bunker, an dem ich vorbeilaufe, ist noch klein und unüberdacht. Der Zweite dagegen scheint mir der perfekte Schlafplatz zu sein. Bei meiner Ankunft viertel sieben sind noch zwei Männer mit ihren Hunden hier, wenig später bin ich allein und niemand kommt mehr vorbei. Der Bunker kann von zwei Seiten betreten werden, Türen gibt es nicht, im Inneren viel Platz, auch nach oben hin, und ein weicher, trockener Sandboden macht das Ganze sogar recht komfortabel. Das Meer kommt nah an den Bunker heran, aber nicht hinein. Durch die zwei Eingänge ist es drinnen hell, Platzangst oder Angst, dass man von draußen nichts mitbekommt, hat man hier nicht. Durch den Durchzug ist auch die Luft rein, der Bunker frei von Müll. Ich freue mich so einen praktischen Schlafplatz gefunden zu haben, der mir eine sorglose Nacht verspricht. Ich lege meine Matte in eine Ecke, um vom durchziehenden Wind einigermaßen verschont zu bleiben. Der nächstgelegene Ort ist Ondres, hinter der Düne führt laut Karte nur eine Straße in das Dorf, das vier Kilometer im Landesinneren liegt. Häuser sind keine zu sehen. Ein schöner einsamer Schlafplatz, so wie ich es mag. Ich setze mich raus, blicke aufs Meer, die Sonne versucht gegen die Wolken anzukommen, ein schönes Bild. Das Abendessen ist bescheiden, aber ausreichend: Toastbrot mit Margarine, dazu Kekse und auch das vorerst letzte Bier lass ich mir noch mal so richtig schmecken. Nach der Mahlzeit geht es ins warme Stübchen, im Schlafsack nasche ich noch Schokolade, rauche und denke etwas nach. Mir kommt dabei in den Sinn, dass ich bisher keinen einzigen deutschen Campingwagen in Frankreich gesehen habe, in Spanien waren es noch so viele. So wird es schwer um Hilfe zu bitten, noch schwerer welche auch zu bekommen … um Kontakt zu Franzosen zu suchen, fehlt mir momentan noch der Mut, ich brauche endlich ein positives Erlebnis, endlich eine freudige Begegnung mit den Menschen hier. Aber heute war schon einmal ein guter Tag: die erste schöne Stadt und der erste schöne Schlafplatz in Frankreich, beides wird sicherlich unvergessen bleiben.

      Die Sonne geht über der Düne auf, sie scheint und strahlt durch den Bunkereingang direkt zu mir in die Ecke, wo ich noch im Schlafsack liege. So wird man gern geweckt, ein entspannter Morgen nach einer ruhigen und warmen Nacht … nur das Meer und ich, ach wie ich das liebe! Direkt am Meer geht es auf Sand weiter und ich stelle dabei zufrieden fest, dass ich den besten Bunker weit und breit erwischt habe, denn die anderen sind entweder nicht zugänglich oder nicht überdacht, oder zu nah am Wasser oder am nächsten Ort gelegen. Dieser nächste Ort ist Capbreton, acht anstrengende Wanderkilometer von meinem Schlafplatz entfernt. Die Kleinstadt ist ein Surferparadies; viele junge Kerle sind bereits am frühen Morgen unterwegs, oberflächlich betrachtet wirkt der eine oberflächlicher als der andere … jedenfalls passe ich mit meinen verstaubten Wanderstiefeln und verdreckten Klamotten so gar nicht hier rein … unter Surfern fühle ich mich unwohl … vielleicht wird dieses Unwohlsein durch Minderwertigkeitsgefühle ausgelöst, weil sie alle so schöne, braungebrannte und muskulöse Körper haben, weil die Mädchen auf sie stehen, weil eine Aura der Unbesiegbarkeit von ihnen ausgeht, weil sie keine Sorgen zu haben scheinen … Ich komme nicht in Schwung, obwohl ich wieder festen Boden unter den Füßen habe und doppelt soviel Kilometer die Stunde abspulen könnte, als auf Sand. Ich sitze auf einer Bank an einem Fluss, beobachte ein Entenpärchen, Gesellschaft täte gut. Ich habe Brand, eine kalte Cola wäre jetzt riesig. Ansonsten habe ich auf nichts Appetit, mir ist übel und trotz Sonne fröstelt es mich immer wieder. Ich mag nichts essen, nicht rauchen … anscheinend bin ich krank … Ich habe keine Lust weiterzulaufen, aber was bleibt mir anderes übrig? Ich quäle mich von Bank zu Bank, am Jachthafen vorbei zum Place des Basques, von dem aus viele junge Menschen zum langen Sandstrand stolzieren, die meisten mit einem Surfbrett unterm Arm. Auch fröhlich wirkende Familien sind unterwegs. Es tut mir leid, dass ich meinen kleinen Engel im Stich gelassen habe. Mit einer großen Portion Reue geht es auf der Strandpromenade raus aus Capbreton. Beim Laufen und an Pausenplätzen fallen mir immer wieder die Augen zu, vielleicht fehlt mir auch einfach nur Koffein. Mit Keksen versuche ich gegen die völlige Kraftlosigkeit anzukämpfen, dabei weiß ich, dass das Problem nicht im Magen, sondern im Kopf liegt. Immerhin gibt es eine Premiere, ich sehe zum ersten Mal einen Fisch an einer Angelschnur zappeln, bei einer Frau, offenkundig Laie, denn ein Mann kommt und hilft ihr beim Herausfischen. Ein Fahrradweg führt neben der Düne lang, keine Sicht aufs Meer, öde. Mir gelingt es nicht, mal eine Stunde am Stück zu laufen. Anders als auf dem Jakobsweg gibt es zurzeit keine Tagesziele, was die Beine lähmt. Stattdessen spüre ich auf einmal das Verlangen irgendwo allein zu sein, einen einsamen, ruhigen, vom Wetter geschützten Schlafplatz zu finden. Ich steige auf die Düne, um mir einen besseren Überblick zu verschaffen, finde dabei nichts was als überdachter Schlafplatz dienen könnte. Meer, Düne und Wald, sonst nichts, außer vereinzelt Menschen am breiten Sandstrand. Barfuß geht es am Ufer weiter, ehe ich nach wenigen Kilometern erneut auf die Düne steige und in einer kleinen Senke meinen Schlafplatz finde, nach nur 23 Kilometern an diesem Tag. Irgendwer hat hier ein paar Äste auf 30 Zentimeter Höhe aufeinandergestapelt, was im Liegen einen ganz guten Windschutz bietet. Etwas Gras und kleine Sträucher um mich herum sorgen für etwas Intimität; wenn ich liege, bin ich vom Strand aus nur schwer zu sehen. Das scheint mir doch der beste Lagerplatz weit und breit zu sein, zumal der nächste Ort ein paar Kilometer entfernt ist und Spaziergänger am späten Abend oder in der Nacht nicht zu erwarten sind. Zu erwarten ist auch kein Regen, wenn doch hätte ich ein Problem, denn ich habe keine Ahnung, wo ich als nächstes Schutz finden würde. Trübselig sitze ich auf der Düne, blicke zum Meer raus. Klar, es könnte schlechter laufen; das Wetter ist gut, die Knie halten einigermaßen und noch ist auch der Magen nicht leer … und dennoch frage ich mich: Wozu das Ganze noch? Bin müde, satt, ausgelaugt … zurück nach Deutschland möchte ich nicht, weil ich null Perspektive habe; zumal gescheitert zurückkommen, es gäbe nichts Schlimmeres, die in einhundert Tagen mühsam aufgebaute Selbstachtung wäre mit einem Schlag dahin … und überhaupt, unabhängig wann ich zurückkehre, wo sollte ich hin? Sie wohnt dann wahrscheinlich schon mit ihrem neuen Kerl zusammen, in Leipzig habe ich eine enttäuschte Familie zurückgelassen, Freunde habe ich keine … tolle Aussichten … ich kann ja gar nicht zurück … und

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