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schöne Aussicht aufs Meer, ich bin jedoch nicht der einzige Spaziergänger. Ich erreiche die Kleinstadt Ciboure, mein zweiter Ort in Frankreich … Geburtsort des berühmten Komponisten Maurice Ravel … der Ort liegt in einer Bucht, gegenüber der etwas größeren Kleinstadt Saint-Jean-de-Luz, wo am langen Sandstrand viele Badegäste unterwegs sind … Da ich keine Ahnung von der Topographie Frankreichs habe, nehme ich jede Infotafel am Wegesrand mit, versuche meiner allgemeinen Unwissenheit etwas Abhilfe zu schaffen … dabei finde ich heraus, dass mein erstes Département in Frankreich Pyrénées-Atlantiques heißt und dies zu der Region Aquitanien gehört. In Ciboure gibt es einen kleinen Hafen, der von einer Festung und einem Leuchtturm überragt wird. Die Café-Besuche werden mir fehlen (in Frankreich auch deutlich teurer), meine Motivation ist etwas im Keller. Ich mach mich auf einer Bank lang, um mal an nichts zu denken, mich etwas zu entspannen.

      Lang halte ich das Faulenzen jedoch nicht aus, ich laufe auf dem Wanderweg weiter nach Saint-Jean-de-Luz. Es sind so viele Leute unterwegs, dass ich mich richtig unwohl fühle, auch weil ich viele Blicke auf mich ziehe, dank meiner verstaubten Wanderstiefel, meines großen Rucksacks und – nicht zu vergessen – meines überaus hübschen Gesichts. Ich flüchte im Eiltempo aus diesem Ort, in dessen Kirche der Sonnenkönig im Jahr 1660 seine Maria Theresia (die von Spanien) heiratete. Am Ende der Strandpromenade geht es einen kleinen Berg hinauf, erst hier oben habe ich nicht mehr das Gefühl, auf der Flucht zu sein … ich blicke über die Bucht, sehe den Jaizkibel in Spanien … irgendwie kann ich mich für die ersten Orte in Frankreich noch nicht so recht begeistern, liegt auch daran, dass mir viel zu viele Touristen unterwegs sind, einschließlich mir. Ein Gefühl des Sattseins macht sich breit … das bekomme ich immer dann, wenn ich nichts mehr zum Naschen habe … aber als Medizin gegen allgemeine Lustlosigkeit habe ich ja Musik dabei … im ersten Lied trällert der Sänger I'm broken by you … Ist das so? Wenn es mir nicht gut geht, vermisse ich die Beiden … wenn ich sie mal vermissen würde, wenn es mir gut geht, dann, erst dann würde ich sie wirklich vermissen … alles andere ist nur erbärmliches Selbstmitleid … Am Strand sind die ersten Bunker zu sehen, möchte demnächst mal in einem übernachten … Here I am. Here I am, waiting to hold you singt eine Frau … meine Augen werden feucht … was habe ich mir nur für Musik mitgenommen? Da kann man ja gar nicht anders, als an die Beiden zu denken. Der Wanderweg entlang der Küste ist dann zu Ende. Wenig später gehe ich von einem Parkplatz aus runter zum Meer, laufe einige hundert Meter am mehrere Kilometer langen Strand, um ein paar wenige Spaziergänger hinter mir zu lassen. An einer ruhigen Stelle, zwischen zwei Orten, beschließe ich gegen 19 Uhr mein Nachtquartier aufzuschlagen, auch weil ich keine Muße habe, um mir in der nahen Stadt Biarritz in der Dunkelheit einen Schlafplatz zu suchen … 19 Uhr fühlt sich jedoch so zeitig an, ist es aber im Vergleich zu meinen Ankunftszeiten in den Pilgerherbergen gar nicht … es ist nur ungewohnt, nach der Zielankunft weiterhin draußen zu sein … Ich muss jetzt wieder darauf achten, mir rechtzeitig einen ruhigen Schlafplatz zu suchen, einfach bis in die Abenddämmerung hineinlaufen, um dann in einer Herberge einzuchecken, ist nicht mehr … Psychologisch ist das jetzt wieder eine deutlich schwierigere Herausforderung, jeden Tag stellt sich die Frage, wann mach ich Schluss, wann lohnt es sich noch weiterzulaufen … ich darf nur nicht träge werden, ich darf auch nicht jedes Risiko scheuen, dann würde ich zu viel Zeit einbüßen und die Tage und Kilometer würden am Ende in Norwegen fehlen. Für meine erste Nacht in Frankreich ist aber ein Schlafplatz unterhalb der Steilklippe, direkt am Atlantik und ohne jede Gefahr, nachts Besuch zu bekommen, genau die richtige Wahl. Zu hören ist nur das Meer, der Wind und die Steine, die von der Klippe nach unten bröckeln. Ich freue mich auf viele Sonnenuntergänge über dem Meer, jetzt wo es endlich nach Norden und nicht länger nach Osten geht. An diesem 14. Mai geht sie Punkt 21.21 Uhr am Horizont unter. Ich werde ihr jetzt wieder mehr Aufmerksamkeit schenken. Es folgen Abendröte und Dunkelheit. Ich bin etwas deprimiert, außer Wasser und Zigaretten habe ich meinem Gaumen nichts anzubieten. Ich muss auch erst wieder lernen, mit soviel Freizeit – ohne Gesellschaft, ohne Barhocker, ohne Licht um noch im Tagebuch zu schreiben – zurechtzukommen … zumindest an dieser ersten Schlafstätte in Frankreich kann ich nichts mit mir anfangen, ich bin zu unruhig, um einfach nur in meinem Schlafsack zu liegen, in den Himmel oder aufs Meer zu starren und zu genießen. Auch von Dankbarkeit – wie in den ersten Wochen – keine Spur! Oh, ich habe mich auf dem Jakobsweg so richtig verhätschelt … es beweist nur mal wieder, dass zu viel Luxus dich von deiner inneren Zufriedenheit nur entfernt. Vor Regen hätte ich hier weit und breit keinen Schutz, aber der Himmel ist klar, ich bleibe – was das betrifft – unbesorgt. Hinter mir kommen immer wieder Steine und kleine Felsbrocken nach unten, durch einen kleinen Vorsprung über mir bin ich wenigstens etwas geschützt, ganz geheuer ist mir das nicht, zumal ich mich an meine Begegnung mit Antonio in Coimbra erinnere, der bei einer Übernachtung unterhalb einer Klippe zwei Schneidezähne verloren hat, weil ein Stein auf sein Gesicht fiel. Auch von hier sehe ich noch den Jaizkibel, nostalgisch schaue ich zurück auf dieses abgeschlossene Kapitel meiner Reise, meines Lebens. Im gegenwärtigen Kapitel bin ich noch nicht so recht angekommen, aber es ist ja auch erst das Ende des ersten Tages ...

      Am Meer träumt man oft merkwürdige Dinge … ich bin mit John Fante und Charles Bukowski am Strand … während Fante seinen Riesenlümmel schwenkt und eine Riesenfontäne ins Meer pisst, steht Bukowski lustlos und verkatert daneben und ist Herr von über ein Dutzend Angeln, die jeweils ein paar Meter auseinander im Sand stecken, ohne dass sich nur irgendeine Schnur rührt … ich werde aufgeweckt, weil ein großer Stein direkt neben meinem Kopf aufschlägt … schlafe wieder ein … Fante pisst noch immer (ich bekomme Minderwertigkeitsgefühle wegen seinem Mordsteil), Bukowski steht genauso gelangweilt da wie vorher, einen Fisch hat er noch immer nicht gefangen … ein zweiter großer Stein schlägt neben mir auf, ich werde allmählich wütend, weil ich nicht oft die Chance habe, mit Fante und Bukowski Zeit zu verbringen … ich schlafe wieder ein … Fante ist fort, auch Bukowski ist weg, bloß die scheiß Angeln stehen noch da … nun ja, wahrscheinlich konnten beide mich nicht ausstehen und haben sich verpisst (vor allem Fante) … ich wache auf, der Morgen dämmert bereits, und ich denke mir, dass Bukowski wahrscheinlich niemals in seinem Leben geangelt hat.

      Ich laufe nach Biarritz. Vom See- und Heilbad bekomme ich nichts weiter mit, irgendwie ist mir nicht nach einer Stadtbesichtigung zumute. Dabei ließ sich sogar Sisi hier kurieren, wobei sich Biarritz darauf nichts einzubilden braucht, da es sicherlich kein See- und Heilbad zur damaligen Zeit gab, was vor ihr sicher war. Mein Höhepunkt in Biarritz ist ein Thoreau-Zitat an der Tür eines Buchgeschäfts. Im Supermarkt gebe ich mein letztes Geld aus, für kalorienreiche Sachen, vor allem Kekse. Ich rechne im Kopf mit. Ganze vier Cent bleiben mir, aber für heute und morgen bin ich erst einmal eingedeckt. Außerdem bin ich erleichtert, dass anscheinend die großen Supermarktketten viele der überteuerten Markenprodukte auch als No-Name-Produkte anbieten, für Preise, die fast durchweg günstiger als in Spanien sind, was mich überrascht. Zum Frühstück gibt es vor dem großen Supermarktgebäude eine Packung Chips, 1.100 Kalorien, mal ein etwas anderes Frühstück. Von einer Siedlung geht es übergangslos in eine andere, bis nach Bayonne – mit knapp 50.000 Einwohnern die zweitgrößte Stadt dieses Départements. Die Stadt liegt ein paar Kilometer im Landesinneren, wo die Nive in den Adour mündet. Von Weitem wird man bereits auf die große, schmucke Kathedrale Notre-Dame aufmerksam, ich laufe hin, gehe hinein, setze mich in eine der vorderen Reihen, schreibe Tagebuch, während leise Kirchenmusik aus Lautsprechern zu hören ist. Ein paar Leute sind da, ich schaue auf meine Sobrados … sie sind ein Glücksfall, fast eintausend Kilometer mit ihnen gelaufen und sie befinden sich noch immer in einem guten Zustand. Draußen nehme ich mir dann doch mal Zeit für eine Stadtbesichtigung. Und das lohnt sich, denn Bayonne ist der erste Ort in Frankreich, dem ich etwas abgewinnen kann. Vor allem die vielen kleinen, schmalen Häuser, entlang der Straße am Fluss Nive, in allen möglichen Farben, gefallen mir. Zur Mittagszeit sind viele junge Menschen unterwegs, sitzen im Park oder am Ufer, lesen oder unterhalten sich, essen Pizza oder Döner (gab es für mich in diesem Jahr noch gar nicht!) … in ihrer Nähe fühle ich mich wohl, ich sehe das Universitätsgebäude, das erklärt den jungen Altersdurchschnitt – einer Stadt ohne Uni droht Arthritis! Auch eine alte Festungsanlage gibt es in Bayonne. Die Mündung der Nive in den Adour mitten im Stadtzentrum verleiht der Stadt zusätzlich Charme. Ich verbringe einige Stunden in Bayonne, auch weil ich meine Möglichkeiten überprüfen möchte. Im Fremdenbüro frage ich nach karitativen Einrichtungen,

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